© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/01 21. September 2001

 
„Verbrecherische Supermacht“
Terrorismus II: Kritiker sehen internationalen Terrorismus als „Rückstoß“ fragwürdiger außenpolitischer Experimente der USA
Michael Wiesberg

Die Betroffenheitskundgebungen nach den Anschlägen in in den USA drohen die Frage nach deren Ursachen zu überdecken. Der dezente Hinweis darauf, daß der Haß der Terroristen nachvollziehbare Motive habe, die in der Natur der US-Hegemonialpolitik liegen, wird mindestens als Pietätlosigkeit denunziert. Die Formel „Wir sind alle Amerikaner“ soll verdecken, daß die Anschläge ausschließlich der Hegemonialpolitik der „einzigen Weltmacht“ USA gegolten haben. Noch gibt es keine Kollektivhaftung der „Wertegemeinschaft“ für die Konsequenzen der US-Außenpolitik.

Die USA sind am 11. September in härtester Art und Weise mit einem Phänomen konfrontiert worden, das in der Sprache der US-Geheimdienste als „Blowback“ („Rückstoß“) bezeichnet wird. Dieser Begriff hat inzwischen auch Eingang in die politologische Diskussion der USA gefunden. So definierte der amerikanische Politologe Chalmers Johnson in seinem Buch „Ein Imperium verfällt“ (München 2000) „Rückstoß“ als „unbeabsichtigte Folge politischer Maßnahmen“ seitens der USA, die „vor der amerikanischen Öffentlichkeit geheimgehalten wurden“. Johnson wörtlich: „Was die Tagespresse als verwerfliche Akte von ’Terroristen‘, ’Drogenbossen‘, ’verbrecherischen Regime‘ oder ’illegalen Waffenhändlern‘ darstellt, erweist sich oft als ’Rückstoß‘ früherer amerikanischer Operationen.“

Nicht nur vielen Amerikanern, sondern auch vielen Westeuropäern dürfte nicht bewußt sein, wie sich die Außenpolitik der US-Regierung auf andere Staaten dieser Erde auswirkt. Johnson sagt es deutlich: „Die meisten wissen wahrscheinlich gar nicht, wie Washington seine globale Macht ausübt, weil es seine Hegemonialpolitik oft im Geheimen oder unter beruhigenden Decknamen betreibt.“ Was hier konkret gemeint ist, kann am Beispiel des saudi-arabischen Terroristen Osama bin Laden illustriert werden. Bin Laden und seine Mudschaheddin, die zunächst von den USA protegiert wurden, haben sich erst gegen die USA gewandt, weil die Stationierung amerikanischer Truppen in Saudi-Arabien während und nach dem Golfkrieg massiv gegen ihre religiösen Überzeugungen verstieß. Die bin Laden zugeschriebenen (aber bisher keineswegs nachgewiesenen) Anschläge auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam Anfang August 1999 könnten deshalb ohne weiteres, so Johnson, als „Rückstoß“ auf die US-Politik gedeutet werden. Zuvor bereits waren die ständige Protegierung Israels und die Art und Weise des Vorgehens der USA im Golfkrieg der Anlaß für den ersten Anschlag auf das World Trade Center durch afghanische Mudschaheddin.

Die Reihe der Beispiele von „Rückstößen“ als Folge einer verfehlten und selbstherrlichen Politik der USA ließe sich beliebig verlängern. Sie ist so umfangreich, daß Johnson zu einer an Schärfe kaum noch zu überbietenden Schlußfolgerung kommt: „In der amerikanischen Politik und den amerikanischen Medien ist viel von ’verbrecherischen Staaten‘ wie dem Irak und Nordkorea die Rede. Doch wir müssen uns die Frage gefallen lassen, ob die Vereinigten Staaten nicht selbst zu einer ’verbrecherischen Supermacht‘ geworden sind.“ Kritische US-Journalisten sind zu ähnlichen Schlüssen gekommen. So stellte die Los Angeles Times am 24. November 1998 fest, daß die USA „eine geistig beschränkte, muskelbepackte Supermacht mit kaum mehr als Cruise Missiles im Gehirn“ seien.

Die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright kann als die Inkarnation dieser Politik bezeichnet werden. So stellte Charles Maechling jr. in der International Herald Tribune vom 23. März 1998 fest, daß „Albright die erste Person im Amt des Außenministeriums in der Geschichte der Vereinigten Staaten“ sei, deren „diplomatische Spezialität, wenn man das überhaupt so nennen darf, darin besteht, ausländische Regierungen unter Verwendung einer einschüchternden Sprache und schamloser Lobreden auf die Macht und die Tugenden ihres Heimatlandes Vorlesungen zu halten“.

Wenn Johnson zu dem Schluß kommt, daß „Rückstoß“ in einem gewissen Sinne bedeute, daß ein Land das erntet, was es sät, dann ist es - und dies ist die eigentliche Lehre der Anschläge vom 11. September - für die USA höchste Zeit für eine kritische Bestandsaufnahme. Viele Unschuldige haben an diesem Tag die Rechnung für eine Politik der Drohgebärden, des militärischen Druckes und der finanziellen Manipulationen seitens der USA zahlen müssen.

Es muß aber damit gerechnet werden, auch wegen der Devotheit der Verbündeten der USA, daß die US-Amerikaner auch in Zukunft eine Politik verfolgen werden, die Madeleine Albright in die Worte kleidete: „Wenn wir Gewalt anwenden müssen, dann, weil wir Amerika sind. Wir sind eine unverzichtbare Nation. Wir sind groß. Wir blicken weiter in die Zukunft.“

Für diese Zukunft muß deshalb mit massiven Konflikten gerechnet werden, die von einer Dynamik bestimmt sein werden, wie sie der US-Politologe David Calleo umriß: „Das internationale System bricht nicht nur deshalb auseinander, weil neue und noch nicht integrierte aggressive Mächte die Dominanz über ihre Nachbarn zu erringen versuchen, sondern auch, weil im Niedergang begriffene Mächte, statt sich auf die neue Situation einzustellen und sich anzupassen, versuchen, ihre schwindende Vorherrschaft in eine ausbeuterische Hegemonie umzuwandeln.“


 
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