© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/01 21. September 2001


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Zumutungen
Karl Heinzen

Obwohl unsere neue Währung längst nicht mehr zur Debatte steht und ihre Einfüh­rung in der Regel sowieso unabhängig von einer öffentlichen Meinungsbildung beschlossen werden konnte, wollen jene nicht verstummen, die einem Dialog der zahllosen Institutionen der Europäi­schen Union mit dem Bürger das Wort re­den. Nun hat auch Thomas L. Cranfield, der Generaldirektor des „Amts für amt­liche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften“ gemeint, nicht mehr schweigen zu dürfen: Das, was im „fernen Brüssel“ entschieden werde, berühre direkt oder indirekt das tägli­che Lebensumfeld aller EU-Europäer, doch sei, so meint er ausgerechnet aus dem fernen Luxemburg beurteilen zu können, die Barriere zwischen Bürgern und politisch Handelnden hoch in der Europäischen Union, deren Ent­schei­dungsstrukturen die meisten Men­schen als fremd empfänden.

So ein Dahergeplapper im Stile eines Rechtspopulisten vor seiner Regierungs­beteiligung wäre verantwortungslos, wenn es nicht mit einem Interesse in Verbindung gebracht werden könnte. Tho­mas L. Cranfield macht aus diesem kein Geheimnis. Ihn treibt die Vision um, daß der Sachverstand seiner Behörde, die bislang lediglich einen Stillstand im Informationsfluß zwischen den EU-Institutionen verhin­dern soll, einem größeren Publikum zur Verfügung gestellt werden könnte. Vorstellbar wäre hier, die „Dokumentations-Schätze“ aus den EU-Archiven aufzubereiten und ins Internet zu stel­len, damit die Bürger, wann im­mer sie zur Bewältigung ihres Alltag ihrer bedürfen, auf sie zurückgreifen könnten. Man dürfe, so die Philosophie, die Diskussion etwa über Glo­ba­lisierung nicht einfach engagierten Bürgern überlassen, die mit Internet und Handy Aktionsgruppen bildeten, son­dern müsse ihnen aufgeschlossen entge­gentreten.

So verständlich der Wunsch des General­direktors ist, mit seiner Behörde unse­rem jungen Jahrhundert eine Utopie mit auf den Weg zu geben, so unmißverständlich muß ihm widersprochen werden: Für die meisten Menschen wäre es bereits mit einem unzumutbaren Aufwand verbun­den, die naheliegenden Entscheidungs­strukturen, denen sie unterworfen sind, erfassen zu müssen. Sie wollen daher auch von Europa über die Gewißheit hinaus, auch hier nichts ändern zu können, nicht behelligt werden. Die Einladung zur Information oder gar zur Partizipation empfinden sie nicht als eine Be­reicherung ihrer Lebenschancen, sondern als eine Drohung, gegebenenfalls auch für etwas zur Verantwortung gezogen werden zu können, was sie doch gar nicht beeinflussen wollen. Ohne Not sollte man die Errungenschaften der re­präsentativen Demokratie nicht konterkarieren. Diese läßt auch dem letzten Bürger die Würde, sich schon durch die indirekte Mitwirkung an der Bestimmung von Entscheidungsträgern als Gestalter des öffentlichen Lebens betrachten zu dürfen. Mehr ist auch in Europa nicht im Sinne des Systems. Wenn die Menschen etwas wirklich wissen wollen, werden sie schon fragen.


 
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