© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/01 21. September 2001


„Die Amerikaner werden diesen Feldzug nicht gewinnen“
Im Gespräch: Peter Scholl-Latour über George W. Bushs „ersten Krieg im 21. Jahrhundert“, die blinde Gefolgschaft Deutschlands und die kulturelle Aggression des Westens gegen den Islam
Dieter Stein / Moritz Schwarz

Herr Professor Scholl-Latour, als Reaktion auf die Terroranschläge in der letzten Woche kündigt US-Präsident George W. Bush nun nicht nur einen Vergeltungsschlag oder eine Strafexpedition an, sondern einen Krieg. Die Frage ist nur, gegen wen richtet sich sein „Feldzug“?

Scholl-Latour: Das frage ich mich auch! Die Tatsache, daß die Amerikaner nicht gleich losgeschlagen haben, wird ihnen von so manchem Politiker hierzulande gerne als Beweis ihres überlegten Handelns zugute gehalten. Dabei bedarf es schon aus rein militärischen Gründen einiger Vorbereitungszeit für eine wie auch immer geartete Aktion.

Die Terroristen haben einen „militärischen“ Erfolg erzielt - einen erfolgreichen Angriff auf das US-Mutterland - , wie er der konventionellen Armee einer Mittelmacht wohl kaum gelungen wäre.

Scholl-Latour: Der Terrorismus ist die Waffe der Schwachen, es überrascht deshalb, daß er nun mit einer Präzision und auf einem Niveau ausgeführt wird, das niemand für möglich gehalten hätte. Bisher waren da irgendwelche armen, verzweifelten jungen Männer in palästinensischen Flüchtlingslagern am Werk, die dilettantisch einfache Bomben bauten und nicht selten dabei selbst in die Luft flogen. Nun haben wir es mit einer offenbar generalstabsmäßig geplanten Operation zu tun, die selbst für westliche Kommandoeinheiten eine große Herausforderung darstellen würde. Erstaunlich ist auch, daß wir es mit Leuten zu tun haben, die sehr intensiven Kontakt mit dem Westen hatten - sie haben jahrelang hier gelebt, haben Maschinenbau studiert, reisten zwischen Amerika und Europa hin und her und haben sogar hier das Fliegen gelernt. Das ist völlig neu!

Osama bin Laden war sofort als der Verantwortliche ausgemacht, Experten jedoch warnen, dieser Anschlag übersteige selbst bin Ladens Möglichkeiten.

Scholl-Latour: So sehe ich das auch. Er kann in seinen Lagern vielleicht seinen Kämpfern einen infanteristische Ausbildung verpassen, aber mehr ist kaum vorstellbar.

Ein Feind im Dunkeln?

Scholl-Latour: Das ist das Interessante an der Sache, daß sich niemand zu dem Anschlag bekennt, dadurch wird alles nur noch unheimlicher. Daraus aber resultiert gerade der krampfhafte Versuch der Amerikaner, der Angelegenheit mit Osama bin Laden ein Gesicht zu geben. Wir sind noch nicht im Krieg, aber in der Phase der psychologischen Kriegführung.

Bush erklärt einen Krieg, die Bundesrepublik Deutschland erklärt die Bundestreue, und die Nato stellt einen Blanko-Scheck aus; dabei weiß keiner, wer überhaupt der Gegner ist - das klingt gelinde gesagt verantwortungslos.

Scholl-Latour: Das ist genau das Problem! Ich bin durchaus ein Verfechter der Bündnissolidarität mit den Amerikanern, schließlich bin ich ein alter Gaullist. Denn sogar de Gaulle, der gegenüber den Amerikanern ja immer sehr reserviert war, antwortete Dean Acheson während der Kuba-Krise -und das in englisch: „If there is a war, we shall be with you“. Aber damals war der Feind bekannt. Es ist die blinde Gefolgschaft, die ich der Bundesregierung heute vorwerfe. Und so wie ich die Amerikaner kenne, werden sie allerhöchstens die Briten, aber die übrigen Verbündeten bestimmt nicht informieren. Denken Sie daran, Franzosen und Deutsche haben ja noch nicht einmal während des Kosovo-Krieges die Luftaufnahmen der Amerikaner zu sehen bekommen.

Amerika reagiert genauso wie befürchtet, bzw. von manchen vielleicht erhofft: blindwütig und bis aufs Blut gereizt. Ist es jemandem möglicherweise gelungen, die USA zu provozieren und in eine Falle zu locken?

Scholl-Latour: Natürlich müssen sich die Täter im klaren darüber gewesen sein, daß die Antwort der Amerikaner heftig sein wird. Und natürlich können die es sich nicht leisten, nun nicht entsprechend zu reagieren.

Handelt es sich bei den Terroranschlägen um eine taktische Operation, um sich an den Amerikanern zu rächen, oder ist das Ziel ein strategisches, die USA zu einer Eskalation zu treiben?

Scholl-Latour: Es geht um die Präsenz, sprich Hegemonie, der USA in den arabischen Ländern. Ausgewählt hat man die Türme des Welthandelszentrums natürlich wegen ihrer Symbolhaftigkeit als Zentrum der amerikanisch gesteuerten Globalisierung - und zwar sowohl der ökonomischen wie der ideologischen Globalisierung.

Die „Säkularisierung“ jeder gewachsenen Kultur unter dem Einfluß von Kapitalismus und Konsum?

Scholl-Latour: Khomeini etwa sah in den USA nicht nur den machtpolitischen Feind, sondern vor allem den „Satan“, der die islamische Jugend verführen und dem Islam eine fremde Ideologie überstülpen wollte.

Ein Feind im Dunkeln, ein Gegner, der nichts zu verlieren hat, ein Opponent, der den Westen an Entschlossenheit bei weitem übertrifft. Ist dieser Krieg überhaupt zu gewinnen?

Scholl-Latour: Das Kalkül der Terroristen ist natürlich, daß die USA jetzt losschlagen und in einen war of attrition, also einen „Abnützungskrieg“, verwickelt werden, in dessen Verlauf die islamische Staatenwelt erschüttert wird. Und zwar in der Hoffnung, nicht nur die proamerikanischen Staaten, sondern alle nicht gottgefälligen Regierungen, zu denen etwa auch Saddam Husseins einstmals sozialistisches Baath-Regime zählt, zu destabilisieren. Dahinter steht die Utopie des Gottesstaates.

Ist das als Verteidigung der islamischen Sphäre gedacht, oder impliziert dies den Griff nach der Weltmacht?

Scholl-Latour: Dieses Ziel ist a priori nicht gegen den Westen gerichtet. Da die nicht gottgefälligen Regime der Region allerdings meist vom Westen unterstützt werden, ja ohne diese Hilfe oftmals kaum überleben könnten, richtet sich der Kampf inzwischen eben auch gegen den Westen.

Müssen wir also nicht unsere Politik gegenüber der Dritten Welt überdenken?

Scholl-Latour: Nach 1989 tauchte ja die These Francis Fukuyamas auf, mit dem Ende des Kommunismus sei der ideale Zustand der weltweiten Durchsetzung der westlichen Demokratie im Prinzip erreicht. Das war aber ein Irrtum: Die Demokratie, so wie wir sie kennen, existiert gerade mal in Nordamerika, den meisten Teilen Europas sowie in Neuseeland und Australien als Anhängsel. Und der kapitalistische Aspekt entpuppt sich in der Dritten Welt nun überhaupt nicht als eine Form sozialer Marktwirtschaft, sondern als „Raubtier-Kapitalismus“. Gegenüber dem, was die großen Konzerne heute etwa in Afrika anrichten, war der Kolonialismus geradezu eine mildtätige Veranstaltung.

Haben wir es mit einem neuen Kolonialkrieg zu tun?

Scholl-Latour: Wäre er das mal! Die Kolonisation hatte ja das Selbstverständnis, eine Zivilisationsaufgabe zu sein. Es wurden Straßen, Brücken, Eisenbahnen gebaut, Hospitäler und Schulen errichtet - auch wenn den Kindern dort beigebracht wurde „Nos ancêtres, les Gaulois“, „Unsere Vorfahren, die Gallier“. Dagegen ist das, was heute passiert, pure Ausbeutung. Aber auch bei uns haben wir ja ein unglaubliches Ausufern der Marktwirtschaft erlebt. Man schien inzwischen schon bereit, die Wirtschaft über die Politik zu stellen, die parlamentarische Demokratie durch den Primat der Ökonomie „abzulösen“ und den citoyen durch den shareholder zu ersetzen. Das ist allerdings nicht zuletzt durch den Zusammenbruch der New Economy wieder zurechtgerückt worden.

Der strategische Schlüssel zu der vielleicht bevorstehenden Operation gegen Afghanistan ist Pakistan, selbst ein von inneren und äußeren Krisen geschütteltes Land.

Scholl-Latour: Wenn nun US-Truppen nach Pakistan entsandt werden, so ist sehr fraglich, wie sich dies auf dieses extrem zerbrechliche Land auswirken wird. So leben dort beispielsweise im Norden die Paschtunen, die sowieso schon Autonomie genießen. Brisant ist, daß sich aber auch die Taliban-Bewegung aus Paschtunen rekrutiert. Sie sehen, welcher Zündstoff da zutage tritt. Und dazu kommt, daß Pakistan die Atombombe hat.

Ist es also möglich, daß die Amerikaner ihren Feldzug zwar zunächst militärisch gewinnen, durch den Zusammenbruch ihrer Verbündeten in der Region jedoch geopolitisch eine Niederlage erleiden?

Scholl-Latour: Sie werden aller Voraussicht nach schon ihren Feldzug nicht gewinnen. Sie haben schließlich auch den Golfkrieg nicht gewonnen. Sie haben damals einen Pyrrhus-Sieg errungen, denn Saddam Hussein ist immer noch da. Natürlich verstehe ich die Gründe für die damalige Entscheidung, den Feldzug abzubrechen, die Angst vor einem schiitischen Staat im Süden zugunsten Irans und die Angst vor einer unkontrollierbaren Entwicklung in der Kurdenfrage, wenn der Irak auseinanderbrechen würde. Dennoch hat sich die damalige Politik als völlige Fehlkalkulation erwiesen. Und es sind dieselben Leute, die heute an der Macht sind, Dick Cheney und Colin Powell etwa.

Seit 1989 sah es so aus, als ob die USA schließlich die Führung der ganzen Welt übernommen hätten. Sehen wir nun vielleicht mit den Anschlägen des 11. September das Ende der amerikanischen Vorherrschaft heraufdämmern?

Scholl-Latour: Nein, davon sind wir weit entfernt. In den USA hat der Patriotismus einen beinahe religiösen Charakter. Sogar jeder schwarze Amerikaner, selbst wenn er im täglichen Leben diskriminiert wird, ist stolz darauf, ein Amerikaner zu sein. Die jüngsten Attentate haben nun ein Aufwallen dieses Patriotismus bewirkt, so wie 1940 in England unter dem „Blitz“, den Angriffen der Luftwaffe auf Großbritannien. Zweifellos herrscht in den Vereinigten Staaten nun eine nationale Einmütigkeit, die es zuvor nicht gab und die sogar die Leute hinter Bush bringt, die zuvor seine erklärten Gegner waren.

Sie prophezeien den USA eine Niederlage, glauben aber gleichzeitig an ihre Stärke?

Scholl-Latour: Tatsächlich ist den Amerikanern seit dem wirklich gloriosen Sieg im Zweiten Weltkrieg beinahe alles, was sie militärisch angepackt haben, mißlungen. Im Koreakrieg wurden sie vom Yalu auf den 38. Breitengrad zurückgeworfen, dann kam das Vietnamdebakel, die Befreiung der US-Geiseln in Teheran mißglückte, im Libanon wurden die Marines durch einen schiitischen Anschlag vertrieben, aus Somalia zog man sich gedemütigt zurück, und auch im Golfkrieg haben sie ihr eigentliches Kriegsziel, Saddam Hussein zu stürzen, nicht erreicht. Dennoch sind sie Weltmacht geblieben.

Im Westen wird die Attacke als „Angriff auf die Freiheit“ interpretiert. Folgt man dem, was Sie gesagt haben, handelt es sich aber doch vielmehr um einen „Angriff auf die USA“?

Scholl-Latour: In dem Maße, wie die westliche Welt sich mit Amerika solidarisiert, ist dieser Angriff bzw. folgende Operationen natürlich auch gegen sie gerichtet.

Ist das nun der seit Jahren vorhergesagte „Kampf der Kulturen“?

Scholl-Latour: In der Vorstellung der Attentäter und ihrer Gefolgsleute ist es natürlich ein Kampf des Islam gegen die Überfremdung durch die westliche Zivilisation und vor allem den American way of life.

Sind die Attentäter denn tatsächlich Exponenten eines kulturellen Aufschreis, oder sind sie vielleicht nur Extremisten, die sich lediglich den Kultur-Antagonismus zunutze machen?

Scholl-Latour: Tatsächlich ist die Masse der Moslems wohl eher erschrocken über die Vorfälle in New York. Die meisten von ihnen würden es wohl vorziehen, weiter unter einer korrupten Oberschicht zu leben, als nun in einen Krieg hineingezogen zu werden. Schauen Sie nur nach Jordanien, wo siebzig Prozent der Bevölkerung palästinensischen Ursprungs sind. Man könnte vermuten, daß sie angesichts der Ereignisse in Palästina einen Aufstand gegen König Abdullah machen. Aber nein, sie halten still, weil sie froh sind, einen bescheidenen Lebensstandard ereicht zu haben, den sie nicht in Frage stellen wollen. Es ist nicht so, daß der ganze Orient nun auf diese Revolution wartet.

Immer wieder wird aber gewarnt, der Islam sei per se aggressiv.

Scholl-Latour: Im Moment besteht keinerlei Absicht, Europa zu islamisieren. Die Moslems haben natürlich noch die Vorstellung, die die Christen längst verloren haben: „Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker.“ Natürlich würde für die Moslems ein Traum in Erfüllung gehen, würde Deutschland sich zum Islam bekehren. Aber laut Koran dürfen Juden und Christen - im Gegensatz zu Heiden - nicht zwangsbekehrt werden. Nein, es geht um die Lösung des Islam aus der westlichen Hegemonie.

Solange der Islam friedlich bleibt, hat er eigentlich kaum erkennbaren Einfluß auf unsere Sphäre. Bedroht dagegen unsere westliche Zivilisation nicht schon durch ihre universalen weltanschaulichen Ansprüche, ihren Lebensstil und die Geringschätzung traditioneller Religiosität und kultureller Eigenständigkeit den Islam in seiner Existenz, selbst wenn wir uns „friedlich“ verhalten?

Scholl-Latour: Ohne Zweifel, und zwar ganz in ganz ungeheuerlichem Maße. Die Revolution Khomeinis war eine Kulturrevolution. Die weiße Revolution des Schahs, die zwar auch erfreuliche soziale Aspekte hatte, bedeutete jedoch für den Islam eine große Herausforderung. Doch darüber hinaus gibt es eben auch die offene militärische Aggression. Denken Sie an das Verhalten des Westens gegenüber den Palästinensern oder bedenken Sie, daß der Irak seit nunmehr zehn Jahren von den Anglo-Amerikanern fast regelmäßig bombardiert wird - und zwar völkerrechtswidrig!

Wenn der Westen schon einfach durch seine kulturelle Ausbreitung eine Gefahr für die islamische Welt darstellt, muß dann nicht das Bestreben des Islams, sich dagegen abzuschotten, respektiert werden? Die Frage ist, ob der Westen angesichts seiner Globalisierungsideologie wirklich bereit sein kann, eine multipolare Welt zu akzeptieren.

Scholl-Latour: Wir nehmen in der Tat wie selbstverständlich an, unsere Auffassung von Menschenrechten sei universal. Und das ist eben nicht so. Die Einsicht in unsere Menschenrechtsidee kann man von Moslems oder Konfuzianern nicht erwarten. Selbst bei uns sind diese Werte ja nicht so ewig wie gerne dargestellt. Auch wir revidieren unsere Werte immer wieder.

Die Konsequenz wäre also, der Westen muß von seinem Hochmut gegenüber anderen Kulturen ablassen?

Scholl-Latour: Mir persönlich sind die Werte des Westens immer noch die liebsten, aber das kann ich wohl kaum von einem Chinesen mit seiner zweitausendjährigen konfuzianischen Kultur ebenfalls erwarten.

Es scheint sich bei uns kaum jemand der Demütigung gegenüber allen anderen Kulturen bewußt zu sein, die darin liegt, wenn nun ständig von einem Anschlag auf die „zivilisierte Welt“ gesprochen wird. Man meint damit ja wohl, daß nur der Westen zivilisiert ist.

Scholl-Latour: Ja, natürlich, aber in diesem Zusammenhang beunruhigt mich noch eine ganz andere Angelegenheit. Ich bin gut befreundet mit den Leuten des Islamrates hier in Deutschland. Neulich schlug ich Innenminister Schily vor, doch mit diesen Leuten einmal das Gespräch zu suchen. Er lehnte ab mit der Begründung, dahinter stecke die extremistische islamische Gruppe Milli-Görüs. Er möchte eben lieber mit denjenigen zusammenarbeiten, die sowieso schon seine Ideen teilen. Das ist im kleinen das Verhalten, das wir im großen gegenüber den islamischen Ländern an den Tag legen, nämlich nicht die Stimme der breiten Masse dort zu beachten, sondern kleine Gruppen zu unterstützen und auf diesem Wege zu versuchen, diesen Ländern unseren Willen zu oktroyieren. - Und dabei ist der durchschnittliche Moslem ein rechtschaffener Mann, denn ein religiöser Moslem wird weder Diebstahl noch Gewalttaten begehen. Aber er hat natürlich seine Überzeugung.

Also müssen wir die multipolare Welt akzeptieren. Doch statt dessen versuchen wir sie zu globalisieren.

Scholl-Latour: Und wir Deutsche befinden uns da leider völlig im Fahrwasser der USA, die diesen globalen Anspruch aus der Tatsache ableiten, daß sie die letzte verbliebene Weltmacht sind. Ein Anspruch übrigens, der ihr in Zukunft nicht von der islamischen Welt streitig gemacht werden wird. Es wird vielmehr China sein, das die Vereinigten Staaten in den nächsten Jahrzehnten herausfordern wird.

Sollte Europa nicht eine eigenständige und vermittelnde Rolle in dem aktuellen und diesem künftigen Konflikt spielen, anstatt sich zur Kriegspartei auf der Seite Amerikas zu machen?

Scholl-Latour: Die Europäer sind viel zu schwach und gespalten für eine solche Rolle. Später vielleicht.

Wir hatten eingangs festgestellt, daß die USA sich mit ihrer Kriegserklärung gegen unbekannt mehr oder weniger in einer Art Blindflug befinden. Die Bundesrepublik Deutschland hat umgehend ihre Nibelungentreue erklärt. Otto Schily verbat sich gar in der ZDF-Sendung „Berlin Mitte“, in diesen Tagen die USA zu kritisieren. Ist das nicht verkehrt?

Scholl-Latour: In der Tat. Dabei empfinde ich es geradezu als Freundespflicht, einen guten Freund vor Fehlern zu warnen. Als ich in Vietnam war, kam ich sehr gut mit den GIs aus und empfand sie auch meist als sehr sympathisch, deshalb hielt ich aber trotzdem für falsch, was sie dort taten. Wir bestärken durch unsere bedingungslose Unterstützung die USA noch auf ihrem Weg. Wenn aber all jene in Deutschland, die dafür jetzt noch flammende Appelle schreiben, selbst zum Gewehr greifen und nach Afghanistan ziehen müßten, würden dieselben Leute die Sache meist wohl ganz anders sehen. Jeder ist eben dazu bereit, daß der Nachbar das Gewehr schultert, nur nicht er selbst. Das halte ich für falsch verstandene Bündnissolidarität.

Muß Deutschland nicht im Gegenteil selbständiger, souveräner werden? Sollten wir nicht das Ziel haben, unser Geschick selbst zu bestimmen, statt auf Gedeih und Verderb auf die USA angewiesen zu sein?

Scholl-Latour: Bis zum Ende des kalten Krieges waren wir auf die Amerikaner angewiesen, und dafür schulden wir ihnen auch etwas; ebenso für die Wiedervereinigung, die nur mit der Unterstützung Präsident Bushs möglich war. Natürlich haben die Amerikaner bei all dem ihre eigenen Interessen vertreten, aber das ändert nichts daran, daß wir ihnen diesbezüglich viel verdanken.

Wird Deutschland auf diese Art und Weise nicht früher oder später genauso in das Fadenkreuz des Terrors geraten wie heute die USA?

Scholl-Latour: Das ist nicht auszuschließen.

Sie haben vom Ende der Spaßgesellschaft gesprochen, das nun gekommen sei. Was meinen Sie damit?

Scholl-Latour: Wenn man nun Krieg führt und vielleicht sogar einen Teil der deutschen Jugend an die Front schickt, dann kann man hier keine Love Parade mehr veranstalten. Aber ganz abgesehen davon denke ich zum Beispiel daran, was man über uns in Afrika sagt, wo ich bis vor kurzem noch war. Der Staatschef von Namibia, Sam Nujoma, sagte zu mir: „They are behaving like animals.“

Das Wort „Spaßgesellschaft“ beschreibt ja nicht nur ein überzogenes Freizeitverhalten, sondern das Selbstverständnis unserer Gesellschaft ...

Scholl-Latour: ... es ist wohl schlicht eine Form des Hedonismus, die wiederum eine Art Dekadenz bedeutet.

Also brauchen wir eine Kulturrevolu-tion, Herr Professor Scholl-Latour?

Scholl-Latour: Na ja, so weit würde ich nicht gehen. Wer in der französischen Kolonialarmee gedient hat, der ist nicht prüde.

Stellen diese neuen politischen Herausforderungen und das Ende der Spaßgesellschaft nicht das Establishment, unsere Eliten, Führungsstrukturen und Leitideen in Frage? Wie weit reicht Ihre Kritik am politischen Personal?

Scholl-Latour: Unsere Politiker haben sich der Spaßgesellschaft ja noch nicht ganz angeschlossen, sie halten es lediglich für schick und opportunistisch, in gegebenem Falle mitzumachen. Was sich unter Pfarrern leider oft schon eingebürgert hat, erfaßt nun auch die Politiker. Ich würde es so formulieren: Sie machen es sich zu eigen, aber sie erleiden es auch.

Wie ist diese geistig-moralische Krise zu bewältigen?

Scholl-Latour: Das wird vorbeigehen, spätestens, wenn die Amerikaner mit ihrer Ankündigung vom ersten Krieg im 21. Jahrhundert Ernst machen.

 

Prof. Dr. Peter Scholl-Latour im Gespräch mit JF-Redakteuren: Geboren 1924 in Bochum, studierte der Jesuitenschüler in Mainz, Paris und Beirut. Als Fallschirmjäger diente Scholl-Latour unter deutscher, dann unter französischer Flagge. Seit 1950 ist er als Journalist tätig. 1954 bis 1955 war er Sprecher der Regierung des Saarlandes. Er unternahm Reisen in alle Erdteile. Von 1960 bis 1963 war er Afrikakorrespondent der ARD, danach Leiter des Pariser Studios. 1969 wurde er Direktor beim WDR, wechselte aber 1971 als Chefkorrespondent zum ZDF, ab 1975 leitete er auch hier das Paris-Studio. 1983 bis 1988 war er Herausgeber des Stern, zeitweilig dessen Chefredakteur, und Vorstand bei Gruner + Jahr. Sein Buch „Der Tod im Reisfeld - dreißig Jahre Krieg in Indochina“ (dtv, 1979) wurde zum erfolgreichsten deutschen Sachbuch nach 1945. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen sind zum Thema Orient folgende Titel erschienen: „Allah ist mit den Standhaften“ (DVA, 1983),: „Das Schwert des Islam“ (Heyne, 1990), „Den Gottlosen die Hölle“ (Goldmann, 1992), „Aufruhr in der Kasbah“ (DVA, 1992), „Pulverfaß Algerien“ (Heyne, 1994), „Lügen im Heiligen Land“ (Siedler, 1998), „Allahs Schatten über Atatürk“ (Siedler, 1999). Sein aktuelles Buch „Afrikas Totenklage - der Ausverkauf des schwarzen Kontinents“ erscheint im September 2001 bei Bertelsmann, 48 Mark. Zum Thema China ist erschienen: „Der Wahn vom himmlischen Frieden - Chinas langes Erwachen“ (Goldmann, 1992).

 

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