© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/01 14. September 2001

 
Die Rigaer erfüllen ein Vermächtnis
Lettland: Zur 800-Jahr-Feier der Hauptstadt ist das legendäre Schwarzhäupterhaus aus dem Nichts wiedererstanden
Paul Leonhard

Es glitzert und funkelt. Die hohen Giebelspitzen des neuen Hauses sind schmiedeeisern und vergoldet. Sie künden vom hohen Können der heutigen Handwerker. Denn der prächtigste Platz Rigas, der Rathausplatz, entsteht in alter Schönheit wieder und mit ihm das legendäre Schwarzhäupterhaus. So hat es das lettische Parlament vor Jahren beschlossen und letztlich gegen alle Widerstände umgesetzt.

Riga, die lettische Hauptstadt, legt Straße für Straße die Spuren der Sowjetherrschaft ab und entsinnt sich ihrer europäischen Geschichte. Diese ist so alt wie die Stadt, 800 Jahre.

Fast alle kunsthistorisch bedeutsamen Stilrichtungen Europas sind in der pulsierenden Metropole vertreten. Einen „architektonischen Bienenkorb“ nannte sie Ilja Ehrenburg einmal. Die Gebäude in der Innenstadt wurden ab 1904 fast ausschließlich im Jugendstil errichtet. Bis heute prägt er mit seinen Ornamenten und kühn geschwungenen Fenster-, Tür- und Balkonformen den Boulevardring Rigas. Aufgrund ihrer Eleganz und Sauberkeit erhielt die Stadt an der Düna in den dreißiger Jahren den Beinamen „Paris des Nordens“. In jenen Jahren, 1935, wurde auch „Milda“ eingeweiht, eine 42 Meter hohe Frauenfigur. Diese reckt die Arme in die Höhe und hält drei Sterne, die die drei lettischen Provinzen Kurland, Livland und Lettgallen symbolisieren. In den Jahren der sowjetischen Besatzung galt das Freiheitsdenkmal des Bildhauers Karlis Zale als Symbol für den heimlichen Widerstand der Balten gegen Moskau. Die Kommunisten trauten sich nicht, „Milda“ abzureisen, aber sie setzten ihr ein Denkmal nach russischem Geschmack entgegen, drei in roten Marmor gehauene bolschewistische Schützen.

Es gehört zum wachsenden Selbstbewußtsein der Ostseerepublik, wenn heute auch architektonische Zeichen gesetzt werden, mit denen sich Lettland zu seiner deutschen Vergangenheit bekennt. Der erfolgte Wiederaufbau des Schwarzhäupterhauses ist ein solches. Denn in ihm befand sich seit dem 14. Jahrhundert ein Machtzentrum der deutschen Kaufleute.

1201 vom Bremer Domherrn Albert als locus rige gegründet, war Riga 700 Jahre lang eine vor allem von Deutschen geprägte Stadt. Kaufleute der Hanse verhalfen ihr zu ihrem Glanz und Reichtum. Auch wenn sie im 17. Jahrhundert zweite Hauptstadt Schwedens wurde und sich später zur drittwichtigsten Industriestadt des russischen Zarenreiches entwickelte, bleiben die deutschen Spuren dominierend. Noch heute begegnen sie dem Besucher auf Schritt und Tritt. In der Großen Gilde beispielsweise residierten einst die mächtigen Kaufleute.Das waren ausschließlich deutsche Bürger. Ebenso war das Schwarzhäupterhaus Aufenthaltsort von ledigen Kaufmannssöhnen befreundeter Hansestädte wie Danzig, Lübeck, Hamburg oder Reval. Letten hatten keinen Zugang zur Bruderschaft, deren Schutzpatron der oft als Mohr dargestellte heilige Mauritius war.

Als das aus dem 14. Jahrhundert stammende Gebäude im Sommer 1941 durch Artilleriebeschuß zerstört und später bis auf den Erdboden abgetragen wurde, war die 700jährige deutsche Geschichte bereits Vergangenheit. Sowenig die Semgaller und Lettgaller einst die christlichen Kreuzfahrern willkommen geheißen haben, sowenig weinte die lettische Regierung unter Karlis Ulmanis den 1939 von den Nazis „heim ins Reich“ geholten Deutschbalten eine Träne nach.

Geblieben sind steinerne Zeugen und schmerzliche Lücken im Stadtbild. Heute steht die gesamte Altstadt unter Denkmalschutz. An ihrem Wiederaufbau arbeiten Liven, Letten, Deutsche, Schweden, Russen und Holländer. So ist mit dem Schwarzhäupterhaus nicht nur der einst schönste Profanbau der Stadt in altem Glanz wieder aufgebaut worden, während der in sowjetischer Zeit achtmal größer entstandene Platz der Lettischen Schützen auf die Größe des historischen Rathausplatzes schrumpfen wird.

Der Aufbau galt nicht zuletzt als Signal an das westliche Ausland: Seht unsere Stadt und ihre Geschichte! Gleichzeitig findet die gemeinsame Geschichte und Kultur, die Letten und Deutsche seit vielen Jahrhunderten miteinander verbindet, immer stärkere Beachtung. Die Rückkehr von Deutschbalten wie beispielsweise der Familie von Sengebusch findet große Beachtung. Volker von Sengebusch, dessen Vorfahren 1939 Riga verlassen mußten, fand 1989 in die alte Heimat zurück. Breite Aufmerksamkeit fand, als der mit einer Lettin verheiratete Sengebusch dem Rigaer Oberbürgermeister versprach, vom Verfall bedrohte Schriften der lettischen Nationalbibliothek von Leipziger Spezialisten nach modernsten Methoden konservieren zu lassen. Auch Bundespräsident Johannes Rau erinnerte anläßlich seines Besuchs der 800-Jahrfeier Rigas am 18. August an die deutsche Vergangenheit der alten Hansestadt und versprach den Letten deutsche Unterstützung auf ihrem Weg in die EU.

Rechtzeitig zu dem unter dem Motto „Stadt der Inspiration“ stehenden Jubliäum wurde auch das Schwarzhäupterhaus mit seinem üppigen plastischen Dekor und den Ritterfiguren fertiggestellt. In ihm hat nun die Tourismusinformation ihren Sitz. Mit dem Neuaufbau erfüllten die Rigaer auch ein Vermächtnis der alten Stadtväter. Die hatten am Portal des Hauses die Inschrift angebracht: „Wenn ich eines Tages zerfallen sollte, baut mich wieder auf.“

 

800 Jahre Riga
Riga liegt am Fluß Düna, nahe dem Rigaischen Meerbusen. Der Rigaische Meerbusen ist eine Bucht der östlichen Ostsee, zwischen Lettland und Estland, durch die Inseln Moon, Ösel und Dagö von der Ostsee getrennt.

Die Stadt Riga hat rund 840.000 Einwohner und eine Flächenausdehnung von 307,17 Quadratkilometern.

Die wichtigsten Daten der Geschichte Rigas:

- 1201. Gründung der Stadt durch den dritten Bischof Lieflands (Lyvonia), Albert von Buxhöveden.

- Im Jahre 1282 trat Riga der Hanse bei und war ein bedeutendes Mitglied in diesem Städtebund.

- 1330 geriet Riga in die Abhängigkeit des Deutschen Ordens (in Lettland nennt man den Zweig des Deutschen Ordens, der im heurigen Territorium Lettlands und Estland saß, den Livonischen oder auch Liefländischen Orden).

- 1521 begann in Riga die Reformationsbewegung.

- 1561-1582: Riga war eine freie deutsche Reichsstadt.

- 1582-1621: Zugehörigkeit zum Polnisch-Litauischen-Staat.

- 1621-1719 (1721): Gouvernementsstadt Schwedens.

- 1710(1721)-1917: Gouvernementsstadt Rußlands.

- 3.September 1917-3. Januar 1919: Besetzung durch deutsche Wehrmacht.

- 3. Januar 1919-22. Mai 1919: Hauptstadt der Sowjetrepublik Lettland.

- 22. Mai 1919-1940: Hauptstadt der Republik Lettland.

- 5. August 1940-30. Juni 1941: Hauptstadt der Sowjetrepublik Lettland.

- Vom 1. Juli 1941 bis 13. Oktober 1944 war Riga von den Truppen der deutschen Wehrmacht besetzt. Riga war die Gaustadt Ostlands (Ostland war ein „Reichskommissariat“, das die Territorien der heutigen Republik Lettland, Estland, Litauen und Weißrußland umfaßte).

- 1944-1990: Hauptstadt der Sowjetrepublik Lettland.

- Von 1990 bis 1991 war Riga die Hauptstadt der Republik Lettland, die ein Teil der Sowjetunion war.

- Seit dem 21. August 1991 ist Riga die Hauptstadt der eigenständigen Republik Lettland.


 
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