© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/01 14. September 2001

 
Löbliche Gemeinheiten
Der Schriftsteller Eckhard Henscheid wird sechzig und nicht müde, die Dumpfheit aus der Welt zu schreiben
Werner Olles

Feinster Bohnenkaffee, angezeigt auf einer silbernen Tafel im Fenster der Wirtschaft, war es vielleicht gewesen, was Hermann letzten Endes zur schließlichen Einkehr in die Pensionsgaststätte Hubmeier in der Entengasse bewogen und veranlaßt hatte, auf daß er dort seinen zumindest vorübergehenden Aufenthalt nehme. Der Hausflur war schön kühl, aber schon hier stellte sich diese Gaststätte auch als eine Metzgerei heraus, denn die rechte Tür im Hausgang führte in die Gaststube, die linke freilich in die Metzgereiabteilung, beides stand auf jeweils einem Emailschildchen zu lesen“. Schon die beiden ersten Sätze von Eckhard Henscheids 1988 erschienener großer Novelle „Maria Schnee“ - der Untertitel lautet dann konsequent auch nicht „Ein Roman“, sondern viel zutreffender „Eine Idylle“ - lassen erkennen, daß dieser Autor vom bundesdeutschen Literaturbetrieb viel zu lange als „Oberspaßmacher der Nation“ (Jörg Drews) oder gar als „Klamaukschriftsteller“ (Gert Ueding) unterschätzt wurde.

Henscheid, am 14. September 1941 in Amberg in der Oberpfalz geboren, der heute in Frankfurt am Main, in seinem fränkischen Geburtsort und in der Schweiz lebt, ist vielmehr ein „Wahrnehmungserotiker“ (Gustav Seibt in der FAZ) von hohen Graden, ein ausgepichter Sprachvirtuose, dessen uneigentlicher Jargon noch in den scheinbar unwichtigsten Nebensächlichkeiten eine Detailtreue entwickelt, die einen zum genauen Lesen zwingt, durch ihre atmosphärische Dichte dann aber auch förmlich in die Handlung hineinsaugt. Das hat inzwischen auch die etablierte Literaturwissenschaft erkannt und beurteilt seine Glossen, Anekdoten, Polemiken, biografischen Travestien, Satiren, Parodien und musikkritischen Texte als rare Meisterwerke einer realistisch-komischen Prosa.

Nach dem Studium in München hatte es Henscheid mehr zufällig nach Frankfurt verschlagen, wo er zu den Mitbegründern und Protagonisten der „Neuen Frankfurter Schule“ um die zeichnenden Dichter F.W. Bernstein, Robert Gernhardt, F.K. Waechter und Hans Traxler gehörte, die in der Redaktion der damaligen Satire-Zeitschrift Pardon - und später dann in der Titanic - allerlei Kuriositäten aus einer Mischung von sprachlich-adornesker Hermetik und schrulligen Stilleben zum besten gaben. In den achtziger Jahren konnte Henscheid, der „heimatlose Linke“, immerhin 19 Wochen mit seinen famosen „Sudelblättern“ in der eher humorlosen Zeit erscheinen, bevor der bis dahin relativ geduldigen Gräfin Dönhoff endgültig der Kragen platzte. Zu arg hatte er die Säulenheiligen des linksliberalen Kultur- und Betroffenheitsestablishments reihenweise unter die Satirikerlupe und auf die Schippe genommen. Ob Reich-Ranicki („bewährter Fun- und Troublemaker“, „Unser Lautester“), Horst-Eberhard Richter („Ja, schamst jetzt Du Dich, Horst-Eberhard Richter, gar nicht mehr? Daß Du Dich 41 Jahre nach Kriegsende noch immer über Hitler schamst? Du Tschapperl!“) oder die seinerzeitige „Bundesohnetagspräsidenten“-Kandidatin Luise Rinser, der er androhte: „Bei der nächsten Allesaberauchallesverdurcheinanderbringung schleppe ich sie eigenhändig aus Rucksack di Roma ab und zerre sie vors Reichsextragericht. Das ist nämlich für sie heute noch zuständig“, nachdem sie in einem Radiointerview erklärt hatte, zugunsten der Grünen für das Amt des „Bundestagspräsidenten“ kandidiert zu haben.

Speziell die Vergangenheitsbewältigungsindustrie kommt bei Henscheid nicht gut weg. Bei einer Ausstellung mit dem einmaligen Titel „Betroffenheit in Stoff gewebt“ im Stadtmuseum von Düsseldorf kehrte eine schwedische Künstlerin namens Sandra Ikse in ihren Werken, unter anderem einer in Stoff gewebten Anne Frank, laut der Presse „ihr Innerstes nach Außen“, was die Künstlerin selber so sah: „Man muß das eigene blutende Herz in der Hand halten und ihm eine Form verleihen“. Henscheid kommentierte dieses bewegende Ereignis mit dem knappen Satz: „Und i muaß etz gleich spei’m!“ Und später fragte er sich, „ob die ebenso betroffenheitsdeutschen wie jüdisch-israelischen Starr- und Leerformeln vom Nichtvergessen und Nichtvergeben nicht bolzgerade exakt so instinkt- und würdelos quäken, die Ermordeten posthum ein letztes Mal schändend, wie Kohls und anderer eilfertigfrohe Kunde von der späten Geburt wundersamer Gnade; die Kehrseite der gleichen schmierigen Medaille“. Henscheids hartes Resümee: „Die einzig halbwegs zivile und akzeptable Haltung zwischen sogenannter Verdrängung hie und dem penetranten und blindlingischen Bestehen auf dem Nichtvergessen dort, der einzig armselig Königsweg wäre: nicht vergessend beiderseits die Schnauze zu halten.“

Angetan hat es ihm nicht zuletzt der „linke Kitsch“. Zum von der Kritik hochgelobten und mit staatlichen Preisen und Subventionen geradezu überschütteten Margarethe von Trotta-Werk „Die bleierne Zeit“ schrieb er 1987 in seinen „Sudelblättern“: „Es führt kein guter Sehwille daran vorbei, daß alle Filme dieser ambitioniert-pathetischen Artung, ob nun etwas besser oder noch viel schlechter ausgeführt, nicht erst heute in der Distanz, sondern schon mit ihrem Auftreten daneben, lächerlich, ganz unerträglich sind. Vom Titel angefangen: Es ist alles kompletter Kitsch. Kitsch noch jenseits der nur vergessenswerten Aufgesetztheiten und Akademismen der Regisseurin. Kitsch ist das ’Staraufgebot‘ zweier hochgelobter Schauspielerinnen, die dann auch prompt die nämlichen, weh aufgesetzten Gesichter schneiden, die schon bei den Originalen ebenso wenig stimmten wie ihre Revolution, welche sich am Ende doch nur in der abenteuerlichen Welt der Peter Stuyvesant erschöpfte oder wahlweise eben in solchen faselnden Betroffenheitsfassaden, die der Film nur stramm reproduziert.“ Im Frühjahr 1993 wurde ihm von drei Verfassungsrichtern gar verboten, dem von allen guten Linken geliebten Heinrich Böll hinterherzurufen, „was für ein steindummer, kenntnisloser und talentfreier Autor schon der junge Böll war, vom alten fast zu schweigen“. Dem „artifiziellen Sozialkitsch“ der deutschen Sozialdemokratie mit ihren künstlerischen Vorreitern Staeck, Wecker, Hildebrandt „und sonstigem Geraffel“ gelten seit jeher Henscheids löbliche Gemeinheiten, und er vergißt darüber auch nicht den „eher zeitlos ungetrübten Lebenskitsch“, der aus der Programmatik der anderen Großpartei daherredet.

Zurück zu „Maria Schnee“, dem „welterschließenden Roman“, pardon: der im klassisch Schillerschen Sinn „Idylle“, die Armin Mohler „eine Schule des Staunens“ genannt hat: „Mit den durch die Gardinen des Gaststubenfensters dringenden Sonnenstrahlen, mit dem Lächeln eines Säuglings, unter dem graziösen Anschmiegen einer Katze weicht die Dumpfheit der Welt, löst sich auf.“ Hier spürt der Leser, daß die Henscheidschen Prosahöhen immer noch eine ganze Menge mit seiner katholisch geprägten Heimatstadt, die er auch spirituell nie ganz verließ, zu tun haben.

Hautnah zu greifen ist diese - allerdings nicht im theatralischen Sinne - fast surrealistische Atmosphäre im zweiten und dritten Band seiner genialen „Trilogie des laufenden Schwachsinns“. Irgendwo in der fränkischen Provinz wirkt hier der bedauernswerte Alfred Leobold als Geschäftsführer „einer Art Großbaracke, vollgepropft mit mächtigen Ballen, Rollen und sonstigem Teppichbodenzeug - dem letzten Humbug“. Tagsüber muß er sich mit seinem vulgären Gehilfen Hans Duschke, dem angeblich siebtbesten Teppichverkäufer der Welt, herumschlagen, aber wenn er abends Freunde und Bekannte zu Schlachtplatte und Bier, Knaddel-Daddel, Strohrum, allerlei dunklen Likörchen und vor allem Sechsämtertropfen ins Gasthaus Blödt, die „Glückauf“-Wirtschaft oder in den - bezeichnenderweise in der Gasse „In der Brüh“ liegenden - „Seelburger Hof“ einlädt, erzählen diese meisterhaft geschilderten Szenen mehr vom wirklichen Leben heruntergekommener Kleinbürger als die meisten soziologischen Studien. Bei jedem anderen Autor wäre ein solcher Stoff zu einer bloß hämischen Spießerklamotte geraten, nicht so bei Henscheid, hier wird er zu der überaus ansehnlichen Tragikomödienfassung einer alkoholgetränkten Teppichladenexistenz. Trotz aller Unflätigkeiten und aller Rabulistik und Drastik ist „Geht in Ordnung - sowieso - genau“ insgesamt ein eher stiller Roman, was ebenso auch für den letzten Titel „Die Mätresse des Bischofs“ der derzeit 32 Auflagen starken „Trilogie“ zutrifft.

Henscheid ist aber auch ein Meister satirischer Kleinkunst und anekdotischer Parodie. „Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte“, „Was ist eigentlich Herr Engholm für einer?“ oder „Wie man eine Dame versäumt“, alles wahre Humoresken und Kampfbeschreibungen aus der akademischen und politischen Welt. Er kann nun einmal einfach alles, das schwebeleichte Feuilleton („Die Wolken ziehen dahin“) genauso wie die anspruchsvolle musikologische Fachanalyse („Verdi ist der Mozart Wagners“) und den Essay („Saustall Bad Homburg“). Letzterer stellt übrigens eine Thomas-Bernhard-Parodie dar, die sich gewaschen hat. Es sind diese verzwickten Sprachturnereien Henscheids, seine kunstvoll ausgerollten, detailverliebten Sätze, die komplizierte Syntax und die stilistische Archaik seiner refrainartigen Redewendungen, denen sich der Leser geradezu lustvoll hingibt, weil er sich hier mehr und mehr wohlzufühlen beginnt. Man darf diesen spezifischen Stil durchaus manieristisch nennen, warum auch nicht?

Wer seiner Liebsten oder seinem Liebsten etwas besonders Gutes tun will, schenke ihm/ihr „Erledigte Fälle. Bilder deutscher Menschen“. Das Büchlein enthält 24 ziemlich bösartige Porträtstudien, unter anderem von Hildegard Hamm-Brücher („A Krampfhenna“), Hanns Dieter Hüsch („Der Unausstehlichste“), Siegfried Unseld („Unser Kulturtragendster“) und Gerhard Zwerenz („Halunke No.1“). Oder Sie schenken „10:9 für Stroh“, das unter anderem den Text über eine mehrtägige grotesk mißglückte Alpen-Eisenbahnreise des Dichters Wolfgang Hildesheimer zu einer Lesung beim Steirischen Literaturherbst enthält. Wie Hildesheimer sich anschickt, vom graubündischen Wahlheimatort Poschiavo aus die Alpen mit einem Zug in Richtung Graz zu überqueren, und dabei in einen üblen Kreislauf von falschen Umsteigemanövern und auskunftssamtlichen Fehlinformationen gerät und daraus eine nicht enden wollende Abfolge von Pannen und Irrfahrten entsteht, das muß man einfach gelesen haben. Oder am allerbesten schenken Sie „Dummdeutsch“, hier nimmt Henscheid unsere unmerklich tief korrumpierte, politisch korrekte Alltagssprache mitsamt der sie steuernden Wahrnehmungsmuster in einer Weise aufs Korn und legt sie bloß, daß es nur so kracht. Oder vielleicht doch lieber seinen herrlichen Faust-Roman „Dolce Madonna Bionda“.

Am 14. September feiert Eckhard Henscheid, dieser Meister der poetischen Prosa und traumhaften Epik, seinen 60. Geburtstag. Bleibt zu hoffen, daß er noch lange nicht in Rente geht.


 
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