© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/01 14. September 2001

 
PRO&CONTRA
Abitur in zwölf Jahren?
Walter Hiller / Rainer Rupp

Die Volljährigkeit wird während des 12. Schuljahres erreicht, und vom 13. Schuljahr ist wohl auch in Zukunft kaum zu erwarten, daß es den jungen Leuten hilft, entschlossener auf Berufs- oder Studienrichtungen zuzugehen, geschweige denn ein stärkeres Durchhaltevermögen und eine nachhaltige Studierfähigkeit zu entwickeln. Die stereotypen Klagen der nachschulischen Bereiche, Wirtschaft und Universität, beziehen sich ja bislang überwiegend auf die Absolventen eines 13jährigen Weges zum Abitur. Ein Problem ergibt sich allerdings mit der Verkürzung, wenn bisherige Curricula lediglich quantitativ eingedampft werden oder Turbo-Gymnasien schulische Erfahrungs- und Lernvielfalt reduzieren. Wenn Schulen das bescheinigen, was Schüler in ihrer Schulzeit erreicht haben, und nachfolgende Institutionen nach einer gewissen Frist die Eignung für eine berufliche oder akademische Ausbildung feststellen, gibt es vermutlich ein breiteres, kreativeres Spektrum an Bewerbern in der Wirtschaft und manchen befähigten Mediziner, der im Abitur allerdings keine Eins geschafft hätte. Lehrer, die davon entlastet sind, Schüler einer „Allgemeinen Hochschulreife-Prüfung“ zuzuführen, haben dann die Aufgabe, neben der Vermittlung allgemeiner Kenntnisse und Fertigkeiten die spezifischen Fähigkeiten oder Defizite einer Schülergruppe oder Einzelner in ihr aufzugreifen. Prüfungen und andere Hürden fallen dadurch keineswegs weg, sie werden allerdings als etwas erlebt, was konkret mit den Betroffenen zu tun hat, was wirklich motiviert und/oder authentische Erfolgs- oder Mißerfolgserlebnisse birgt. Von den sich hierbei ergebenden Erfahrungen, der Identifikation mit Aufgaben, der individuellen Motivation, dem Erwerb von konkreter Verantwortungsübernahme, der schöpferischen Lösungssuche etc. ist vielfach die Rede, eine verkürzte Schulzeit und die „Abrüstung“ unseres Berechtigungswesens könnten dazu mehr als bisher beitragen.

 

Walter Hiller ist Geschäftsführer des Bundes der Freien Waldorfschulen in Stuttgart.

 

 

Als ein Hauptargument gilt den Befürwortern der Hinweis auf das europäische Ausland, wo das Abitur angeblich bereits nach zwölf Jahren abgelegt werde, was deren Schulabgängern einen Wettbewerbsvorteil sichere. Übersehen wird dabei, daß mit den ausländischen Abschlüssen oftmals nur eine eingeschränkte bzw. fachgebundene Hochschulreife vergeben wird und sich - wie in Frankreich oder Spanien - an das Abitur einjährige Vorbereitungskurse für das Universitätsstudium anschließen. Völlig unbeachtet bleibt auch, daß Deutschland mit einem Unterrichtsvolumen von ca. 10.500 Vollzeitstunden bis zum Abitur im europäischen Vergleich das Schlußlicht bildet und damit weit etwa hinter Frankreich mit seinen 12.000 Stunden liegt. Die Streichung eines Gymnasialjahres würde zwangsläufig zu einer weiteren Reduzierung dieses dürftigen Unterrichtsvolumens führen. Dies zeigen bereits heute die neuen saarländischen Stundentafeln, die gegenüber Bayern zukünftig rund elf Prozent weniger Unterricht ausweisen. Damit aber sind Qualitätsverluste vorprogrammiert. Auch der Blick auf die Abiturergebnisse im Land Sachsen sollte die Politik vor überstürztem und falschem Handeln in dieser Frage warnen: Während in Bayern wie in den anderen westlichen Bundesländern regelmäßig lediglich zwei Prozent der Abiturienten nicht bestehen, schafften im letzten Jahr ca. dreizehn Prozent der sächsischen Zwölftkläßler diese Prüfung nicht im ersten Anlauf. Die Gefahr der Überforderung vieler Schüler, die sich in diesen Zahlen ausdrückt, wird durch die einzige wissenschaftliche Studie zu diesem Thema bestätigt: Erstellt im Auftrag der baden-württembergischen Landesregierung, kommt sie zu dem Ergebnis, daß mindestens 75 Prozent der Schülerschaft damit überfordert wären, das Abitur ein Jahr früher abzulegen! Aus qualitativen und pädagogischen Gründen verbietet sich eine generelle Schulzeitverkürzung von selbst. Wer ihr das Wort redet, handelt unverantwortlich.

 

Rainer Rupp ist Vorsitzender des Bayerischen Philologenverbandes in München.


 
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