© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/01 07. September 2001


Die Klügsten ziehen fort
von Jochen Denzler

Ganz Deutschland zittert vor dem Abzug deutscher Wissenschaftler ins Ausland, neudeutsch braindrain genannt. Ganz Deutschland? Keineswegs. Ein Teil der Wissenschaftler zittert nicht, sondern emigriert in die USA. Bundesbildungsministerin Bulmahn hat als Ursache erkannt, daß sie zu selten auf Rückkehrerwerbung nach Amerika reist. Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, die Bertelsmann-Stiftung und das CHE (Centrum für Hochschulentwicklung) hingegen entfalten rege Betriebsamkeit. Die Strategie erinnert an Schachspielschüler: Wenn man auch das Erfolgsgeheimnis des Gegenüber nicht kennt, was spricht dagegen, dessen Züge einfach zu kopieren und so zumindest ein Remis herauszuschinden?

Augenfälligstes Merkmal amerikanischer Hochschulen ist der in sich abgeschlossene Campus, der zugleich den meisten Studenten Wohnraum bietet. Die Studenten beginnen das Studium ein Jahr jünger als deutsche Studenten, aber um wesentlich mehr als ein Jahr schlechter vorbereitet. Anders als die besseren der amerikanischen Hochschulen ziehen die öffentlichen Schulen keine Einwanderer an. Im Gegenteil ist home-schooling ein Wachstumsmarkt. Dabei handelt es sich um Unterricht zu Hause unter Anleitung der Eltern, evtl. gemeinsam mit anderen Eltern, anhand von ausgearbeiteten Unterrichtsprogrammen, die käuflich zu erwerben sind. (Am Ende stehen öffentlich anerkannte Prüfungen.) Zwar können sich auch weiterhin viele Eltern diese Alternative nicht leisten, insbesondere nicht, wenn beide berufstätig sind, aber der Erfolg lockt weitere Interessenten an. Motivation hierfür sind neben pragmatischen Qualitatserwägungen oft auch religiöse Gründe.

Obwohl das öffentliche Schulwesen laut US-Verfassung gar nicht in Bundeskompetenz ist, erhält es Mittel aus dem Bundeshaushalt, und es ist dadurch nicht besser geworden. Diese Tendenz wird sich nicht abschwächen, wenn Präsident Bush sein Versprechen wahrmacht, mehr (Bundes-)Geld in die Verbesserung des öffentlichen Schulsystems zu stecken, womit er übrigens eine Agenda der Linken aufgreift. Demgegenüber hatte Reagan sein Wahlversprechen, das föderale (Bundes-)Erziehungsministerium abzuschaffen, nicht eingelöst.

Den ausländischen Gastwissenschaftler, der zum Beispiel Erstsemester in Mathematik unterrichtet, erwarten sehr gehorsame Studenten, die nach dem Modell behavioristischer Pädagogik trainiert sind: sie haben leistungsorientierte Verhaltensweisen internalisiert und wenden auf standardisierte Problemtypen standardisierte Lösungsstrategien an. Sie erwarten, daß alle Hausaufgaben von wenigen Paradigmen abgeklont sind, und das Textbuch, das 1.200 Seiten hat und voller bunter Beispiele und schicker Layout-Technik ist, erfüllt diese Erwartung. Ferner erwarten sie, daß auch die Semestralklausuren geklont sind. Sobald universitäres Niveau verlangt wird, ergeben sich Schwierigkeiten. Auch wenn die Anpassung am Ende irgendwie gelingt, dürften die schlechten Schulen die Achillesferse der US-Hochschulen sein. Dennoch reformieren süddeutsche Länder ein erfolgreiches Schulsystem. Von Amerika zu lernen wäre hier höchstens das Sprichwort: „If it ain't broken, don't fix it!“ (dt. Repariere nicht, was gar nicht kaputt ist.)

Der Abschluß nach vier vergleichsweise verschulten Studienjahren (mit dem „Bachelor“-Abschluß) an einer guten US-Universität beinhaltet mehr als das deutsche Vordiplom bzw. die Zwischenprüfung. Danach können die Studenten als „graduate students“ einen Master oder PhD (Doktor) erwerben. Freilich gibt es in den USA Hochschulen sehr unterschiedlicher Qualiät. Nur die guten Hochschulen (und das können fächerspezifisch unterschiedliche sein) mit Forschungsaktivitäten stehen in Konkurrenz um einwandernde Wissenschaftler. Manche Universitäten sind als four-year colleges ausgelegt, das heißt sie haben kein Doktorandenprogramm. Dort haben die Professoren ein wesentlich höheres Lehrdeputat. „Braindrain“-Wissenschaftler aus Deutschland sind dort eher selten. Nur die guten US-Universitäten haben Studenten, die sich mit dem deutschen Professor auf ein gemeinsam erträgliches Unterrichtsniveau einigen können.

An US-Universitäten (four-year colleges eingeschlossen) ist die Promotion Voraussetzung für eine Lehrtätigkeit; eine Habilitation ist unbekannt. Von Universitäten, die weniger als die Promotion verlangen, läßt man besser die Finger. Frisch Promovierte, die eine Hochschulkarriere anstreben, gehen meist auf ein- bis dreijährigen Zeitstellen auf Wanderschaft und unterrichten dort häufig Anfängervorlesungen. Der durch eine deutsche Habilitation nachzuweisende breite Überblick über ein Fachgebiet ist nicht gefordert und insofern nicht erforderlich, als sich die Vorlesungen meist sehr eng an ein Buch anlehnen. Aber auch etablierte und erfahrene Professoren sind in Anfängervorlesungen involviert. Innovative Ideen zur Lehre kommen schon aus praktischen Gründen aus deren Reihen. Ihre Qualifikation steht also außer Zweifel, und sie zeichnen sich durch Hingabe an die Lehre aus, andernfalls würden sie die Zeit nicht investieren.

Das Innovationspotential von BRD-Hochschulen wird gegenwärtig unter Wohlwollen der Politik von Stiftungen, die eigentlich niemandem verantwortlich sind, in die Universitäten hineingetragen, da ja der öffentlich-rechtliche Status bei Innovationen aus eigenen Kräften hinderlich war. Nun machen Politiker dem Kastraten die Unfruchtbarkeit zum Vorwurf. Es ist interessant, die Vorgehensweise der Hochschulreform anhand der Wettbewerbsausschreibung „Reformfakultät“ des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft zu studieren. Der Stifterverband versteht sich als eine Aktion der Wirtschaft für die Wissenschaft, und mit Wirtschaft sind hier ausweislich der Kuratoriumsliste nur die großen Konzerne gemeint. In einer ersten Runde dieses Wettbewerbs hatten die Dekane eine Grobskizze ihrer Reformprojekte einzureichen, wobei ausdrücklich nicht verlangt war, daß die zuständigen Fakultätsgremien mit diesen Plänen bereits hätten befaßt sein müssen. Wegen der kurzen Bewerbungsfrist war dies auch kaum möglich. Aus diesen Projektvorschlägen wurde dann von einer Kommission eine Vorauswahl getroffen. Die dabei erfolgreichen Fakultäten konnten dann in einer zweiten Runde das Vorhaben präzisieren, und dabei mußten dann die Fakultätsräte natürlich zustimmen. - in doppeltem Sinne von „müssen“: Welche Fakultät läßt ihren Dekan schon gerne mit abgesägten Hosenbeinen stehen? So kamen die „innovativsten“ Fakultäten der deutschen Hochschullandschaft in den Genuß von je 500.000 Mark Fördermitteln, mit denen nun Reformen in die Wege zu leiten sind, die nach Auslaufen der Förderung aus Fakultäts- oder Universitätsmitteln weiterführbar sein sollen.

Der Zustand einer Fakultät in dieser Situation läßt sich mit einem ironischen russischen Wort aus der Gorbatschov-Zeit beschreiben: Perestraivajemsa - „Wir sind beim Umbauen!“ (Im Unterschied zu Perestrojka, in dem ein Vollendungsaspekt mitschwingt, ist in diesem Wort ein kontinuierlicher Aspekt, der Ziel oder Ende nicht im Blick hat, angelegt.) Das Verfahren ist so subtil wie bewährt: Demokratisch legitimierte Gremien werden mit einem hektischen Reformchaos eingedeckt und faktisch unterlaufen. Permanente Revolution - Leo Trotzki läßt grüßen.

Für die Detailarbeit steht den Fakultäten das von Bertelsmann-Stiftung und Hochschulrektorenkonferenz gegründete CHE zur Seite. Da wimmelt es dann nur so von Plakatphrasen wie „Hochschulranking“, „Evaluation“ und „Zukunft“. Man muß die Projekte unter www.che.de  einmal genüßlich lesen und (vergeblich) versuchen, das Ganze in klare Worte zu fassen: Die FH Jena entwickelt ein Leitbild und dann einen Maßnahmenkatalog zur Umsetzung des Leitbildes. Dito die FH Reutlingen. An der FU Berlin wird ein Erprobungsmodell für ein neues Leitungs- und Organisationsmodell evaluiert (dem neuen Hochschulgesetz folgend, für dessen Erstellung das Budget noch gereicht hat). An der Hochschule Bremen wird ein Qualitätsmanagementsystem für Fachbereiche entwickelt und implementiert. Am Fachbereich Mathematik der TU München wird ein permanenter Reformprozeß initiiert. Die FH Ostfriesland sucht einen Masterplan für die Reorganisation der Hochschulverwaltung unter Berücksichtigung der Potentiale moderner Informations- und Kommunikationstechnologie. Die Hochschule Zwickau strebt nach einem Leitbild, einer Corporate Identity und Fachbereichsentwicklungsplänen. Nun ja, und die Wissenschaftler streben fort.

Im Rahmen dieses Umbauprogramms sind Kopien von US-Modellen wohlfeil und wohlklingend. So haben heute viele deutsche Fakultäten Master- und Bachelorstudiengänge aufzubauen, ferner englischsprachige Studiengänge. Stellenausschreibungen erwarten von Neuzuberufenden Mitarbeit an solchen Projekten, denn nur eine derartig reformorientierte Neuausschreibung scheint die vakante Stelle vor Einsparung zu schützen. Der Generationswechsel an den Universitäten erleichtert diesen schleichenden Umsturz.

Als weiteres Element wird aus dem US-Hochschulsystem die Idee eines board of trustees entlehnt und als Hochschulrat mit modifizierter Bedeutung gefüllt. So hat Bayern im neuen Hochschulgesetz diese Institution geschaffen und damit Personen aus dem Bereich der Wirtschaft sowie nicht der Hochschule angehörigen Wissenschaftlern wesentliche Mitwirkungsbefugnisse an der Leitung der Hochschule gegeben. So wächst, was als „Autonomie“ der Hochschule bezeichnet wird. Auch anderswo gibt es bereits Hochschulen mit Hochschulräten.

Jetzt sollen sogenannte Juniorprofessuren, angelehnt an das tenure track-System der USA, den frisch Promovierten in die wissenschaftliche Selbständigkeit entlassen. Das sind dann Professoren auf Probe (tenure track); sie können bei Bewährung ohne Ortswechsel in Festanstellung übergehen. Allerdings ist beim Vergleich zu beachten, daß an US-Elitehochschulen wie Harvard oder Princeton eine tenure track-Stelle praktisch nie zur Festanstellung führt und eher als Sprungbrett zu betrachten ist. Auch gute Universitäten mit hoher Übernahmequote auf TT-Stellen erwarten von ihren Kandidaten häufig vorher Post-Doc-Erfahrung. Wirklich frisch promovierte Juniorprofessoren sind in den USA also selten. Wo USA draufsteht, ist noch lange nicht USA drin.

An welchen Maßstäben mögliche Juniorprofessoren in Deutschland dereinst gemessen werden, weiß heute noch niemand. Sie werden (ohne sichere Position) administrative Mitwirkungsaufgaben wie festangestellte Professoren wahrzunehmen haben und wohl innovative Studiengänge aufbauen. Aufmucken in der Probezeit ist riskant. Die frisch Habilitierten hingegen sehen den Wert ihrer Qualifikation in Frage gestellt und sind keine Junioren mehr. Unfraglich geschätzt hingegen wird Auslandserfahrung. (Als Ausland anerkannt sind im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich die USA, es steht Stellenbewerbern aber frei, Erfahrung in anderen Ländern als Dschungel- oder Kolonialerfahrung anzupreisen.)

Was die etablierten Professoren betrifft, so sehen viele sich mit Sitzungsterminen eingedeckt, was der wissenschaftlichen Arbeit wenig dienlich ist. Diese findet dann besser zu Hause statt. Das geplante neue Besoldungsrecht für Professoren soll kostenneutral sein, aber „Leistung“ belohnen. In Forschung und Lehre 7/2001, dem Organ des Deutschen Hochschulverbandes, ist auf Mark und Pfennig nachgerechnet, auf der Basis der offiziell propagierten Zahlen, daß es in Wahrheit ein Professorenbesoldungseinsparungsgesetz ist. Die Kriterien der Leistungsmessung fehlen einstweilen. Hohe Präsenz am Hochschulort wurde aber schon auf der Wunschliste von Stellenanzeigen gesichtet. Gängelung durch Kleinkrämer ersetzt die Bewertung der Qualität wissenschaftlicher Arbeit durch die Fachöffentlichkeit.

Klar dürfte hingegen sein, daß die aktivsten Transmissionsriemen der Hochschulreform (als Dekane oder in der Hochschulleitung) als Leistungsträger aus dem Wettbewerb hervorgehen. Deren Leistungszulagen sollen nämlich bei der Pensionsfestsetzung Berücksichtigung finden, andere nur bedingt. So steht die Hochschulrektorenkonferenz den politisch gewollten Reformprojekten positiv gegenüber. Sie vertritt die (Ex-)Wissenschaftler, die als Rektoren in administrative Leitungsfunktionen übergewechselt sind (nach Eigendarstellung auf der Homepage vertritt sie „die Hochschulen“). Demgegenüber ist der Deutsche Hochschulverband als Standesvertretung der Professoren und des habilitierten Mittelbaus eher skeptisch und mahnt zu Vorsicht.

Zur Nachahmung beliebt ist das Modell der Lehrevaluation. Hierbei benoten am Ende des Semesters die Studenten ihren Professor nach verschiedenen Kriterien wie Klarheit oder Zugänglichkeit. Dieses System hat sich an den US-Universitäten in jeweils eigener Ausgestaltung etabliert. Die Gewichtung und Beurteilung solcher Lehrevaluationen bei Stellenbewerbern liegt in den Händen der Berufungskommission. Diese Daten sind immer interpretationsbedürftig. Aber die Meinung der Studenten ist gefragt. Schließlich haben sie genug bezahlt. Übrigens: Studenten evaluieren menschenfreundlicher, als es Unternehmensberater zu tun pflegen, welche sich an der permanenten Reorganisation eine goldene Nase verdienen.

Ein Aspekt, der (gute) US-Universitäten so attraktiv macht, sind die langen Öffnungszeiten der Bibliotheken und ihre gute Ausstattung. Die Magazinbestände sind frei zugänglich, oft sogar ohne Benutzerausweis. Auch Netzrecherche nach selteneren Titeln an anderen Bibliotheken ist so möglich: theoretisch können sogar Touristen im Urlaub nebenher wissenschaftliche Informationen recherchieren und kopieren, welche in den verarmten heimischen Bibliotheken nicht aufzutreiben sind. Nur für Ausleihprivilegien ist ein Benutzerausweis und damit Zugehörigkeit zur Universität erforderlich. Magazinpersonal wird nur fürs (richtige!) Zurückstellen gebrauchter Bücher benötigt. Im Vergleich dazu dauert eine Magazinbestellung in der Bayerischen Staatsbibliothek einige Tage, und obwohl alles computerisiert ist, ist die Information, wann das Buch wirklich abholbereit ist, nicht am Rechner abfragbar. Reformgelder für ausgedünnte Bibliotheken gibt es nicht. Viel lesen könnte ja aufrührerisch machen, zumal bei Studenten.

 

Dr. Jochen Denzler ist habilitierter Mathematiker und lehrte als Gastwissenschaftler an verschiedenen amerikanischen Universitäten.


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