© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/01 07. September 2001

 
Erhards Stieftochter
Wirtschaftspolitik: CDU-Chefin Merkel will mit der „Neuen Sozialen Marktwirtschaft“ in den Wahlkampf 2002 ziehen
Fritz Schenk

Gegen die nebulöse Ortsbestimmung der „Neuen Mitte“, die Gerhard Schröder zu seinem Markenzeichen erkoren hat, seit er sich nach seiner gewonnenen Landtagswahl in Niedersachsen im Frühjahr 1998 erst zum Kanzlerkandidaten seiner Partei - und nach dem Sieg über Oskar Lafontaine dann auch zum unangefochtenen Chef der SPD - gemacht hatte, will die CDU-Vorsitzende Angela Merkel nun mit handfester Munition antreten. Die Kampfansage der CDU (auf die sie sich wahrscheinlich mit der CSU einigen kann und wird) gegen die Kanzlerpartei heißt „Neue Soziale Marktwirtschaft“.

In der Öffentlichkeit ist dieser Slogan schon länger. Bereits durch Wolfgang Schäuble, und noch unter wohlwollender Begleitung durch den damals übermächtigen Kanzler der Einheit Helmut Kohl, hatte die CDU auf den Parteitagen in Leipzig und Bremen programmatische Leitsätze entwickelt, die unser Land aus den verkrusteten bürokratischen Strukturen und dem ausgeuferten öffentlichen Umverteilungssystem heraus- und zur Marktwirtschaft zurückführen sollen. Daß - und wie - das notwendig ist, pfeifen die Spatzen längst von den Dächern. Wenn mehr als die Hälfte unseres jährlichen Bruttoinlandsprodukts (BIP) staatlich abgezweigt, umverteilt, bürokratisch reguliert oder dominiert wird (wie das in Deutschland seit anderthalb Jahrzehnten mit steigender Tendenz der Fall ist), hat das mit klassischer Marktwirtschaft nichts mehr zu tun. Bei mehr als fünfzig Prozent Staatsanteil am BIP beginnt für die wissenschaftliche Nationalökonomie der Sozialismus.

Wenn es also wieder marktwirtschaftlicher zugehen soll, muß der Staatsanteil zurückgeschraubt werden. Warum soll das aber nun „Neue“ Soziale Marktwirtschaft heißen? Bei der Suche nach Antworten darauf drängt sich zuerst ein Zweifel auf: Hat die Union womöglich Angst, sich uneingeschränkt auf ihr altes Zugpferd Ludwig Erhard zu berufen? Denn Grundsatz eins seines Modells der Sozialen Marktwirtschaft lautete: „Es ist ein Ordnungssystem, in dem der Wirtschaftsprozeß von vornherein in sozialen Formen und mit sozialen Ergebnissen verläuft.“ Dieses „von vornherein“ kann man gar nicht groß und fett genug schreiben. Denn Erhards gesellschaftliche Grundmaxime lautete: „Ich möchte, daß der Bürger sagen kann: ’Ich will mein Leben, meine berufliche Entwicklung, mein familiäres Sein selber gestalten, für die Zukunft, für Unbilden des Lebens vorsorgen, weitestgehend unabhängig sein - sorge Du, Staat, dafür, daß ich das kann!‘“. Was ist davon geblieben? Schon die Große Koalition aus Union und SPD (1966 bis 1969) hatte diese Grundsätze über Bord geworfen und den Staatsanteil, der unter Erhard noch um 35 Prozent gelegen hatte, auf rund 40 Prozent hochgeschraubt. Seitdem ist die Dominanz des Staates zu jenem Moloch geworden, von dem sich heute nur noch unbelehrbare Sozialisten Besserung erhoffen. Allerdings: Das Ausufern staatlicher Allgegenwart und die Fülle ordnungspolitischer Regelungen, hat den Erhardschen Grundsatz „Sorge Du, Staat, dafür, daß ich weitestgehend unabhängig sein kann!“ längst zu der Mentalität „Sorge Du, Staat, für mich!“ degenerieren lassen. Weil sich der Staat selber in die totale „Wohltäter“-und Fürsorgerrolle gedrängt hat, sitzt er nun in der Erklärungs- und Handlungsfalle, den versorgten Bürger wieder an Eigenverantwortung zu gewöhnen. Doch wie soll er das können, wenn dieser vermeintliche große Wohltäter ihm weiterhin rund die Hälfte seiner Arbeitsergebnisse durch Steuern und Zwangsabgaben abzockt und nicht müde wird zu jammern, daß ihm diese vielen Milliarden noch nicht einmal genug sind?

Da zeigen nun in der Tat die bisher bekanntgewordenen Informationen aus der CDU Ansätze, daß Frau Merkel zumindest richtig beraten ist. Die angestrebten Änderungen im Steuer- und Abgabenrecht, in der Familienpolitik und im Arbeitsrecht weisen in die richtige Richtung. Sie gehen weit über das Schröder-Blair-Papier aus dem Jahr 1999 hinaus, wobei hinzukommt, daß sich Schröder ja seitdem bedeckt hält und sogar unmißverständlich zum Ausdruck gebracht hat, daß für 2002 ohnehin keine weiteren Reformen des Steuer- und Sozialrechts zu erwarten sind. Wenn es Frau Merkel gelingt, das Konzept durchzusetzen, und sie sich an die Spitze der Reformer stellt, den Wahlkampf mit diesem Thema beherrscht, ihm zumindest diesen Stempel aufdrückt, könnte Schröder in Bedrängnis kommen. Zu deutlich wird jetzt schon dessen Taktik, den Coup von 1998 wiederholen zu wollen, und das heißt, alles zu unterlassen, was ihn in Konflikt mit den DGB-Gewerkschaften bringen könnte. Sie waren damals seine stärksten Bataillone, und ohne oder gar gegen sie kann er kaum noch einmal siegen.

Hier liegt die Crux: Schröder kann vor den Wahlen die Katze nicht aus dem Sack lassen, und die Union muß vorsichtig mit Aussagen sein, die gar zu deutlich werden lassen, wo bei den Segnungen des liebgewordenen Versorgungsstaates überall der Rotstift angesetzt werden muß. Darin liegt wohl der Hauptgrund für die Wortwahl der „Neuen“ Sozialen Marktwirtschaft. Denn tatsächlich geht es eigentlich um die Reaktivierung der alten. Sie war es gewesen, die das darniederliegende Westdeutschland aus dem Elend geführt und das von aller Welt bestaunte „Wirtschaftswunder“ bewirkt hatte. Deshalb wären Union, Wirtschaft, Bildungswesen und ideologisch objektive Öffentlichkeit gut beraten, in unser aller Interesse die Erfolgsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft nicht verwässern zu lassen.

Im Grunde wiederholt sich jene Auseinandersetzung, die sich durch die Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands seit der Gründerzeit im 19. Jahrhundert zieht. Es gehörte (und gehört nach wie vor) zu den Glaubensgrundsätzen der sozialistischen Ordnungsfanatiker, daß der Staat vor allem „knappe“ Güter in der Hand zu halten, zu „verwalten“ und „sozial gerecht“ zu verteilen habe. Ludwig Erhard konnte die Bewirtschaftung nach der Währungsreform von 1948 nur unter Besatzungsrecht aufheben. Hätte es zu dieser Zeit schon die Bundesrepublik und einen Deutschen Bundestag gegeben, wäre ihm das nicht gelungen. Nicht nur die SPD unter ihrem ersten Nachkriegsvorsitzenden Kurt Schumacher, auch der Arbeitnehmerflügel der Union, vor allem aber die Gewerkschaften führten einen erbitterten Kampf gegen die Wiedereinführung des Marktes in der allgemeinen Versorgung. Die „knappen“ Nahrungsmittel müßte es doch weiter auf Lebensmittelmarken geben, sonst würden Millionen „arme“ Leute verhungern, Millionen würden ohne staatliche Hausbrandversorgung und ohne Kleiderkarten erfrieren, und natürlich fehlte auch damals nicht die Prophezeiung, daß der „freie Markt“ Millionen „Verelendeter“ auf der einen und wenige „Superreiche“ und „Spekulanten“ auf der anderen Seite hervorbringen würde. Selbstverständlich gab es bis 1951 Übergangsregelungen in der Bewirtschaftung bestimmter Güter. Aber die entscheidende Lehre war und ist, daß diese allein durch den Markt überflüssig wurden. Mit entsprechendem Mut könnte die CDU-Chefin die derzeit für die Union aussichtslose Lage vielleicht noch wenden. Die nächsten Wochen werden auf jeden Fall solche maßgeblicher Weichenstellungen sein.


 
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