© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/01 07. September 2001

 
„Schröder soll endlich anpacken“
Bayerns Finanzminister Kurt Faltlhauser über Deutschlands ökonomische Lage und die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung
Philip Plickert

Herr Professor Faltlhauser, weltweit beobachten wir einen deutlichen Einbruch der Konjunktur. Trotzdem hielt die Bundesregierung lange Zeit an ihrer Prognose von bis zu 2,5 Prozent Wirtschaftswachstum für Deutschland fest. Im zweiten Quartal ist das Wachstum nun fast zum Stillstand gekommen. Ist das der Vorbote einer Rezession?

Faltlhauser: Ich bin kein Wetterfrosch. Nach meiner Einschätzung werden wir nicht in eine Rezession kommen, jedoch befinden wir uns auch nicht nur in einer konjunkturellen Delle. Besorgniserregend ist für mich nicht nur der konjunkturelle Rückgang in der ganzen Welt, sondern vor allem die deutsche wirtschaftliche Schwäche, welche die der europäischen Nachbarstaaten noch übertrifft. Deutschland als das Schlußlicht Europas - das beunruhigt mich. Dies zeigt, daß wir die nötigen Reformen nicht in Angriff genommen haben, im Gegenteil. Die alten Strukturen werden zum größten Teil stabilisiert und konserviert. Die Bundesregierung betreibt Politik von gestern, das ist mein massiver Vorwurf an Schröder.

Letzte Woche hat das Ifo-Institut leicht verbesserte Zahlen zum Geschäftsklima vorgelegt - ein kleiner Hoffnungsschimmer. Glauben Sie, Bundeskanzler Schröder kann sein Ziel noch erreichen, die Zahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen zu senken?

Faltlhauser: Ich traue ihm alles zu, was Zahlenarithmetik betrifft. Faktisch kann er die Marke von 3,5 Millionen allenfalls kurzfristig schaffen, im Jahresverlauf jedoch nicht. Darin sind sich alle Experten einig.

Sie kritisieren Schröders zur Schau gestellte Gelassenheit, die berühmte „ruhige Hand“. Statt dessen fordern Sie, die nächsten Stufen der geplanten Steuerreform auf 2002 und 2003 vorzuziehen.

Faltlhauser: Die Opposition hat bisher pauschal gefordert, die Steuerreform vorzuziehen. Dabei ist in der Öffentlichkeit zu wenig beachtet worden, daß es ja noch zwei Stufen gibt, die bereits beschlossen sind. Einmal die Entlastungsstufe 2003 mit einer Reduzierung des Spitzensteuersatzes von aktuell 48,5 auf 47 Prozent und dann im Jahr 2005 eine weitere Senkung auf 42 Prozent. In gleicher Weise soll natürlich auch der Eingangssteuersatz nach unten gehen. Ich habe mit Blick auf die Haushaltsgegebenheiten die Forderung etwas differenziert. Der Schritt von 2003 soll aus konjunkturpolitischen Gründen auf 2002 vorgezogen werden, der Schritt von 2005, der viel zu spät kommt, auf 2003. Ich glaube, das hätte unmittelbare Auswirkungen auf die konjunkturelle Entwicklung. Vor allem psychologisch wäre dies ein Aufbruchssignal in unserem Lande, und es wäre auch finanzierbar. Im Jahr 2002 fielen nach unseren Berechnungen Kosten von 13 Milliarden Mark an.

Bleibt denn überhaupt noch genug Zeit für eine Gesetzesänderung?

Faltlhauser: Wir haben auch schon in der Vergangenheit Steuergesetze im September verabschiedet, aber danach wäre es zu spät. Ich habe es schon mehrfach gesagt: Wenn der Bundeskanzler seine „ruhige Hand“ nicht sehr bald aus der Hosentasche nimmt und anpackt, dann ist es zu spät. Aber offenbar rührt sich Schröder nicht. Unbestritten geben Steuersenkungen der Wirtschaft neue Dynamik. Die konjunkturelle Belebung setzt jedoch erst mittelfristig ein, wogegen die Steuerausfälle sofort spürbar sind.

Plädieren Sie also indirekt für ein höheres Haushaltsdefizit?

Faltlhauser: Ich kann ein höheres Haushaltsdefizit in der jetzigen konjunkturellen Situation akzeptieren. Was wir jetzt an Steuermindereinnahmen haben aufgrund der konjunkturellen Schieflage, müssen wir nicht in vollem Maße an anderer Stelle hereinholen. Das wäre sonst prozyklisches Verhalten. Dafür bekämen wir erstens keine politische Zustimmung, und zweitens wäre es auch ökonomisch falsch. In dieser Frage sind sich alle wirtschaftswissenschaftlichen Institute einig. Natürlich erhöht sich zwischenzeitlich die Neuverschuldung, wenn ich die nächsten Stufen der Steuerreform vorziehe. Aber nach einem Gutachten des Ifo-Instituts würden etwa 50 Prozent der Ausfälle durch die zu erwartende wirtschaftliche Belebung kompensiert. Zwar geschieht dies mit einer gewissen Verzögerung, Kernaussage jedoch ist, daß das nötige Geld teilweise wieder zurückkommt.

Wir dürfen den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1997 nicht vergessen, Deutschland hat in der EU ohnehin mit die höchste Nettoneuverschuldung. Eichel sagte vor kurzem, man müsse den Stabilitätspakt „flexibler“ handhaben. Meint er eine Aufweichung?

Faltlhauser: Ich hoffe nicht, denn schließlich war es Deutschland, der damalige Finanzminister Theo Waigel, der im Interesse eines stabilen Euro den Stabilitätspakt gegen den Widerstand anderer Staaten durchgesetzt hat. Die Einhaltung der Regeln des Stabilitätspaktes soll sicherstellen, daß die an der Währungsunion teilnehmenden Länder dauerhaft Haushaltsdisziplin wahren. Der Stabilitätspakt zielt darauf, das Vertrauen der Bevölkerung in die Stabilitätsorientierung der Gemeinschaft zu gewinnen und zu fördern. Der Stabilitätspakt erlaubt in bestimmten Situationen ein höheres Staatsdefizit. Allerdings dürfen dabei die ursprünglichen Zieljahre für das Erreichen eines ausgeglichenen Haushalts nicht in Frage gestellt werden. Die von Bundesfinanzminister Eichel angestoßene Diskussion über eine Aufweichung des Stabilitätspakts droht zu einer Beschädigung des Ansehens der Währungsunion zu führen. Dies kann - unmittelbar vor der Einführung der Euro-Banknoten und -Münzen - zu einem langfristigen Vertrauensschaden für die neue Währung führen. Die Bundesregierung wäre mithin gut beraten, die Diskussion über eine Aufweichung des Stabilitätspakts rasch zu beenden und sich ohne Vorbehalt dazu zu verpflichten, das bestehende Regelwerk weiterhin einzuhalten.

Gunnar Uldall, der wirtschaftspolitische Sprecher der Unionsfraktion, schrieb neulich, die CDU wolle die Regierung in der Steuerpolitik vor sich hertreiben. Sie haben das neue Steuermodell der CDU mit dem dreifachen Stufentarif als „Gag“ bezeichnet. Einige Finanzexperten erwarten von einem Stufentarif jedoch durchaus mehr Klarheit und Transparenz für den Bürger.

Faltlhauser: Die Idee des Stufentarifs ist schon ziemlich alt. Uldall, den ich ansonsten sehr schätze, hat das erstmals 1991 vorgeschlagen. Die gesamte CDU und die gesamte CSU haben damals schon nach sorgfältiger Prüfung gesagt: Ablage, bitte schön! Ich habe immer an vorderster Front gegen einen solchen Stufentarif gekämpft. Aus guten Gründen haben wir bei der Einkommensteuer einen linear-progressiven Tarif. Der Stufentarif bringt überhaupt keine Vereinfachung und Klarheit, im Gegenteil, er ist manipulationsanfällig und kontraproduktiv wegen des plötzlichen Anspringens des Steuersatzes. Damit ist der Stufentarif effektiv leistungshemmend. Der linear-progressive Tarif, der mit der Lupe betrachtet ja auch als ein Stufentarif erscheint, ist in dieser Hinsicht viel sauberer und gerechter.

Weshalb muß man einen solchen Streit über die Medien austragen?

Faltlhauser: Wenn die CDU in einem Grundsatzprogramm öffentlich von einem gemeinsamen steuerpolitischen Papier der CDU/CSU ohne Abstimmung mit der CSU und dem bayerischen Finanzminister abweicht und ich in der Öffentlichkeit nichts mehr dazu sagen dürfte, könnte ich steuerpolitisch gleich abtreten.

Ist ein solches Chaos geeignet, die Regierung Schröder „zu treiben“?

Faltlhauser: Inhaltlich kommen wir mit einem Stufentarif überhaupt nicht voran. In der Steuerpolitik stehen gegenwärtig ganz andere Fragen im Vordergrund, zum Beispiel die Gewerbesteuer oder die von Eichel vollkommen verzerrten AfA-Tabellen. Auch die Harmonisierung der Umsatzsteuer auf europäischer Ebene wäre ein interessantes Thema. Meine Schwerpunkte sind Steuervereinfachung und Rückverlagerung von Steuerkompetenzen an die Länder. Da brauche ich keine unsinnige Diskussion um einen Stufentarif.

Welche Schulnote würden Sie denn der Opposition für ihre gegenwärtige Arbeit geben?

Faltlhauser: (lacht) Eine „Eins“!

Tatsächlich? ­ - Kommen wir auf die Finanzen der Europäischen Union zu sprechen. Deutschland ist mit circa 50 Prozent der Netto-Beiträge immerhin der größte Nettozahler. Wäre es nicht an der Zeit, nachdem der bundesdeutsche Finanzausgleich erfolgreich reformiert wurde, auch auf europäischer Ebene eine gerechtere Lastenverteilung zu vereinbaren?

Faltlhauser: Wir, die CSU, fordern seit langem eine gerechte Lastenverteilung. Dazu sind Reformen auf der Einnahmen- wie auf der Ausgabenseite des EU-Haushalts erforderlich. Die Reformansätze von Berlin hierzu waren völlig unzureichend, gerade in Hinblick auf die Herausforderung der Osterweiterung. Schröder hatte im Vorfeld der deutschen Ratspräsidentschaft zwar wie üblich starke Reden verbreitet, aber letztlich seine Verhandlungsposition schon zu Beginn des Gipfels ohne Not aufgegeben.

Wie hoch schätzen Sie die Kosten der EU-Erweiterung? Reichen die von Erweiterungskommissar Verheugen genannten 80 Milliarden Euro bis zum Jahr 2006 angesichts der stark von der Landwirtschaft geprägten mittel- und osteuropäischen Staaten?

Faltlhauser: Es kommt darauf an, wie man die Erweiterung gestaltet. Man kann das bestehende System der Agrarsubvention nicht von heute auf morgen undifferenziert auf die östlichen Länder, insbesondere auf Polen, ausweiten. Man wird sich zwar bis 2006 einigermaßen durchmogeln können, weil die ersten Beitritte nicht, wie in der Agenda 2000 prognostiziert, 2002, sondern frühestens 2004 stattfinden werden. Ohne Reformen in der EU-Agrar- und Strukturpolitik werden dann aber die Grenzen der Finanzierbarkeit gesprengt.

Auch beim EU-Gipfel in Nizza wurde das bestehende System nicht angetastet. Erstaunlicherweise lobte Edmund Stoiber den Kompromiß von Nizza.

Faltlhauser: Aber nicht deshalb. In Nizza ging es um die mit Blick auf die Erweiterung nötigen institutionellen Reformen der EU. Stoiber hat begrüßt, daß endlich ein verbindlicher Termin für die Abgrenzung der Kompetenzen festgelegt wurde. Die Aufgabenverteilung muß bei der nächsten Regierungskonferenz 2004 klar geregelt werden. Darin sehe ich die Vorarbeiten zu einem Gesamtwerk, das einem Verfassungsvertrag schon sehr nahekommt.

Man hat bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene streckenweise den Eindruck, das einzige gemeinsame Interesse der Mitgliedstaaten sei die Gier nach dem Brüsseler Geld. Jeder kämpft um seinen Anteil am großen Kuchen.

Faltlhauser: Ja, da gibt es unterschiedliche Auffassungen. Die Bundesrepublik war immer das bei weitem EU-freundlichste Land. Vor allem durch die Kompromiß- und auch Zahlungsbereitschaft Deutschlands hat die europäische Einigung über viele Jahre Fortschritte gemacht. Ohne diese Bereitschaft Deutschlands und ohne Helmut Kohl wären wir nie so weit gekommen. Einige andere Länder, gegenwärtig besonders Spanien, wollen tatsächlich aus Europa vor allem viel Geld herausmelken, siehe Kohäsionsfonds. Aber auch das läßt sich verkraften. Spanien hat sich im Ergebnis in einem Vierteljahrhundert von einer rückständigen Diktatur zu einem wirtschaftlich blühenden, demokratischen Land entwickelt.

Nicole Fontaine, die Präsidentin des EU-Parlaments, bezeichnete kürzlich die Agrarpolitik der EU als eine „Erfolgsgeschichte“. Stimmen Sie dem zu?

Faltlhauser: Die europäische Einigung ist eine Erfolgsgeschichte, die Agrarpolitik jedoch nicht unbedingt! Die Subventionspraxis ist leider teilweise ein administratives Drama und finanzpolitisch eine Katastrophe. Jedoch in Hinblick auf die Bewältigung der gigantischen Strukturdefizite in weniger als vierzig Jahren war sie nicht ohne Erfolg. Ich habe die Agrarpolitik vor allem immer als sozialpolitisches Abfedern des Strukturwandels verstanden. Als ich 1946 in die Schule kam, hatten wir in Bayern einen Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten von 37 Prozent. Heute ist er auf etwa ein Zehntel davon geschrumpft. Einen solchen Strukturwandel können Sie nur durch umfassende soziale Abfederung bewältigen.

Im gleichen Maße, wie Brüssel Kompetenzen übernimmt, wächst auch der Finanzbedarf. Ist eine Europasteuer, wie sie die grüne Kommissarin Michaele Schreyer immer wieder fordert, bald unvermeidlich?

Faltlhauser: Steuerhoheit ist staatliche Hoheit. Europa ist kein Staat, sondern ein Staatenverbund. Und wir wollen auch keinen europäischen Staat. Schon deshalb lehne ich eine Europasteuer vehement ab. Hinzu kommt: In dem Augenblick, in dem wir Brüssel Steuerkompetenzen geben, ist die Gesamtbelastung der Bürger nur noch schwer zu kontrollieren. Soll eine Europasteuer zusätzlich zu den nationalen Steuern erhoben werden oder ersatzweise? Falls eine mögliche Europasteuer als Ersatz gemeint ist, bekommen wir in der EU außerordentliche Probleme wegen der unterschiedlichen Steuersysteme. Unsere Aufgabe ist es, die Steuerbelastung für die Bürger zu senken, und nicht, noch mehr draufzusatteln. Aber erlauben Sie mir eine Bemerkung: Ich glaube, in Brüssel hat man die Bodenhaftung, das heißt den Kontakt zu den normalen Bürgern verloren, und deshalb ist den EU-Bürokraten die Höhe der Gesamtbelastung durch Steuern und Abgaben schnurzegal. Dagegen müssen wir uns wehren.

Die Gewährung von eigenständigen Steuerkompetenzen würde die Staatlichkeit der EU präjudizieren. Diese Entwicklung liefe auf einen zentralistischen europäischen Bundesstaat hinaus.

Faltlhauser: Exakt, und den will ich nicht. Das ist ein ganz falscher Weg. Das überlebt Europa nicht. Ich bin, wie Sie wissen, vor allem aus politischen Gründen ein ganz massiver Befürworter der europäischen Einigung. Das vereinigte Europa garantiert uns dauerhaften Frieden in unserem näheren Umfeld. Aber ein zentraler Bundesstaat mit über zwanzig Gliedstaaten wäre ein furchtbarer Moloch.

Aber steuern wir nicht auf genau dieses Szenario zu? Die Brüsseler Kommission, die bereits jetzt schon nach Schätzungen des ehemaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors in manchen Politikbereichen 70 Prozent der relevanten Gesetze und Richtlinien beschließt, soll immer weitere Kompetenzen erhalten.

Faltlhauser: In einigen Bereichen muß die Kommission tatsächlich weitere Kompetenzen bekommen. Zum Beispiel in der Ausländerpolitik, denn wir brauchen eine auf europäischer Ebene koordinierte Einwanderungs- und Ausländerpolitik. Oder auch in der Verteidigungs- und Außenpolitik. Zum anderen muß die Kommission aber auch im Sinne des Subsidiaritätsprinzips Kompetenzen wieder an die Mitgliedstaaten und Regionen abgeben. Wenn die Kommission meint, sich weiter in Detailfragen bis hin zur Schulpolitik einmischen zu können, wird Europa bald nicht mehr regierbar sein.

 

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser geboren 1940 in München, studierte er Volkswirtschaft, Rechts- und Politikwissenschaft in München, Berlin und Mainz. 1963 trat er in die CSU ein und war von 1974 bis 1980 Abgeordneter im bayerischen Landtag, anschließend bis 1995 im Deutschen Bundestag. 1994 wurde er stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion und parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesministerium der Finanzen. 1995 ging er als Staatsminister zurück nach München und wurde Leiter der Bayerischen Staatskanzlei. Seit 1998 sitzt er erneut im Landtag und bekleidet das Amt des Bayerischen Staatsministers für Finanzen.

 

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