© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/01 31. August 2001

 
Wer vom Feind frißt, stirbt daran
Wolfgang Harich und Arnold Gehlen. Eine Gedenkschrift in zwei Bänden
Günter Maschke

Die lieben Deutschen kenn ich schon: erst schweigen sie, dann mäkeln sie, dann beseitigen sie, dann bestehlen und verschweigen sie“: Goethe erfaßte damit eine bis heute goldene Regel unseres intellektuellen Betriebes. Doch ward es dem Olympier nicht vergönnt, die erstaunlichen Verfeinerungen dieser Maxime vorherzusehen, die sich zudem in einem Punkt veränderte: das Stehlen wurde verboten. Denn die durch ihre Kürzung verschärfte Regel gilt längst nicht mehr nur gegenüber dem Feind, sondern auch gegenüber dem Mann aus der eigenen Phalanx, der dessen Arsenale plündert. Wer vom Feind frißt, stirbt daran (auch wenn die Ethnologie es besser weiß!), und der Vorkämpfer der eigenen Sache wird zum Agenten der anderen erklärt.

Dieses Schicksal scheint auch Wolfgang Harich ( geboren 1923 in Königsberg, gestorben 1995 in Berlin) zugedacht. Nach einem Leben zwischen allen Stühlen langt es nun nicht einmal zu einem postumen Ledersofa. Der manische, widerborstige, streitsüchtige, zu grandiosen wie zu ridikülen Einseitigkeiten neigende kommunistische Philosoph (man denke nur an seinen hemmungslosen Anti-Nietzsche-Feldzug der achtziger Jahre) wurde 1957 vom Obersten Gericht der DDR zu zehn Jahren Zuchthaus wegen „Bildung einer konspirativen staatsfeindlichen Gruppe“ verurteilt: er hatte eine Reform des realen Sozialismus und die Vorbereitung der deutschen Einheit in Zusammenarbeit mit der SPD gefordert. 1964 wurde Harich amnestiert und als kranker Mann entlassen; ein anderer hätte sich in den Westen begeben, um, nach dem Eid auf das Grundgesetz mit einer C 3-Stelle versehen, über die humane Botschaft der Marxschen Frühschriften zu sinnieren.

Doch Harich blieb nicht nur in der DDR, sondern verteidigte sie gegenüber der Neuen Linken des Westens, weil für ihn das Heil, wenn überhaupt, nur aus den Institutionen erwachsen konnte. Er kritisierte die Studentenbewegung mit maßloser Schärfe, da ihm das wahre Ausmaß ihrer politischen Nullität und geistigen Impotenz entging („Zur Kritik der revolutionären Ungeduld“, Basel 1971) und forderte sodann die Bewahrung der Welt durch einen ökologischen Welt-Leviathan, durch den autoritären kommunistischen Weltstaat, der den Menschen die knappen Güter mit eiserner Faust zuteilt („Kommunismus ohne Wachstum?“, 1975). Das konnten weder die Kommunisten hinnehmen, deren Ziel die Überflußgesellschaft war und blieb, noch die ökologisch Bewegten jener Jahre, die wähnten, mittels „Demokratisierungen“ die rettende Bescheidenheit durchsetzen zu können, noch die Konservativen, deren Liebe zur Askese erkaltet, wird diese unterschiedslos allen Klassen verordnet, um diese dann zu beseitigen. Harichs intellektuelle Arroganz kam hinzu: er verlangte nicht nur Respekt vor der bürgerlichen Hochkultur, sondern auch den Erwerb gründlicher Kenntnisse, was die die Universitäten invadierenden Massen, an anti-elitären Affekten leidend, empörte.

Harich hatte also schlechte Karten bei einer verkommenen, hedonistischen Linken, die zur Avantgarde der alles durchdringenden Fäulnis und Dekadenz geworden ist. Hinzu kommt das Verhalten der Witwe, die die Forschung blockiert, den Nachlaß nur Unbedarften öffnet, welche die Steine des Anstoßes wegzuräumen haben, und schließlich eine völlig unzureichende editorische Praxis. Und dies bei einem Autor, der fast stets unglücklich publizierte (auch, weil ihm wenig anderes übrigblieb, da er vom offiziellen linken Verlegerestablishment meist geschnitten wurde).

Die Misere wird, aus gebotener Vorsicht, halb-deutlich in der Gedenkschrift, die zwei Freunde und Schüler Harichs, welche die Bezeichnung „Marxist“ noch verdienen, jetzt herausgegeben haben: Stefan Dornuf aus Hagen und Reinhard Pitsch aus Wien. Doch weshalb Dornuf und Pitsch, die sämtliche Beiträge sorgfältig kommentieren, auf eine Bibliographie der arg verstreuten Schriften Harichs ebenso verzichten wie auf einen Abriß seines ziemlich unübersichtlichen Lebens, bleibt ihr Geheimnis. Die zwei stattlichen Bände scheinen für die happy few bestimmt, und auch denen bleiben wohl noch genug der Fragen. Der große Reiz der Bände liegt aber in der Spannweite der Themen: allein dadurch wird das intellektuelle Profil Harichs deutlicher wie auch der nicht geringste seiner Fehler, sich eher vielerlei als vielem zuzuwenden.

Kontrolle des Überbaus -Entsorgung geistiger Probleme

Wir finden hier Beiträge von Hans G. Helms über „Künstliche Intelligenz“; ein kämpferischer Anti-Kommunist wie Melvin J. Lasky erörtert die Auflösung der Ideologien (mit der es gewiß nicht weit her ist); Andre Müller sen. schildert die Deutung von „Macbeth“ in der DDR; Alfred Schmidt berichtet über ein Gespräch mit Harich („Die nicht-erpreßte Versöhnung“); Dorothea Böck erzählt von dem wohl viele Leser überraschenden, großen Einfluß Jean Pauls auf viele Schriftsteller der DDR und weist auf Harichs Bedeutung als Jean- Paul-Forscher hin (vgl. „Jean Pauls Revolutionsdichtung“, 1974).

Erwähnenswert ist besonders eine Studie von Hans-Georg Backhaus, „Über den Doppelsinn der Begriffe ’politische Ökonomie‘ und ’Kritik‘ bei Marx und in der Frankfurter Schule“ auf 110 Seiten des zweiten Bandes, mithin ein ausgewachsenes Buch; Werner Mittenzwei erinnert an Harichs imponierende Leistung als Lektor des Aufbau-Verlages: hinzu kommen viele kürzere Essays und Erinnerungsstücke, insgesamt 37 Beiträge.

Sogar für Schmittianer fällt Bedeutendes ab: Iring Fetscher präsentiert seinen Briefwechsel mit Alexandre Kojeve (1902-1968) über Hegel, der wichtige Ausführungen zu Schmitts Lehre vom Nomos und zu dessen grundlegendem Aufsatz „Nehmen/Teilen/Weiden“ (1953) enthält. Fetscher bemerkt hierzu u.a.: „Ich meinte aus Schmitts Aufsatz herauslesen zu können, daß er das Nehmen als den Bereich des Politischen, das Teilen als Ursprungsphänomen des Juristischen und das Weiden als Ursprungsphänomen des Wirtschaftlichen verstanden wissen wollte“, und läßt dem Überlegungen folgen, wie es denn mit der „Nahme“ und der Zurechnung des Mehrwertes etwa bei vollautomatischen Industrieanlagen stünde. Auf die Beziehung Schmitt-Kojeve, deren Bekanntschaft Fetscher vermittelte und die auch Piet Tommissen durch seine Veröffentlichung ihres Briefwechsels und einiger Materialien darlegte (vgl. „Schmittiana VI“, Berlin 1998), fällt hier ein neues Licht.

Vor allem aber dokumentiert die Gedenkschrift, was für eine heutige Linke, die zwar genüßlich mittels moralischer Suggestionen den Überbau kontrolliert, doch keine geistigen Probleme mehr kennt geschweige selber hat, das Anstößigste an Harich war und ist: sein lebenslängliches Interesse an Arnold Gehlen. Harich begnügte sich nicht mit dem Aufweis der vielen Parallelen zwischen Marx und Gehlen (vgl. dazu Leo Kofler, „Das Prinzip der Arbeit in der Marxschen und der Gehlenschen Anthropologie“, Schmollers Jahrbuch 1958; Koflers in der Gedenkschrift nachgedruckte Studie über die Bewußtseinsanthropologie bei Marx ist weitaus Gehlen-kritischer), sondern er betrachtete Gehlens Anthropologie (vor allem entwickelt in: „Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt“, zuerst 1940, jetzt als zweibändige kritische Ausgabe bei Vittorio Klostermann, Frankfurt/M. 1993) geradezu als Basis des Marxismus. Für ihn mußte sie „mit der marxistischen Politökonomie zur Synthese verschmolzen“ werden. „Ohne Gehlens Befunde hingen die Marxschen Erkenntnisse, die Erzeugung des Bedürfnisses durch die gesellschaftliche Produktion betreffend, nach der biologischen und psychologischen Seite in der Luft, wären unerklärlich“ (in: „Kommunismus ohne Wachstum?“, 1975). Etwa ab 1950 beschäftigte sich Harich mit Gehlen und pilgerte 1952 nach Speyer, wo Gehlen als Professor an der Verwaltungshochschule tätig war, und sprach mehrere Tage mit ihm; danach entwickelte sich ein lebhafter Briefwechsel, der bis zu Gehlens Tod am 31. Januar 1976 andauerte.

Einig waren sich die beiden so unterschiedlichen Männer in ihrer Feindschaft „gegen die Beliebigkeiten eines konsumistisch gestützten Liberalismus“ (Rehberg), in ihrer Überzeugung von der Notwendigkeit der Institutionen (deren Erosion Gehlen eher achselzuckend diagnostizierte und die Harich kommunistisch-revolutionär neu gründen wollte), in ihrer Ablehnung des Herrschaftsanspruches eines realitätsfernen Luftmenschen- und Mundwerksburschentums; einig waren sie sich gegen das Persönliche, „das sich ungehemmt entfaltet, weil es nichts mehr verändern kann“ (Gehlen). Der gemeinsame Nenner der beiden hätte wohl das Werk Georges Sorels sein können - ob es das war, würde die notwendige Veröffentlichung ihres Briefwechsels zeigen. Der sorgfältige Bericht von KlausSiegfried Rehberg, dem Herausgeber der Gehlen-Gesamtausgabe, „Kommunistische und konservative Bejahung der Institutionen. Eine Brief-Freundschaft“, ist bis dahin nur ein, wenn auch vorzüglicher, Ersatz.

Prag 1968: Hoffnungen auf die letzte Ordnungsmacht

Der Sozialismus als die höhere und vor allem als die disziplinierte Kultur gegenüber der dekadenten Bourgeoisie bzw. gegen deren schwer bestimmbare Erben: dieses Programm Harichs war für eine Linke, die siegte, um gleich darauf zu verschwinden, unannehmbar - zumal mit einem Säulenheiligen wie dem autoritären Institutionalisten und vermeintlichen Ober-Nazi Gehlen. Hinzu kam Gehlens Faible für die Sowjetunion, besonders nach deren Einmarsch in Prag 1968, die auf diese Weise eine besondere „Art Freiheit, nämlich eine von der Kultur her aufgebaute Nebenregierung“ niederwalzte. Gehlen, dem die schon damals feststellbare Schwäche der Sowjetunion entging, traute ihr sogar zu, daß sie sich, „wenn der Aufstand des Nihilismus noch weiter“ ginge, „als die letzte Ordnungsmacht plausibel machen“ könne.

Solche Bemerkungen (in „Moral und Hypermoral“, 1969), die Gehlen innerhalb der Rechten isolierten, fanden Harichs freudige Zustimmung (vgl. das immer noch lesenswerte Gespräch mit Harich zum Tode Gehlens, „Die Extreme berühren sich“, Frankfurter Rundschau vom 21. Februar 1976), und damit hatte er sich aus der Gemeinschaft linker Gutmenschen katapultiert. Begab sich Gehlen in stets größere Distanz zu den Wirklichkeiten einer realitätsverleugnenden Welt, so daß es ihm am Ende gleichgültig war, wer die notwendige Disziplinierung durchsetzte, so schien für Harich nur der Sozialismus diese Chance zu bieten, der doch längst Sklave des vergeblich angestrebten Zieles war, den Westen einzuholen und zu überholen, auf daß alle Schornsteine noch heftiger rauchten. Je schärfer und auch je treffender die Kritik, desto kürzer der Weg zu den Luftschlössern.

1986 entdeckte Harich das Buch von Paul Alsberg, „Das Menschheitsrätsel“ (Dresden 1922; veränderte Neuauflage unter dem Titel „Der Ausbruch aus dem Gefängnis. Zu den Entstehungsbedingungen des Menschen“, Gießen 1976, herausgegeben von Dieter Claessens). Und da in diesem Werk Alsbergs (1883-1965) einige Elemente von Gehlens Anthropologie vorweggenommen sind (etwa Gehlens „Entlastung“, bei Alsberg das „Körperausschaltungsprinzip“; ein diesbezüglicher Text Alsbergs ist mit abgedruckt), ohne daß Gehlen auf seinen Vorläufer hinwies, mutierte der einst so verehrte Feind für Harich zum bösartigen Plagiator. Alsberg hatte aber schon von Max Scheler „abgeschrieben“ und Gehlen von beiden und wohl auch von Helmuth Plessner ... In Wirklichkeit handelte es sich hier um die in Gründungszeiten einer Wissenschaft nicht seltene „scientific community ohne Kommunikationsnetz“, um „eine Gemeinschaft der je Einzigartigen“ (Rehberg). Gerade in schöpferischen Pionierzeiten ist man in Fragen des geistigen Eigentums lax, und über Bert Brecht, den Harich gut kannte, hatte er sich in dieser Beziehung nie aufgeregt. Im übrigen ist weder ein „Plagiat“ in einem auch nur mäßig strengen Sinne feststellbar, noch sollte man vergessen, daß Gehlen, verglichen mit dem schätzenswerten Alsberg, der weitaus bedeutendere Autor war.

Mit anderen Worten: Harichs Eifer war, wie so oft, nur lächerlich. Seine stets übergroße Begeisterungsfähigkeit erstarb unter dem Mehltau der Antifa-Gesinnung, besser, wandelte sich zur Hysterie à la Zitteraal. Harich vergeudete seine Zeit mit dem Unergiebigsten, nämlich mit der Erforschung der angeblichen Nazi-Vergangenheit Gehlens, die nicht nur belanglos war, sondern der angesichts eines so bedeutenden Werkes auch dann kein Gewicht zukäme, wenn alle feindseligen Behauptungen wirklich zuträfen. Harich schien auf einmal von einer der beiden bösartigsten Krankheiten befallen zu sein: von der Furcht, der falschen Seite zu applaudieren (die andere ist die Furcht, Beifall von der falschen Seite zu erhalten). Er fiel selbst in die eingangs geschilderte sterile und crapulöse Gesinnung, für die er doch nur geringes Talent besaß, und konnte trotzdem nicht verhindern, daß auch er deren Opfer wurde.

Wer vom Feind frißt, stirbt daran! Das Wort ist au fond eine Lüge, aber unter gewissen elenden Zuständen eine fatale Wahrheit, die zu erwartende und von den Ober-Aufsehern beabsichtigte Folgen zeitigt. Wir aber sollten großherzig sein und Harich und seine Gedenkschrift lesen. Auch den Aufrechtesten verunzieren Flecken die Weste, und Harich war ein solcher Aufrechter. Doch bekanntlich hat niemand mehr Feinde als ein Aufrechter - was jedoch nicht an den Flecken auf seiner Weste liegt.

 

Fototext: Wolfgang Harich bei Ost-West-Gesprächen in Berlin (1954): Respekt vor bürgerlicher Hochkultur

 

Literatur: Wolfgang Harich zum Gedächtnis. Eine Gedenkschrift in zwei Bänden. Herausgegeben von Stefan Dornuf und Reinhard Pitsch. Müller&Nerding Verlag, München 1999/2000, 487/551 Seiten, 148 Mark

 

Die Erinnerungen „Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ (1993) offenbarten noch einmal das große Talent des Marxisten und PDS-Beraters Wolfgang Harich zu polarisierender Polemik. Wie zur Zeit des Kalten Krieges nannte Harich den ersten BRD-Kanzler Konrad Adenauer weiterihn den „Hauptfeind der Nation“, den „Verräter an Deutschland“, weil er den mit der Stalin-Note vom 10. März 1952 eröffneten Weg zur Wiedervereinigung versperrt habe. Solche Ausfälle standen in der Kontinuität der von Harich im Geist des Klassenkampfes geführten publizistischen Feldzüge. Davon in Erinnerung geblieben ist die kurz nach Kriegsende erschienene Warnung vor der Friedensschrift des „militaristischen Kurpfuschers“ Ernst Jünger und natürlich die enthemmte Polemik, die sich zwei Jahre vor dem Ende der DDR gegen eine kulturpolitische Öffnung des SED-Staates richtete, die dem Werk Friedrich Nietzsches zugute gekommen wäre. Daß Harich trotzdem kein Betonkopf vom Schlage Kurt Hagers war, sondern „irrlichternd in der Sonnenfinsternis“ (Henning Ritter) eine widersprüchliche, zuletzt von ihm als „nationalkommunistische Opposition“ empfundene Existenz führte, zeigt nicht zuletzt seine Bereitschaft, sich vom „Feind“ faszinieren zu lassen, von seinem ostpreußischen Landsmann Johann Gottfried Herder, dessen Werke er herausgab, genauso wie von dem einst in seiner Vaterstadt Königsberg lehrenden Arnold Gehlen.

Wolfgang Müller


 
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