© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/01 31. August 2001

 
Einladung in die Barbarei abgelehnt
Eine Wiederentdeckung des Schriftstellers Hermann Broch würde auch aktuelle Debatten erheblich bereichern
Doris Neujahr

Ein geistiger Mensch“, so Hermann Broch 1950 in einem Interview, sei jemand, „der im Zusammenhang lebt“. Diesen Zusammenhang vermochte die moderne Welt aus sich heraus nicht mehr vermitteln, er konnte nur das nie ganz erreichbare Endziel einer lebenslangen intellektuellen Anstrengung sein. Ideologien und politische Theorien, die ihre Welterklärung auf behauptete Axiome gründeten und die Vollendung „finaler Absolutheiten“ im Irdischen versprachen, waren für ihn Einladungen zur Selbstversklavung. Darin lag für Broch die größte Gefahr: daß der Mensch des 20. Jahrhunderts zum Sklaven herabsinkt.

Für Broch existierten die Menschen als „Schlafwandler“: Bald sich in falschen Sicherheiten wiegend, bald angstvoll ins Dunkel starrend und irrationalen Antrieben folgend. Im dritten Teil des gleichnamigen, 1931/32 erschienenen Romans entwarf er seine „Wertzerfall“-Theorie. Danach hatte das mittelalterliche Weltbild, ein durch den Glauben an Gott zusammengehaltenes „Totalsystem“, seit der Reformation seine Verbindlichkeit verloren und war in Einzelsysteme - Ökonomie, Nationalismus, Religion, Militär usw. - zerfallen, die ihrerseits dynamischen Prozessen unterlagen und in Untersysteme zerfielen. Der moderne Mensch war hineingestellt in ein Chaos widerstreitender Wertsysteme. Der Erste Weltkrieg hatte diesen Prozeß nochmals beschleunigt und das fragile Gleichgewicht ins Rutschen gebracht. Im Gegenzug wurde die Sehnsucht nach einem neuen „Zentralwert“, einer sinnstiftenden Mitte, immer stärker.

Broch sah die Gefahr, daß ein bizarres Subsystem sich selbst absolut setzen und die vakante Mitte usurpieren würde. Noch bevor Hitler die Macht ergriff, erkannte er, was mit ihm heraufzog: „Gäbe es einen Menschen, in dem alles Geschehen dieser Zeit sich sinnfällig darstellte, dessen eigenes logisches Tun das Geschehen dieser Zeit ist, dann, ja dann wäre auch diese Zeit nicht mehr wahnsinnig. Deshalb wohl sehnen wir uns nach dem ’Führer‘, damit er uns die Motivation zu einem Geschehen liefere, das wir ohne ihn bloß wahnsinnig nennen können.“

In den „Schlafwandlern“ hat man den ganzen, universellen Broch: den Schriftsteller, Philosophen, den politischen Denker, den Literatur- und Kunsttheoretiker. In Brochs Poetik lieferte der Kitsch das Gegenstück zum politischen Totalitarismus. In mehreren Vorträgen definiert er ihn als eine zur Karikatur verzerrte Kunst, die sich kunstfremden Wertsystemen unterwirft, die politische, religiöse, moralische Absichten propagiert und absolut setzt, zum Dogma erhebt und statt Alternativen menschlichen Handelns lediglich die Entscheidung zwischen Gut und Böse zuläßt. Wie der Kitsch strukturell totalitär ist, erzeugt der Totalitarismus den Kitsch-Menschen. Dessen auffälligster Vertreter ist der jubelnde Masse-Mensch, der in endlosen Demonstrationszügen an den Regierenden vorbeizieht und somit Götzendienst betreibt.

Broch grenzte sich gleichermaßen von „engagierter Literatur“ und vom „L’art pour l’art“ ab. Der Künstler sollte seiner sozialen und gesellschaftlichen Verantwortung durch den Mut zur Freiheit entsprechen. In der Studie über „Hofmannsthal und seine Zeit“ (1947/48) beschrieb er die Moderne als „eine Epoche des Un-Stiles, des Stil-Vakuums, der Stil-Freiheit“. In ihr „gibt es bloß den persönlichen Stil, und das ist für denjenigen, der sich dessen bewußt ist, eine beängstigende und fast lähmende Freiheit“.

Diese wenigen Beispiele deuten an, welch ungeheure Relevanz der 1886 in Wien geborene Hermann Broch für unsere Tage besitzt. Der Sohn eines Textilfabrikanten trat zunächst in die elterliche Firma ein, gab die Industriellenlaufbahn Ende der zwanziger Jahre aber auf, um Mathematik, Philosophie und Psychologie zu studieren und sich danach als freischaffender Schriftsteller niederzulassen.

1935 schrieb er den Roman „Die Verzauberung“, den George Steiner „zu den größten Romanen des zwanzigsten Jahrhunderts“ zählt und der erst 1969 vollständig publiziert wurde. Es stellt eine bis heute unübertroffene literarische Phantasie über die Machtergreifung Hitlers dar. Der „Führer“ heißt hier Marius Ratti: ein Wanderprediger und Psychopath, halb religiöser Schwärmer, halb kommunistischer Agitator, dessen tiefster Antrieb die Furcht vor dem Nichts ist. Ratti versetzt ein ganzes Bergdorf in Trance, als er ihm die Erlösung aus wirtschaftlicher Not, aus geistigen und religiösen Defiziten durch eine neue Gemeinsamkeit und einen ganzheitlichen Lebensentwurf verspricht. Er nimmt in Anspruch, nur das zu sagen, was alle heimlich wünschen und denken. Um ihn verbreitet sich eine Atmosphäre aus Faszination und Angst, die alle Instituionen, Traditionen und Umgangsformen von Innen her verändert. Nach kurzer Zeit wird Ratti wie ein Heiland verehrt. Selbst der intellektuelle Erzähler muß sich seine Verführungskraft eingestehen. Der Preis dieser „Verzauberung“ der „entzauberten“ Welt ist der Rückfall in archaische Barbarei, der Haß gegen Außenseiter und eine permanente Gewaltdrohung. Die Parallelen des Sujets zu Leni Riefenstahls „Blauem Licht“ und Ernst Jüngers „Marmorklippen“ sind evident. Die Worte, mit denen der Chronist seine Aufzeichnungen beschließt, lesen sich wie eine Prophetie des kommenden Weltkriegs: „Welche Verzauberung! Welcher Irweg, um zur Natur zurückzukehren! Wie wird die Natur sich dafür noch rächen! Denn die Natur ist es, die den vergewaltigten Geist rächt, denn Geist und Natur sind eins (...)“

Nach dem Anschluß Österreichs im März 1938 wurde Broch von der Gestapo verhaftet. Aufgrund ausländischer Intervention - so von James Joyce - kam er frei und konnte über England in die USA emigrieren. Seine Exiljahre waren trotz Unterstützung durch Privatpersonen und Stiftungen von bitterer Armut geprägt. Seine Mutter kam 1942 im KZ Theresienstadt um.

Um so bemerkenswerter ist es, daß ihm in diesen Jahren der Roman „Der Tod des Vergil“ (1945) gelang. Zu kompliziert und esoterisch, um jemals wirklich populär zu werden, erreicht er ganz andere geistige Dimensionen als Hermann Hesses berühmtes „Glasperlenspiel“ (1943) und sogar als Thomas Manns „Doktor Faustus“ (1947). Broch fängt dort an, wo Hesse und Mann aufhören, im Moment des Übertritts des Protagonisten zum Tode. Es ist ein Roman über die letzten 18 Stunden des römischen Dichters.

Vergil wird nach seiner Ankunft im Hafen von Brindisi in einer Sänfte zum kaiserlichen Palast getragen, durch eine „tobende Gasse des Unheils, die kein Ende nehmen wollte, vielleicht kein Ende nehmen durfte, ehe sie nicht ihr Letztes an Schimpf und Sünde und Fluch hergegeben haben würde“. Die Menge besteht aus angsterfüllten, sozial und sittlich verwahrlosten „Massentieren“. Von dieser Masse geht eine aggressive, ungerichtete Drohung und Macht aus, der auch der Kaiser entsprechen muß. In diese Schilderungen sind Brochs Erfahrungen mit den antisemitischen Exzessen in Wien 1938 eingegangen.

Ein zweites Thema ist das Verhältnis von Kunst und Macht. Vergil, so eine Legende, wollte sterbend sein Epos „Äneis“ vernichten. Broch formt daraus die Tragödie eines Künstlers, der einsehen muß, mit seinem Werk nicht primär den Gesetzen der Kunst gehorcht, sondern ein politisches System, das Römische Reich, befestigt zu haben. Doch kann ihn der Kaiser überreden, das Urteil darüber der Nachwelt zu überlassen.

Schließlich wird Vergil wieder auf ein Schiff gebracht, das ihn nach Rom bringen soll. In Wahrheit aber tritt er die Fahrt ins Totenreich an und versinkt in Fieberträume, Visionen und Halluzinationen. Getragen von einer rauschhaften, überquellenden Sprache, die durchaus mit der Johannes-Offenbarung vergleichbar ist und, wie der Ravelsche Bolero, einen immer stärkeren Sog erzeugt, treibt er durch visionäre Räume, in denen er die Umkehrung der Genesis und seinen Übertritt ins Tierreich, in die Pflanzenwelt, aus der organischen in die anorganische Materie erlebt. Vergils Ich weitet sich zum Kosmos, und schließlich, in einer blitzartigen Umkehr, erblickt er die Mutter mit dem Kind auf dem Arm - ein Bild, das sich sowohl religiös als auch tiefenpsychologisch deuten läßt -, um danach von einem „Brausen“ erfüllt zu werden und „das Wort“ zu vernehmen: die Anrufung durch Gott.

Dieses „Wort“ liegt „jenseits der Sprache“. Es bezeichnet das Transzendental-Absolute, auf das sich Broch auch in seinen wissenschaftlichen Schriften immer wieder bezog. Brochs Überlegungen sind von der qualvollen Aporie durchzogen, daß der Mensch, will er nicht der Barbarei und Versklavung verfallen, auf ein Höheres verwiesen bleibt, das ihn übersteigt und das sich seiner Begrifflichkeit eben deswegen letztlich entzieht. So kommt es auf die schwierige Bewährung im Irdischen an.

In den USA entstand eine Reihe von Schriften zur Massenpsychologie, in denen er eine „Massenwahntheorie“ entwickelte. Um Möglichkeiten zur Rettung der Demokratie aufzuzeigen, thematisierte er neben den offenkundigen Systemschwächen - wozu er wesentlich von Carl Schmitt inspiriert wurde - auch die wirksamen Triebstrukturen innerhalb des Demos. Broch machte sich keine Illusionen darüber, daß jede Demokratie auch die Möglichkeit des Umschlags zum Totalitarismus in sich trägt. Die „Massenwahntheorie“ stellt bis heute eine unerschöpfliche Schatztruhe zur politischen Theorie dar, die allerdings selten geöffnet wird. Warum wohl?

Eine der größten Gefahren sah Broch in der Okkupation des politischen Raums durch die Dominanz des Ökonomismus. Mit Broch wäre weiter zu fragen, ob der heutige Kampf gegen den virtuellen „rechten Feind“ in Deutschland nicht selber Züge eines Massenwahns trägt, der bereits zahlreiche Institutionen, die vor ihm schützen sollen - darunter Medien und Verfassungsschutzämter - ausgehöhlt und klammheimlich in Besitz genommen hat.

Broch starb am 31. Mai 1951 in New Haven, Conneticut. Seine fällige Neuentdeckung würde den dahindümpelnden gesellschaftspolitischen Debatten in Deutschland einen mächtigen Niveau- und Realitätsschub verleihen.

 

Ausstellung: Die Ausstellung „Hermann Broch. 1886-1951“ wird bis 23. September im Literaturhaus, Fasanenstr. 23, Berlin-Wilmersdorf, gezeigt. Info: 030 / 887 28 60. Das empfehlenswerte Begleitheft (Marbacher Magazin 94/2001) kostet 12 Mark. Eine 12bändige Werkausgabe von Hermann Broch ist im Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, erschienen.


 
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