© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/01 31. August 2001

 
Ein Leben im Zeichen der Sucht
Abhängigkeit: Die Definitionen einer Gesellschaftskrankheit
Steffen Königer

Viele sehen einen Drogenabhängigen nur als einen „Fixer“, einen „Junkie“ der auf Bahnhöfen in Großstädten herumlungert und aggressiv um jede Mark bettelt. Als jemanden, der meist selbst an seiner mißlichen Lage schuld ist. Was ist das aber wirklich für ein Zustand, der - rechnet man die Alkohol- und Nikotinsüchtigen mit dazu - mehr als hunderttausend Menschen allein in Deutschland jährlich sterben läßt. Dabei sind längst nicht auschließlich soziale Problemfälle von Sucht betroffen, auch in der „Oberschicht“ finden sich zahlreiche Abhängige. Die Sucht ist in erster Linie ein psychisches Problem, mit in der Regel bald auftretenden sekundären, körperlichen und sozialen Folgen. „Sucht ist stets Krankheit“, so der Direktor einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Prof. Dr. Karl-Ludwig Täschner.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sah den Begriff der Sucht als „einen Zustand periodischer oder chronischer Vergiftung, hervorgerufen durch den wiederholten Gebrauch natürlicher oder synthetischer Drogen und… gekennzeichnet durch 4 Kriterien:

- Ein unbezwingbares Verlangen zur Einnahme und Beschaffung des Mittels,

- eine Tendenz zur Dosissteigerung (Toleranzerhöhung),

- die psychische und meist auch physische Abhängigkeit von der Wirkung der Droge,

- die Schädlichkeit für den einzelnen und / oder die Gesellschaft.“

Nach Definition der WHO gilt jede Substanz als Droge, die in einem lebenden Organismus Funktionen zu verändern vermag. Das sind nicht nur Opiate, Kokain und Cannabisprodukte, Halluzinogene, Stimulantien, Schnüffelstoffe, Schlaf- und Beruhigungsmittel, Alkohol, Tabakerzeugnisse oder Schmerzmittel. Der Begriff der Droge bezieht sich auch auf Dinge, die jeder kaum als Suchtmittel identifizieren würde: Kaffee, Tee sowie mancherlei Genuß- und Lebensmittel, ja sogar Tätigkeiten können psychische Abhängigkeit hervorrufen. So wird nicht vollkommen grundlos von Freß- oder Fernsehsucht gesprochen.

Die Unterschiede liegen im Grad oder der Art der Abhängigkeit. Als verschiedene Grade der Abhängigkeit sind folgende zu verzeichnen: die physische Abhängigkeit, die sich im Fall eines sogenannten „kalten Entzuges“ (der sofortigen „Nullsetzung“ der Dosis, wie sie bei Alkoholabhängigen am häufigsten praktiziert wird) am deutlichsten abzeichnet - körperliche Entzugserscheinungen, fiebrige Anfälle, bis hin zum Schock. Und eine psychische Abhängigkeit, welche sich nicht in körperlich meßbaren Erscheinungen zeigt. Hiermit sind also diejenigen Elemente gemeint, bei denen ein „kalter Entzug“ keine sichtbaren Entzugserscheinungen hervorruft, sondern lediglich seelische Verwerfungen die Folge sind.

Sucht zeigt sich als permanente Suchthaltung und als gefestigtes süchtiges Verhalten. Von einem Krankheitswert kann gesprochen werden, wenn dieses nicht mehr angesichts einer Flucht- oder Unwohlsituation eintritt, sondern zu einem eigendynamischen, zwanghaften Verhalten wird, welches sich selbst organisiert hat und sich rücksichtslos beständig zu verwirklichen sucht.

Als bekannteste harte Droge, da sie mit ihrer intravenösen Aufnahme am augenscheinlichsten ist, gilt Heroin, ein halbsynthetisches Opiat, das aus dem Saft des Schlafmohns gewonnen wird. Opiate haben als Heilmittel und Suchtstoffe eine lange Tradition und wurden in früheren Jahrhunderten gegen Schlaflosigkeit, Fieber, Schmerzen und eine Vielzahl von Beschwerden eingesetzt, jedoch nicht in dieser chemisch hohen Konzentration.

Heroin wurde als vermeintlich nicht suchterzeugendes Ersatzmittel für Morphium (das ein chemisches Nebenprodukt von Opium ist) eingeführt. Die Eignung als Ersatz stellte sich als folgenschwerer Irrtum heraus, denn Heroin ist ein stärker wirksames, stärker euphorisierendes und stärker Abhängigkeit förderndes Mittel als Morphium.

Heroin hat einen großen Einfluß auf das zentrale Nervensystem und wirkt stark euphorisierend. Es vermindert Angst und Schmerzen und ruft ein schnelles, orgiastisches Hochgefühl (welches oft mit „Kick”, „Flash“ oder „Trip“ umschrieben wird) hervor. Was dann kommt, ist eine wohlige Dösigkeit und Müdigkeit verbunden mit dem eingebildeten Gefühl, im Einklang mit sich und der Welt zu sein. Beim Nachlassen der Wirkung ruft es Nervosität, Depressionen und massive Unruhe hervor. Dies führt neben der massiven physisch-körperlichen Abhängigkeit zu dem Verlangen, dem Wunsch, den angenehmen und scheinbar ausgeglichenen Zustand in der Konsumphase wiederzubeleben.

Eine Überdosierung kann zu Bewußtlosigkeit, Atemlähmung, Muskelkrämpfen und sogar zum Tod (bekannt als „goldener Schuß“) führen. Unterschiedliche Infektionen (Gelbsucht, Aids) sind häufig beobachtete Folgeerscheinungen, die mit Verunreinigungen der benutzten Spritzen zu erklären sind. Die vorrangig benutzten Stellen zur Injektion befinden sich in der Armbeuge oder in den Kniekehlen, seltener - insbesondere bei Personengruppen, die ihren Konsum so lange wie möglich verheimlichen wollen - sind die Punkte unter der Zunge oder zwischen den Zehen.

Heroin führt sehr schnell zu psychischer und körperlicher Abhängigkeit sowie zwanghafter Dosissteigerung. Die Entzugssymptome sind sehr stark ausgeprägt, wenn die Substanz nicht regelmäßig und in ausreichendem Umfang konsumiert wird.

Konkrete Zahlen von Konsumenten lassen sich nur sehr grob angeben. Die letzten Schätzungen der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS) in Hamm tendieren im Jahr 2000 zu Angaben von 250.000 bis 300.000 Personen. Das ist der Personenkreis, der harte Drogen (Amphetamine, Ecstasy, Kokain und Opiate) konsumiert. Die Größe der Gruppe harter Drogen mit hoher Konsumfrequenz und hoch riskanter Einnahmeform (intravenöser Konsum) wird mit 100.000 bis 150.000 Personen angegeben. Hier handelt es sich fast ausschließlich um Heroinkonsumenten.

Das Konsumieren zieht zwangsläufig, bedingt durch hohe Preise der illegalen Suchtmittel, Beschaffungskriminalität nach sich. Diese fiel - wie der polizeilichen Kriminalstatistik zu entnehmen ist - im Jahr 2000 im Vergleich zum Vorjahr um 13,7 Prozent auf 2.581 Fälle direkt nachgewiesener Beschaffungskriminalität. Die Zahlen Heroinabhängiger unter den vom Bundeskriminalamt erfaßten „Erstauffälligen Konsumenten harter Drogen“ sind seit 1992 zwar rückläufig, jedoch ist dies weniger ein Erfolg präventiver Drogenpolitik denn ein Ausweichen auf andere „chemische Keulen“.


 
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