© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/01 24. August 2001

 
Facetten einer untergegangenen Welt
Ausstellung in Potsdam: Eine Entdeckungsreise durch Brandenburg-Preußen
Wolfgang Saur

Der Pfarrkirche zu Kossenblatt entstammt ein großformatiges Ölbild (um 1600), das als monumentales Gruppenporträt Georg von Oppen, Patronatsherr des Anwesens, und seine vielköpfige Familie vorstellt und das derzeit in Potsdam zu sehen ist. Der Anblick befremdet jedoch den Betrachter: mit ungutem Gefühl nimmt er wahr, daß die Gesichter fast aller Personen leer, wie ausradiert erscheinen. Bald wird ihm klar, daß es sich um einen Akt von Vandalismus handelt, dem die individuellen Züge der Dargestellten zum Opfer gefallen sind. Die Beschädigung des Kunstwerks rührt vom sozialistischen Bildersturm der Nachkriegszeit her, in dem unersetzbares Kulturgut verlorenging und der erst die Symbole vertilgte, um danach die Erinnerung auszumerzen. Die Auslöschung der Gesichter, also der personalen Würde der Figuren, veranschaulicht anekdotisch die Wut gegenüber einem Preußen und seiner historischen Adelskultur, von dem nur mehr haßverzerrtes Ressentiment und Klassenkampfpolemik geblieben waren.

Die Situation, in der wir heute das eben in Restaurierung befindliche Gemälde wahrnehmen, ist eine neue. Mit anderen kostbaren und historisch beredten Stücken findet es sich seit dieser Woche in der weit ausholenden Ausstellung „Marksteine. Eine Entdeckungsreise durch Brandenburg-Preußen“, die bis zum 11. November einen umfassenden Rückblick auf die brandenburgische Geschichte unternimmt. Gezeigt wird sie im aufwendig sanierten Kutschstall am Neuen Markt in Potsdam. Aus dem vollständig erhalten gebliebenen Barockensemble dieses Platzes springt seine Fassade mit dem als Mittelrisalit monumental gestalteten Säulenportal, welches von einer eleganten Quadriga bekrönt wird, ins Auge. Vorläufer war ein 1671 errichteter „Reit-Stall“.

Dahinter erstrecken sich weitere, um einen Hof gruppierte Bauteile, die nach ihrer geplanten Fertigstellung 2003 einen großen Komplex „Tourismusforum Neuer Markt“ bilden werden, in dem institutionell kulturelle und wissenschaftliche Initiativen und die örtliche Tourismuswirtschaft zusammenfließen sollen. Unter den hierhin übersiedelnden Einrichtungen wie dem „Forschungszentrum Europäische Aufklärung“ (Land) oder dem „Kulturforum Östliches Europa“ (Bund) wird das bedeutsamste das „Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte“ sein, zu dessen Sitz der Kutschstall selbst bestimmt wurde und das gleichzeitig mit der von ihm ausgerichteten monumentalen Retrospektive seine Pforten jetzt öffnet.

Das mit einem Aufwand von zehn Millionen Mark sanierte Haus wird zwar über keine eigenen Sammlungen verfügen, jedoch über einen multifunktional nutzbaren Veranstaltungsbereich, der eine maximale Ausstellungsfläche von 1.600 Quadratmetern einschließt. Einige der zahlreichen Leihgeber aus dem In- und Ausland haben jedoch einem dauernden Verbleib ihrer Exponate in Potsdam zugestimmt, so daß ab 2002 auf einer Fläche von 600 Quadratmetern die Landesgeschichte in ihren Grundzügen ständig präsentiert werden kann.

Das in den Jahren 2000 bis 2002 als wissenschaftliche Einrichtung neu geschaffene Haus der Geschichte bedeutet als „Multiplikator und Plattform für die Landesgeschichte in ihren diversen Kontexten“ eine strukturelle Bereicherung für die Potsdamer Wissenschaftsszenerie und einen nachhaltigen Fortschritt für die Identitätsbildung des Landes selbst. Mit seinen Regionen und seinem kulturgeschichtlichen Tiefenhorizont ist es als ehemaliges Kernland des Hohenzollernstaates das einzige, was uns von Preußen noch geblieben ist, so Wolf Jobst Siedler.

Sich konstruktiv in diesem Bewußtsein dessen geistiges Erbe anzueignen und als heimatlichen Grund zu bejahen, war in der DDR unmöglich. Als „Land Brandenburg“ der Jahre nach 1947 fiel die Mark als Einheit bereits 1952 dem Verwaltungszentralismus der DDR zum Opfer; sie wurde in die Bezirke Potsdam, Frankfurt/Oder und Cottbus aufgeteilt. Gleichzeitig verfiel die geschichtliche Dimension der preußischen Mark dem totalen Verdikt. Über 1.000 Landsitze des Adels wurden zerstört, dessen Besitztümer, oft kostbare Altertümer, in alle Winde zerstreut. Den erschütternden Befund bilanziert Peter-Michael Hahn, Inhaber des Lehrstuhls für Landesgeschichte an der Uni Potsdam. Seit den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges habe keine Verwüstung so einschneidend gewirkt wie Krieg, Enteignung und Bodenreform nach 1945. Außer dem Humboldtschloß in Tegel sei somit „kein zusammenhängendes Inventar eines brandenburgischen Herrenhauses auf uns überkommen“. Eine mentale Lockerung ergab sich in der DDR erst durch die Erbediskussion der Achtziger, bis schließlich die Wiedervereinigung auch politisch eine Neukonstitution des Landes Brandenburg ermöglicht hat.

Dessen amtierender Ministerpräsident, Manfred Stolpe, eröffnete nun feierlich am 17. August Ausstellung und neues Geschichtshaus gemeinsam mit dessen Gründungsbeauftragten Hartmut Dorgerloh, der Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Johanna Wanka, sowie der Kuratorin Agnete von Specht. Vergangenen ideologiepolitischen Schlachten verdankte sich offenbar der vorsichtige, wenngleich überflüssige Vorbehalt seiner Begrüßungsworte, in denen er von „widersprüchlichen Emotionen“ im Hinblick auf Preußen sprach, das „bewundert und kritiklos verehrt, beargwöhnt und gar gehaßt“ werde. Eine fundiertere Erkenntnis hat jedoch längst die Klischees der Vergangenheit abgestreift und bietet heute ein differenziertes Bild, welches die „Marksteine“ authentisch in Szene setzen.

Ein versunkener Kosmos wird rekonstruiert

Als zweiter Teil und Höhepunkt der gemeinsamen Landesausstellung Berlins und Brandenburgs im Preußenjahr 2001 soll diese Historienschau ein kultur- und sozialgeschichtliches Panorama entfalten - im Unterschied zu den dezentralen Ausstellungsprojekten der Regionen, die spezielle Themenstellungen ausschöpfen. In zwölf Kapiteln wird der Besucher durch 900 Jahre Brandenburg geführt, die sich auf drei Ebenen verteilen.

Über ein externes Treppenhaus gelangt man ins nördliche Dachgeschoß, wo der Rundgang mit dem frühen Mittelalter anhebt und bis zu Reformation, Humanismus, Konfessionalisierung und dem Toleranzgedanken führt. Als besonders kostbar fallen im Bereich der „Klöster und Landesherrschaft“ der askanische Meßkelch aus Kloster Chorin (1270) und der erste brandenburgische Wiegendruck, ein Marienpsalter aus Kloster Zinna (1494), ins Auge. Interessant für die Landesentwicklung ist das Thema vom „Aufstieg und Blüte der märkischen Städte“, deren Zahl sich heute auf gut 100 beläuft und die im Zuge der deutschen Ostkolonisation gegründet, ihre relative Selbständigkeit im 16. Jahrhundert an die Landesherrschaft verloren haben. Diese Perspektive der thematischen Profilierung bezeichnet einen der drei konzeptionellen Leitgedanken der Ausstellungsmacher. Die beiden anderen Grundvorstellungen strukturieren die Textur des mittleren Teils, der im gewaltigen, sich in den vollständig ausgebauten Dachstuhl hinein erstreckenden ersten Obergeschoß untergebracht ist. Er ist dem 17. und 18. Jahrhundert gewidmet und setzt ein mit den auch farblich düster grundierten Auslassungen über Brandenburgs Schicksal im Dreißigjährigen Krieg.

Im Bereich „Die altpreußische Militärmonarchie im 18. Jahrhundert“ werden Facetten rekonstruiert, die bis heute als typisch preußische gelten, wobei Potsdam als Garnisonsstadt präsentiert oder Leben und „glänzende Karriere“ des Generalfeldmarschalls von Moellendorff (1724-1816) unter Friedrich II. dokumentiert werden, der als legendärer Mitstreiter der schlesischen Kriege in zahlreichen Schlachten bei Hohenfriedberg, Roßbach, Leuthen oder Hochkirch brillierte, als 82jähriger am Feldzug von 1806 teilnahm, in französische Gefangenschaft geriet und von Napoleon ausgezeichnet wurde, um in Berlin 1811 noch sein 50jähriges Dienstjubiläum als General zu feiern.

Den Bedeutungsschwerpunkt dieser friderizianischen Sektion bildet ein vielgliedriges Themenspektrum zur Adelsgesellschaft, adligen Lebenswelt und Kultur bis hin zur Reformzeit. Hier kommt die dritte Komponente der Rahmenkonzeption zum Tragen, nämlich eine wenigstens andeutende Rekonstruktion des Kosmos versunkener oder historisch ausgelöschter Lebenswelten zu leisten. Obwohl gerade hier soviel Wertvolles unwiederbringlich verlorenging, gelingt doch eine plastische Gestaltung dieser Periode. Untersucht werden der Adel und das Militärwesen, Charakter und Funktionsweise der Hofgesellschaft und das ländliche Leben auf den Gutsherrschaften. Der Besucher trifft auf eine Reihe bekannter alter Familien, so den Schulenburgs, Marwitz’, Finckensteins oder Arnims, die ihm im historischen Kontext vielfach begegnen. Vor allem der Abschnitt „Wohnkultur und Lebensführung“ bietet Gelegenheit, den sinnlichen Charakter und die besondere Aura historischer Objekte für das Ausstellungserlebnis zu nützen. So erstrahlt unter funkelndem Lüster eine riesige Tafel, gedeckt mit dem berühmten „Deutschblau mit ungebogener Kante“ der KPM, dessen einfache Noblesse den Charakter des alltäglichen Speisens bei ländlichen Adelsfamilien bestimmte.

Der ästhetische Sprung zum eigentlichen Raffinement des aristokratischen savoir vivre gelingt eindrucksvoll mit der erstmaligen Präsentation vieler Kostbarkeiten des Schlosses Lübbenau, welches am Rand des Spreewaldes gelegen, von den Grafen Lynar bewohnt wurde und von dessen Ausstattung sich durch die Gunst der Umstände Beträchtliches erhalten hat. Die Kreativität der Museumsarchitekten (Büro Fripp) und Gestalter, welche die höfische Epoche als den Mittelteil ihrer musealen Erzählung in ein weinrotes Gewand hüllten, hat angesichts der Schätze der Lynars besonders gesprudelt und durch das effektvolle Arrangement der überaus erlesenen Gläser und Porzellane in einer stirnseitig verspiegelten Vitrine einen überwältigend luxuriösen Kunstkammereffekt erzielt.

Bei Kriegsschäden besorgten die Kommunisten den Rest

Das soziokulturelle Komplement in der vorindustriellen Ständegesellschaft waren die bäuerlichen Dorfbewohner, deren Lebenssituation - samt dem eindrucksvollen Modell eines typischen Dreiseithofes - im Anschluß studiert werden kann. Daß der alteingesessene Adel sich seiner patriarchalischen Sozialverantwortung und zudem der Notwendigkeit modernisierender Agrarreformen bewußt war und nicht bloß als „reaktionäres Junkertum“ dem Status quo huldigte, zeigt das Beispiel der Charlotte von Friedland, deren fortschrittliche Tatkraft ihren Gütern im Oderbruch in sozialer, agrarwirtschaftlicher und -kultivatorischer Hinsicht zur Blüte verhalf. Ihre Tochter, die intelligenten Initiativen der Mutter fortführend, gehört schon ganz in die Epoche der Reformzeit hinein. In Cunersdorf unterhielt sie einen Musenhof, wo die Brüder Humboldt, Ranke und Savigny verkehrten.

Ähnlich künstlerisch und wissenschaftlich ambitionierte Landsitze lernen wir mit Madlitz, Nennhausen und Wiepersdorf kennen. Es war auch diese Periode Friedrich Wilhelms III., welcher durch die Bautätigkeit des märkischen Adels kunsthistorisch das größte Gewicht zukommt: Langhans, die Gillys, Schinkel und dessen Schüler haben so das Bild der märkischen Adelslandschaft ästhetisch wesentlich geprägt. Gegenüber tritt man vor die festlich illuminierte Porträtgalerie der Generäle und Militärreformer aus den Befreiungskriegen, deren subtile Charakterisierung künstlerisch auf Daniel Rauch zurückgeht. Friedrich Wilhelm III. hatte die Büsten 1824 als ein Denkmal der antinapoleonischen Allianz im Potsdamer Lustgarten zur Aufstellung gebracht.

Beim Abstieg ins Erdgeschoß erhalten die „Marksteine“ ihre multimediale Erweiterung durch Filmvorführungen, Tondokumente, etwa zum Abriß der Garnisonskirche, und eine Medienstation, die uns 74 ausgewählte Herrenhäuser der Mark in ihrer Geschichte und Gegenwart nahebringt.

Die südliche Halle im Erdgeschoß würdigt zunächst das Zeitalter der Romantik mit einer Extraausstellung märkischer Maler, vor allem Carl Blechens (1798-1840), entfaltet dann die Wechselwirkung von Tradition und Moderne im 19. Jahrhundert, räumt der Industrialisierung und den wissenschaftlichen Innovationen breiten Raum ein und verknüpft zuletzt Brandenburg mit der weiten Welt. Dabei darf auch geschmunzelt werden, wenn man etwa erfährt, daß ein Berliner, Henry Berger, zum „Vater der hawaiianischen Musik“ geworden sei. Über einen anderen illustren Exportartikel hatte sich einst schon Theodor Fontane bewundernd geäußert: „Lange bevor die erste ’Illustrierte Zeitung‘ in die Welt ging, illustrierte der Bilderbogen die Tagesgeschichte und ... folgte den Ereignissen auf dem Fuße.“ Erraten? Es waren die „Neuruppiner Bilderbögen“, die zwischen 1840 und 1890 zahllosen Familien im In- und Ausland, ja sogar bis nach Übersee aktuelle Ereignisse nach nur wenigen Tagen ins Haus brachten. Über 10.000 Bildfolgen thematisierten im Lauf der Jahre das „Zeitgeschehen, religiöse Motive, den Landesherrn und dessen Familie“, boten „erbauliche Genrebilder oder deftig-humoristische Begebenheiten“ (Schmidt).

Anders als dies harmlose Vergnügen brachte der „Tag von Potsdam“ durch die national­sozialistische Machtergreifung das dunkelste Kapitel mit Verfolgung, Terror, schließlich Krieg und Zerstörung heran - für alle Deutschen und speziell für die Märker. Nicht genug, meinten danach die Kommunisten und besorgten bei vielen Kriegsschäden gerne den Rest. Dem fiel auch das Potsdamer Stadtschloß zum Opfer, dessen Fortuna-Portal auf dem Bassinplatz eben jetzt wiederersteht.

Mit dem glücklichen Schicksal des prachtvollen Reiterstandbildes des Alten Fritz Unter den Linden seit 1981 enden schließlich diese 900 Jahre brandenburgisch-preußischer Landesgeschichte. Dem für sie neugeschaffenen Haus wünscht man eine intellektuell spannende Zukunft im steten Bewußtsein, daß Identität - die individuelle wie die kollektive - greifbar nur ist im immer neuen Erzählen der Geschichte und ihrer Geschichten.

 

Foto-Text: Alter Markt Potsdam - Stadtschloß mit Fortuna-Portal und Obelisk: „Bereits 1947 fiel die Mark Brandenburg dem Zentralismus zum Opfer“


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen