© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/01 24. August 2001

 
Die Unfähigkeit zur Großmacht
Der Dresdner Archivar Rainer Gross schreibt Sachsens Geschichte
Rolf Helfert

Die deutsche Geschichte verlief, im Gegensatz zu Frankreich und England, stets zweigleisig, auf Reichs -und Landesebene, mochten beide Sphären auch mehr oder weniger verzahnt bleiben. Regionalgeschichtliche Forschung genießt daher in Deutschland einen hohen Stellenwert.

Sehr zu begrüßen ist es, daß nun Historiker der neuen Bundesländer, befreit von ideologi­scher Bevormundung, moderne wissenschaftliche Darstellungen zur Landesgeschichte vorle­gen. Rainer Gross, langjähriger Direktor des sächsischen Hauptstaatsarchivs, heute an der TU Chemnitz beschäftigt, verfaßte ein kompaktes Buch mit dem lapidaren Titel: „Geschichte Sachsens“. Gross interessiert besonders die oft vernachlässigte politische Geschichte des Lan­des und seiner wettinischen Dynastie. Dennoch kommen Wirtschaftsgeschichte, Verwaltung, Bildungswesen und Rechtsgeschichte, Kunst und Kultur nicht zu kurz. Der Autor verarbeitet neueste Forschungsergebnisse und Resultate eigener Archivstudien und widmet sich vorran­gig der Neuzeit.

„Alles Staatswachstum ist ein Ringen“, lautet das Motto, welches Gross der Reise durch die Jahrhunderte voranstellt, und eben dieses „Staatswachstum“ bereitete Sachsens Herrschern enorme Probleme. Nach einer knappen Schilderung des sächsischen Mittelalters erörtert Gross die fundamentale Erbteilung des Jahres 1485. Die Wettiner spalteten sich in eine alber­tinische und eine ernestinische Linie. Nie sollte es gelingen, diese Fatalität wieder rückgängig zu machen, obwohl albertinische Fürsten, die fortan Sachsen repräsentierten, punktuell erne­stinische Territorien kassierten.

Höchst aufschlußreich ist die Tatsache, daß, nachdem das sächsische Haus in zwei Hälften zerfallen war, Herzog Albrecht nicht davor zurückschreckte, das entlegene Friesland zu in­korporieren, und dort verlustreiche Kämpfe führte. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts saßen bin­nenländische Sachsen an der Nordseeküste! Die gefährliche Zersplitterung der Energien, die das bizarre Friesland-Abenteuer verursachte, wiederholte sich zwei Jahrhunderte später in potenzierter Form, als August der Starke dem trügerischen Glanz der polnischen Kö­nigs­krone erlag.

Dazu kam, daß im „Mutterland“ der Reformation - anders als in Preußen - meistens religiöse Intoleranz herrschte, unter der besonders Calvinisten zu leiden hatten. Gerade hier hätte es nahegelegen, Sachsen und andere deutsche Länder zu vergleichen. Die analytische Kompo­nente des Buches erscheint etwas unterbelichtet.

Auch der berühmte Herzog und „Judas“ Moritz fiel mitnichten aus dem Rahmen verfehlter sächsischer Politik. Zwar erlangte Moritz von den Ernestinern die Kurwürde, die innerhalb der wettinischen Familie verblieb. Schwerer fiel ins Gewicht, daß er seinen größten Rivalen, den Ernestiner Johann Friedrich, aus dem Kerker Karls V. befreite und so mit eige­ner Hand das ernestinische Fürstentum restaurierte. Unverständlicherweise hält Gross Moritz dennoch für einen großen Staatsmann. Ein ähnlicher Fehler wie Moritz unterlief dessen Nach­folger, Kurfürst August, der nach der Gefangennahme des Herzogs Johann Friedrich (1567) die Chance ungenutzt ließ, das ursprüngliche Sachsen wiederherzustellen. Außerdem entstan­den noch in der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts in Kur-sachsen absurde Sekundogenitu­ren, also Unterfürstentümer.

Dieses trübe Bild der Staatspolitik wird aber in anderer Hinsicht aufgehellt. Schon im 16. Jahrhundert schuf Sachsen ein hervorragendes Bildungssystem und entwickelte effektive Verwaltungs -und Rechtsstrukturen. Gross stellt die jeweiligen Behördenapparate graphisch und übersichtlich dar. Vor allem dem erzgebirgischen Bergbau verdankte Sachsen seinen ver­gleichsweise großen Wohlstand; die sächsische Agrarverfassung war von persönlicher Frei­heit der Hintersassen geprägt. Um die Jahrhundertwende 1700 etablierten sächsische Fürsten ein absolutistisches Regierungssystem.

Immer wieder verwüsteten politische Katastophen Sachsens innere Blüte. Dreißigjähriger Krieg, siebenjähriger Krieg und die Wirren des napoleonischen Zeitalters sind hier zu erwäh­nen. Langfristig gab es für Sachsen nur zwei Alternativen: Es hätte sich an die Spitze des deutsch/protestantischen Lagers stellen und/oder konsequent das eigene Territio­rium vergrößern müssen. Am Ende ging Sachsen weder den einen noch den anderen Weg. Im Dreißigjährigen Krieg unterstützte es zunächst Habsburg, wechselte dann die Koalition und wurde bald zerrieben.

Bis in das 19. Jahrhundert änderte sich an den Grundkonstellationen sächsischer Politik nichts mehr. In der Völkerschlacht bei Leipzig kämpften sächsische Truppen hinter französi­schen Fahnen. Noch 1866 unternahm Sachsen den untauglichen, weil anachronistischen Ver­such, zwischen Preußen und Österreich zu lavieren. Sich die falschen Alliierten zu suchen, scheint eine sächsische Spezialität zu sein. Bei alledem vermißt man ein wenig die Tiefe der Analyse.

Kaum hatte Sachsen die Schäden des Dreißigjährigen Krieges beseitigt, stand in Gestalt Au­gusts des Starken die nächste Katastrophe vor der Tür. Das „augusteische Zeitalter“ brachte Sachsen äußerlich den Höhepunkt seiner Geschichte, aber auch den endgültigen Absturz in das politische Mittelmaß. 1697 erhielt Friedrich August I. die polnische Königskrone und überforderte damit hoffnungslos das kleine sächsische Kurfürstentum. Der Versuch, in das Konzert der Großmächte aufzusteigen, scheiterte jämmerlich. Gross nennt die Ursachen die­ses Desasters, fügt aber falsche Vorzeichen an: „Das war kein Größenwahn und keine Uto­pie“. Doch genau das war es! Halbwegs nüchternes Abwägen vorausgesetzt, hätte sich Gross sagen müssen, daß Sachsen selbst unter günstigsten Bedingungen niemals das monströse Polen und die Großmächte Rußland und Schweden, von Preußen zu schweigen, dauerhaft in Schach halten konnte. Selbst August der Starke erkannte kurz vor seinem Tod die negativen Folgen des Polen-Experimentes. Statt alle Kraft darauf zu konzentrieren, die Teilung von 1485 zu revidieren, versenkte Sachsen wertvollste Ressourcen in einem Faß ohne Boden. Als Rivale Preußens kam es damit nicht mehr in Betracht. Ohne Umschweife verbucht Gross die Verantwortung für das Scheitern der sächsisch-polnischen Union auf dem Konto Friedrichs II. von Preußen. Sehr plausibel klingt das nicht.

Der Bismarckschen Reichsgründung steht Gross negativ gegenüber. Ein reformierter Deut­scher Bund wäre ihm allemal lieber gewesen. Bismarck habe „kein einiges Deutschland, son­dern ein mächtiges Preußen“ gründen wollen.

Je miserabler die Politiker, desto besser die Kunst! Dresden gewann in augusteischer Zeit die Gestalt eines nordischen Florenz. Wissenschaft und Kultur blühten; schon um 1800 begann in Sachsen die Industrialisierung. 1831 wandelte sich der Absolutismus in ein konstitutio­nelles System. Ausführlich beschreibt Gross die Ereignisse von 1848/49, ebenso die Revolu­tion der Jahre 1918/19. Die letzten hundert Jahre werden dagegen eher summarisch zusammengefaßt.

Da Gross die politische Misere der sächsischen Geschichte nur partiell als solche erkennt, stellt er nicht immer die richtigen Fragen. Gab es so etwas wie ein spezifisch sächsisches Denken, das sich fundamental vom nüchternen preußischen Kalkül abhebt? War die sächsi­sche Staatsidee durch realitätsferne Abstraktion, Dogmatismus und falsche Romantik charakterisiert? In jedem Fall hat Gross eine solide, handbuchartige Darstellung vorgelegt, der aller­dings ein Funken kritischen und analytischen Esprits nicht geschadet hätte.

 

Rainer Gross: Geschichte Sachsens, Edition Leipzig, Leipzig/Berlin 2001, 320 Seiten, 68 Mark


 
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