© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/01 24. August 2001

 
Der Wille, als Deutsche unter Deutschen zu leben
Seit den achtziger Jahren sind über zweieinhalb Millionen Aussiedler in Deutschland angekommen, die meisten aus der ehemaligen Sowjetunion
Matthias Bäkermann

Mit der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 und der Bildung unabhängiger Staaten begann eine bis heute anhaltende Wanderungsbewegung von Deutschstämmigen, die alle vorherigen Zuwanderungen seit der Vertreibung nach dem Krieg zahlenmäßig übertrifft. So kamen in den neunziger Jahren 1.630.000 Personen (Bundeszentrale für politische Bildung BpB 08/2000).

Seit 1950 kamen 4.783.000 Angehörige der deutschen Minderheit aus den Staaten Ostmittel-, Südost- und Osteuropas in die Bundesrepublik Deutschland. Rechtliche Grundlage für die Anerkennung als Spätaussiedler war und ist der Paragraph 4 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG). Voraussetzung ist die in Paragraph 6 definierte deutsche Volkszugehörigkeit. Demnach ist deutscher Volkszugehöriger, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat und dieses Bekenntnis durch Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung und Kultur bestätigen kann.

Unter schwierigsten Bedingungen, insbesondere in den fünfziger Jahren mit Millionen ebenfalls einzugliedernden Flüchtlingen und Vertriebenen aus den Ostgebieten und dem Sudetenland, wurde eine große Integrationsleistung vollbracht, die nach wenigen Jahrzehnten als vollständig und erfolgreich bezeichnet werden kann. Diese Integration konnte in den sechziger und siebziger Jahren durch die niedrige Zahl der Aussiedler aus dem kommunistischen Machtblock verhältnismäßig einfach bewältigt werden. Selbst in den achtziger Jahren konnten durch die sich entspannende politische Lage in Mittelosteuropa große Zahlen von Aussiedlern mit wenig sozialen Problemen aufgefangen werden. Die meisten dieser Aussiedler kamen aus Oberschlesien (633.000 Übersiedler). Ebenso stellten seit 1978 die Deutschen aus Rumänien, die meisten aus Siebenbürgen und dem Banat, eine größere Gruppe dar (in den achtziger Jahren etwa 150.000 Deutsche, seit Ceausescus Sturz bis 1999 weitere 186.000 Personen). Die oftmals vorhandenen deutschen Sprachkenntnisse waren dabei eine entscheidende Hilfe. Inzwischen ist der Strom aus Polen und Rumänien fast gänzlich zum Stillstand gekommen (1999 sind 180 Personen aus Polen und 855 aus Rumänien nach Deutschland ausgesiedelt). Die Verhältnisse in Oberschlesien haben sich verbessert, und in Siebenbürgen sind fast keine Deutschen mehr.

Die Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion sind die einzig verbliebene Gruppe von Aussiedlern. Die wirtschaftliche Umbruchsituation - der wirtschaftliche Niedergang hält vielfach seit Ende der Sowjetunion an - und ethnisch begründete Benachteiligungen in einigen asiatischen Nachfolgestaaten, besonders die nationalistische Politik der autoritären kasachischen Regierung unter Nursultan Nasabajew, haben den Aussiedlerstrom beschleunigt. Ebenso wie die enttäuschte Hoffnung auf die Wiedererrichtung der Wolgarepublik hat der Wunsch nach Familienzusammenführung mit bereits in Deutschland lebenden Verwandten viele zur Ausreise bewogen. Seit Mitte der neunziger Jahre ist die Zahl der Ausreiseanträge rückläufig, seit 1996 auch die Zahl der tatsächlichen Ausreisen. Dies dürfte in nicht unerheblichen Maße auf die Einführung eines Sprachtestes im Rahmen des Aufnahmeverfahrens zurückzuführen sein, den immer weniger Antragsteller bestehen und darauf von einer Aussiedlung ausgeschlossen bleiben, obwohl sie die sonstigen Kriterien des Paragraphen 6 BVFG erfüllen.

Wieviel Rußlanddeutsche noch in den Nachfolgestaaten leben, ist unklar. 1989 wurden in Kasachstan 957.000 Deutsche gezählt, von denen mittlerweile 732.950 in Deutschland leben. Nach Ergebnissen der jüngsten Volkszählung vom März 1999 leben noch 353.400 Deutsche in Kasachstan. Die statistischen Schwankungen beruhen teilweise darauf, daß sich in der Sowjetunion aus Angst vor Repressionen viele nicht zur deutschen Volkszugehörigkeit bekannten. In Kirgisien leben von den ursprünglich 100.000 Deutschen nur noch 21.500 im Lande (Volkszählung 1999). In Rußland sind diese Zahlen sehr unsicher. In der letzten Volkszählung 1989 bekannten sich über 842.000 Einwohner zur deutschen Volkszugehörigkeit. Mittlerweile sind 460.690 Rußlanddeutsche nach Deutschland übergesiedelt. Dennoch geht man von einer ähnlich hohen Zahl wie 1989 aus, da die für Kasachstan erläuterten Gründe auch in Rußland vorlagen. Insgesamt übersteigt die aktuelle Zahl der Deutschstämmigen in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion eine Million.

Von den in den neunziger Jahren eingewanderten 1.630.000 Aussiedlern sind etwa 55 Prozent Erwerbspersonen (knapp 900.000); davon waren im April 2000 77.000 arbeitslos, was einer Quote von etwa 8,5 Prozent entspricht. Besonders die Frauen, die in der Regel berufstätig waren und vielfach Dienstleitungsberufe hatten, sind in Deutschland häufig wegen sprachlicher Defizite von Arbeitslosigkeit betroffen oder müssen auf minderqualifizierte Berufe zurückgreifen. Die Anerkennung der Berufsausbildung gilt insgesamt als eines der schwersten Probleme bei der beruflichen Integration. Gründe dafür sind unterschiedliche Standards des Wirtschaftssystems und vor allem die fehlende Kompatibilität bei vielen akademischen Berufen wie Juristen, Ökonomen und Lehrern. Viele Aussiedler mußten in Deutschland Berufe ergreifen, die unterhalb ihrer Qualifikation liegen. Der für eine Migrationsgruppe relativ geringe Arbeitslosenanteil bei den Aussiedlern ist andererseits auf diese Bereitschaft und einen hohen Grad an Flexibilität zurückzuführen. Staatlicherseits wurde die Verbesserung der Integration durch die Verkürzung des Sprachförderungsprogramms und der Ersetzung des zwölfmonatigen Eingliederungsgeldes durch die sechsmonatige pauschale Eingliederungshilfe in Höhe des Sozialhilfesatzes nicht unbedingt erleichtert.

Die oftmals unter Aussiedlern festgestellten Probleme wie Alkohol- und Drogenkonsum sowie Kriminalität sind nicht herausragend. Grundlage hierfür ist eine Analyse zu Integrationschansen junger Aussiedler von Rainer Strobl und Wolfgang Kühnel aus dem Jahr 2000, die zumindest die Alkohol- und Drogenproblematik im Vergleich mit hiesigen Altersgruppen sogar geringer einordnet und somit ein Klischee entschärft.

Der Vergleich der Kriminalitätsrate der Aussiedler, die prozentual im Verhältnis höher als bei der einheimischen Bevölkerung ist (Strobl/ Kühnel), mit anderen Migrationsgruppen ist jedoch schwierig, da die Veröffentlichung der Daten über Ausländerkriminalität in den letzten Jahren unterblieb.


 
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