© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/01 24. August 2001

 
Auf dem Weg nach oben
China: Informatik ist die beliebteste Berufsrichtung in China, denn sie verspricht die größten Aufstiegschancen
Rita Baldegger

Billy Li sieht müde aus. „Seit Wochen arbeite ich rund um die Uhr!“ Der 28jährige ist der IT- Manager einer australischen Stahlfirma in Peking. Zur Zeit vernetzt er alle Büros in China mit dem Hauptsitz in Melbourne. „Ein dringendes Projekt“, sagt er und nestelt eine Zigarette aus dem zerknautschten Päckchen. Verantwortung hat ihren Preis.

Informatik ist Billy Lis Berufung, aber nicht sein Beruf: Er ist Bauingenieur. „1989, als ich mein Studium aufnahm, lag das im Trend, schließlich war China eine einzige Baustelle.“ Doch schon damals war er mit Computern vertraut. Sein Vater war leitender Beamter im Erziehungswesen der nordöstlichen Industriestadt Benxi und hatte 1987 einen IBM-Computer für das Büro gekauft.

Das Interesse der Behörden am Gerät aus den USA prallte am englischsprachigen Handbuch ab. Billy wurde gerufen. Er war der Sprache mächtig und lernte so das Computer-Einmaleins. Trotz der Leichtigkeit, mit der Billy mit der neuen Technologie umging, rieten ihm die Eltern davon ab, Informatik zu studieren. Für sie waren Computer nur Mittel zum Zweck. Sein Ingenieurstudium bereut Billy Li jedoch nicht: „Ein guter Ideenlieferant für meine jetzige Tätigkeit!“

Zudem konnte er sich glücklich schätzen, sich für einen der raren Studienplätze qualifiziert zu haben. Jährlich scheitern Millionen an der dreitägigen, landesweit durchgeführten Aufnahmeprüfung - ein Nadelöhr, das für viele zu eng ist. Laut dem chinesischen Erziehungsministerium hatten im letzten Jahr 11 Prozent aller 18- bis 22jährigen Zugang zu einer Hochschule; in entwickelten Ländern ist diese Rate viermal höher. Nach Angaben des Amts für Statistik waren im Jahr 2000 5,56 Millionen Studenten an den 1.041 Universitäten immatrikuliert.

Gemäß der letztjährigen Volkszählung haben 45,71 Millionen Chinesen einen Universitätsabschluß. Die Zahl ist beeindruckend, entspricht aber nur 3,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. In der Schweiz zum Beispiel wiesen 1998 rund 23 Prozent der 25- bis 64jährigen eine Ausbildung auf der Tertiärstufe vor. Der gleiche Zensus brachte zutage, daß es in China mit 85,07 Millionen fast doppelt so viele Analphabeten wie Hochschulabsolventen gibt.

Die Regierung unternimmt Anstrengungen zur Verbesserung des Erziehungswesens, getreu der Parole, „die Nation durch Wissenschaft und Erziehung zu beleben“. 1986 führte sie eine neunjährige Schulpflicht ein, die heute 85 Prozent der Bevölkerung umfasse; die Zulassungsrate für Universitäten soll bis 2010 15 Prozent betragen; die Regierung erlaubte Privatschulen (zur Zeit gibt es rund 45.000 private Schulen aller Stufen); sie fördert den Fern- und Onlineunterricht; sie lanciert ein Programm zur Steigerung der Lehrerqualität, und sie reorganisiert die Schulen.

Der Reformkatalog ist umfassend, die Parolen sind schmissig, doch die Tatsache bleibt, daß China 1998 nur 2,5 Prozent seines Bruttoinlandproduktes - 295 Milliarden Renminbi Yuan (RMB, etwa 79 Milliarden Mark) - für die Erziehung budgetierte. Im internationalen Vergleich ist das ein lächerlicher Prozentsatz: Länder der Ersten Welt geben für die Erziehung im Durchschnitt 5,7 Prozent des BIP aus, und selbst Entwicklungsländer kommen auf 4,4 Prozent.

Die Zentralregierung wälzt die Ausgabenlast auf die Provinzen und die lokalen Behörden ab und diese wiederum auf das Volk. Für Eltern ist die Schulbildung ihrer Kinder eine teure Angelegenheit geworden, vom ersten Schultag an, und nicht alle können die Bürde tragen. In ländlichen und entlegenen Gebieten ist die Ausstiegsrate hoch.

Als Billy Li zu Beginn der neunziger Jahre die Jiaotong-Universität in Shanghai besuchte, eine der Spitzen-Hochschulen des Landes, bezahlte er 100 RMB (27 Mark) Einschreibegebühr pro Semester. Heute belaufen sich die jährlichen Gebühren für einen Hochschulplatz auf durchschnittlich 5.000 RMB (über 1.300 Mark) - eine stolze Summe: Im letzten Jahr betrug das offizielle Pro-Kopf-Einkommen in den Städten 6.280 RMB (1.663 Mark) und 2.253 RMB (596 Mark) auf dem Land.

Wer er sich irgendwie leisten kann, finanziert seinem Kind trotz der hohen Kosten eine gute Ausbildung, in China oder im Ausland. Traditionell wird der Erziehung großen Wert beigemessen, und sie ist die Eintrittskarte in ein besseres Leben. Abschreckende Beispiele für eine mangelhafte Ausbildung finden sich mehr als genug, seit Deng Xiaoping - nach Dekaden der Gleichmacherei - den Geist des Wettbewerbs aus der Flasche befreite.

Da sich in China das soziale Netz erst im Aufbau befindet, ist ein Studium eine wichtige Investition in die persönliche wirtschaftliche Zukunft. Studiert wird, was die Regierung als erforderlich für die Entwicklung des Landes darstellt, was der Markt verlangt und was eine hohe Aufwärtsmobilität verspricht. Zu Billy Lis Zeiten war es das Ingenieurwesen, später Internationaler Handel und jetzt i nformatik. Die Hochschulen reagieren auf den Druck von Regierung, Markt und Studenten und richten die verlangten Kurse ein - nicht zuletzt, weil sie sich hauptsächlich mit den Einschreibegebühren finanzieren.

„In den neunziger Jahren“, sagt Kang Kaili, Leiter der Business School der Beijing University of Post and Telecommunications, „war der IT-Sektor der am schnellsten wachsende Wirtschaftsbereich mit den bestdotierten Stellen. Zusammen mit der Politik der Regierung, diesem Sektor die wirtschaftliche Führungsrolle im 21. Jahrhundert zuzuteilen, ist es nicht verwunderlich, daß die besten Studenten in dieses Fach drängen.“ Und im Vergleich zu anderen Richtungen hätten selbst die Lehrer ein gutes Leben, da sie ihre Fähigkeiten neben der Lehrtätigkeit in Forschungsprojekten, Seminaren und Publikationen vermarkten könnten.

Jährlich graduieren an der Beijing University of Post and Telecommunications 3.000 IT-Spezialisten. Sie sind die crème de la crème und verdienen nach ihrem Abschluss etwa 20 bis 50 Prozent mehr als ihre Kollegen. Insgesamt steigen pro Jahr geschätzte fünfzig- bis achtzigtausend studierte Computerfachleute in den Beruf ein. Hinzu kommen Quereinsteiger und Autodidakten wie Billy Li. „Fast alle Mittelschüler und Studenten in China“, sagt Kang Kaili, „verstehen etwas von Computern! Und Computer-Privatstunden für Primarschüler sind sehr gefragt, vor allem in den Städten.“ Eine letztjährige Umfrage in 63 Städten ergab, daß Computeringenieur der beliebteste Berufswunsch der 16- bis 30jährigen ist.

Trotz des großen Interesses fehlt es wie in Deutschland und der Schweiz an Computerspezialisten, wobei Fachkräfte in China generell eine Mangelware sind. „Zwei Monate“, sagt Billy Li, „habe ich gebraucht, um eine Assistentin zu finden.“ Neben soliden Informatik- und Englischkenntnissen achtet er besonders auf die Denkweise: „Die Informatik dient dem Geschäft und nicht umgekehrt. Die Fachleute müssen den Kunden zuhören, und viele tun das nicht.“

Chinesische Informatiker werden auch vom Ausland umworben. Vor wenigen Monaten hatte Billy Li die Koffer für eine Stelle in San Francisco gepackt. Eine chinesische Headhunter-Firma hatte ihn aufgestöbert, der Chef war zum Interview nach Peking geflogen, das amerikanische Arbeitsvisum bewilligt, und das Ticket lag bei United Airlines bereit. Dann schlug die New Economy-Krise zu, und das US-Unternehmen meldete einen Auftragsrückgang. Billy Li hat sein Ticket nach San Francisco nie abgeholt.

„Die USA sind das Traumland für jeden Computerspezialisten, im Gegensatz zu Deutschland oder der Schweiz. Da würde ich nie hingehen! Aber die Lage der Firma und der US-Wirtschaft haben mich in letzter Minute abgeschreckt. Mir wurde klar, daß es in China für einen guten IT-Fachmann fast unbeschränkte Möglichkeiten gibt, in bezug auf Position, Weiterbildung und Gehalt.“ Billy Li drückt eine letzte Zigarette aus und geht zurück an die Arbeit.


 
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