© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/01 17. August 2001

 
Neue Eliten braucht das Land
von Walther Ch. Zimmerli

Die Deutschen haben ein besonderes Problem mit ihren gesellschaftlichen Eliten. Zwar braucht selbstverständlich auch die deutsche Gesellschaft Eliten, aber sie tut sich - aus historisch gut erklärbaren Gründen - schwer damit, diesen Begriff nach seinem Mißbrauch im nationalsozialistischen Elitarismus vor 1945 und seiner Verteufelung im pseudosozialistischen Egalitarismus nach 1968 mit einem neuen Sinn zu füllen. Im folgenden soll es daher um etwas fast Unmögliches gehen: um die Rehabilitierung einer reflektierten Konzeption von Elitenbildung in Deutschland. Dazu muss beim Zusammenhang von Elite und Führung unter Bedingungen einer sogenannten Wissensgesellschaft angesetzt werden, um verständlich zu machen, dass das neue Elitekonzept einen Ausweg aus der zweiten deutschen Bildungskatastrophe eröffnen könnte. Die konsequente Folge daraus wird allerdings eine Neuausrichtung der deutschen Universität sein müssen.

Der Begriff „Wissensgesellschaft“ ist fraglos einer der in den letzten Jahren meistzitierten (und mindestverstandenen) Begriffe. Er besitzt deswegen eine so große suggestive Kraft, weil er in einem Atemzug Nürnberger Trichter und blühende postindustrielle Landschaften verheißt. Es herrscht die Ideologie, als bewegten wir uns in eine Gesellschaft hinein, in der alle Menschen mehr wüßten als früher.

Das aber trifft nur zu einem geringen Teil zu. Fraglos wußten nämlich die Generation unserer Eltern und erst recht die unserer Großeltern erheblich mehr als wir, wenn wir unter „Wissen“ die Menge des Auswendiggelernten und so im internen GedächtnisspeicherAbrufbaren verstehen. Radikal anders verhält es sich dagegen in bezug auf die Möglichkeit, über informationstechnologische Kanäle, Browser und Suchmaschinen jederzeit Zugriff auf alles mögliche extern gespeicherte, virtuelle Wissen zu haben. Anders: Wenn wir den traditionellen Wissensbegriff unterstellen, leben wir nicht in einer Wissensgesellschaft, sondern bewegen uns in eine Wissenstechnologiegesellschaft von kognitiven Mensch-Maschine-Zentauren hinein. Damit aber wird zugleich das Hauptproblem benannt: Nicht mehr das in sich autonome und kognitiv autarke Individuum zählt, sondern dieses allein in seiner technologischen Verknüpfung zu anderen Individuen und zu externen Wissensbeständen. Das Netz wird zum Betrachtungsgegenstand und zugleich zum Großparadigma, an dem sich nicht nur alle Wissenschaftsgebiete, sondern auch der Bereich der Lebenswelt zunehmend orientieren. Da das Netz aber durch die miteinander verbundenen Computer mit ihren Mensch-Maschine-Schnittstellen konstituiert wird, kann es selbst als eine Art Metacomputer betrachtet werden, als eine Art Superhirn, das die Milliarden Endgeräte samt ihren Nutzern miteinander verknüpft und koordiniert.

Dadurch aber explodiert auch die Menge potenziellen Wissens. Sie wird zum einen so groß, daß sie nicht mehr vollständig zugänglich ist. Zum anderen erweist sie sich als so stark mit Datenmüll kontaminiert und verschüttet, daß es eigener technologischerAnstrengungen bedarf, die relevanten Informationen herauszufiltern. Nicht daß wir zu viel intern gespeichertes Wissen hätten, ist das Problem der sogenannten Wissensgesellschaft, sondern daß wir zu viele und viel zu komfortable Zugangsmöglichkeiten zu allzu viel extern gespeichertem Wissen haben. Wir wissen zu wenig über das viele, das wir nicht wissen; wir wissen aber zu viel über das wenige, das wir wissen.

Aber auch daß wir Zugang zu externen Wissensspeichern von gigantischer Größe haben, heißt noch keineswegs, daß wir das, was sich in ihnen befindet, bereits wüßten. Jemand, der einen Aufsatz kopiert, hat diesen allein dadurch ja auch noch nicht gelesen - vom Verstehen ganz zu schweigen. Das ganz Neue, das hier für die Eliten der Zukunft not tut, ist ersichtlich etwas ganz Altes, allerdings in neuem Gewand: zur Führung befähigende Persönlichkeitsbildung und Urteilskraft.

Meine Vermutung ist - um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen -, daß innerhalb der durch Pluralisierung und neue Wissenstechnologien veränderten gesellschaftlichen Bedingungen für die wieder aufgeflammte Elitediskussion noch ein anderer Kontext existiert, der nur in dieser Form von anderen Ländern und anderen Kulturen entweder noch nicht oder nicht mehr wahrgenommen wird. Es handelt sich um eine Veränderung im Konzept des Führens und der damit verbundenen Konzeption von Führungsverantwortung sowie generell um eine Veränderung im Verständnis der Rolle der gesellschaftlichen Eliten.

Wir lernen langsam auf der Ebene der Unternehmen, daß sie sich nicht nach dem Muster von Maschinen führen lassen. Wenn der Wirtschaftsphilosoph Charles Handy einmal der deutschen Wirtschaft vorgeworfen hat, sie sei nach dem Maschinensystem organisiert, in dem alles reibungslos dem großen Gesamtplan zu folgen hat, hat er damit vermutlich nicht nur ökonomisch, sondern auch technologisch recht. Hoch arbeitsteilige Strukturen verlangen einen gigantischen Planungs- und Kontrollaufwand und hemmen individuelle Initiative und Kreativität.

In den Worten von Hansjörg Bullinger vom Stuttgarter Fraunhofer-lnstitut für Arbeitswissenschaft und Organisation: „Die Trennung zwischen Planung, Ausführung und Kontrolle der Arbeit, unflexible Kontrollmechanismen vom Controlling bis zur Qualitätssicherung hemmen die Entfaltung eigener Ideen.“ „Lernende Unternehmen“ ist das eine, „Selbstorganisation“ das andere Catchword zur Benennung der hieraus zu ziehenden Konsequenzen. Beiden ist gemeinsam, daß sie sich der Metspher lebender Systeme bedienen. Wer Unternehmen und andere Institutionen nicht bloß als Maschinen zur Profitgenerierung, sondern als lebende Systeme versteht, muß ihnen Selbstorganisationsstrukturen und - in gewissem Sinne jedenfalls - Lernfähigkeit in einem nicht nur metaphorischen Sinne zugestehen. Und das hat zunächst organisatorische, aber dann - sehr viel weiter- gehende - mentale Konsequenzen.

Sie betreffen alle Ebenen der Unternehmen, insbesondere aber das Verständnis des Führens. Hatte die traditionelle Führungstheorie noch zwischen grundsätzlich zwei Führungsstilen, einem autoritativen und einem kollegialen, unterschieden, wird es jetzt komplexer: Wenn die ökonomische, aber auch ein Großteil der produkt- und dienstleistungsbezogenen Verantwortung dezentralisiert wird, erlöschen hierarchische, auf autoritativen Führungsstil bezogene Legitimationen von Führung. Zum einen gewinnt damit natürlich die Sachautorität eine größere Bedeutung, zum anderen aber beginnen Fähigkeiten eine entscheidende Rolle zu spielen, die vorher eher zu den „weichen“ Faktoren gezählt worden waren: Motivationskraft, Teamfähigkeit, Augenmaß und Fähigkeit zur Einschätzung der Fähigkeiten anderer, kurz: was ich als die Fähigkeit bezeichnen würde, „andere besser sein zu lassen, als man selbst ist“. Teams wären unnötige Zeit- und Ressourcenverschwendung, wenn sie nicht - jedenfalls in der Regel - Synergiezuwachs zur Folge hätten. Man kann diesen Führungsstil - mißverständlich, aber einprägsam - als „Führung durch Führungsverzicht“ charakterisieren. Damit ist natürlich nicht gemeint, daß Führungspersönlichkeiten nicht mehr führen sollten - das wäre eine Nonsense-Schlußfolgerung. Der Führungsstil „Führung durch Führungsverzicht“ heißt vielmehr die Wiederkehr zweier verloren geglaubter Charakteristika für die Wahrnehmung der Führungsfunktionen: Autorität und Persönlichkeit. Nach diesem neuen Stil kann eben nicht führen, wer sich allein auf seine Position in der Hierarchie verlassen muß, um andere Menschen dazu zu bringen, das zu tun, was sie tun sollen. Es bedarf dazu einer Führungspersönlichkeit, die Autorität nicht nur hat, sondern auch ist. Autorität aber beruht, wie uns die philosophische Hermeneutik gelehrt hat, auf Anerkennung. Diese wiederum ist - und das wissen wir zwar seit Hegel, bedurften aber der Erinnerung durch Charles Taylor, um es auch für multikulturelle Gesellschaften zu akzeptieren - abhängig von Reziprozität. Das heißt nicht, daß Anerkennung der Leistung oder Persönlichkeit anderer bereits hinreichend dafür wäre, selbst anerkannt zu werden, aber es ist vermutlich notwendig. Nicht jede Person also, die die Leistungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anerkennt, ist damit selbst schon als Führungspersönlichkeit anerkannt, aber nur wer das tut, hat überhaupt eine Chance dazu.

Ich gehe noch einen Schritt weiter und formuliere eines meiner Lieblingsbilder: Es ist nicht nur die auf Anerkennung beruhende Persönlichkeit, sondern es ist dazu noch eine spezifische Persönlichkeit, deren Comeback dieser Führungsstil erzwingt: die kantige und originelle Persönlichkeit. Die Aufgabe der Führung in einer dezentralisierten und selbst organisierenden Unternehmensstruktur läßt sich mit derjenigen vergleichen, einen Turm zu bauen, der höher ist als man selbst. Das kann man nur mit eckigen und kantigen Typen tun, nicht mit abgeschliffenen Aktenköfferchenträgern. Denn wem wäre es schon einmal gelungen, mit Murmeln einen Turm zu bauen?

Und damit kommen wir in die Nähe eines Punktes, der in den Klagen über die Krise der Eliten in Deutschland immer wieder genannt wurde: die Scheu, Führungsverantwortung zu übernehmen. Verantwortung besteht, wie wir aufgrund der ausführlichen Diskussion über den Verantwortungsbegriff im Gefolge von Hans Jonas‘ Buch „Das Prinzip Verantwortung“ wissen, in der Bereitschaft der Akteure, die Verantwortung tragen, sich vor einer Handlung zu verpflichten, für die Folgen der Handlung, nachdem sie eingetreten sind, einzustehen, und zwar je nachdem mit ihrem guten Ruf, ihrem persönlichen Vermögen, ihrer Freiheit oder - in ganz wenigen Extremfällen - auch ihrem Leben. Verantwortung ist, wie Philosophen dann sagen, ein mindestens dreistelliges Prädikat; das heißt, es muß immer mindestens gesagt werden, wer wem gegenüber und wofür Verantwortung übernimmt.

Die bisherigen Führungsformen, hierarchisch-autoritativ oder kollegial, hatten unter anderem eines gemeinsam; sie erlaubten nämlich, Verantwortung irgendwohin abzuschieben: nach oben oder unten im hierarchisch-autoritativen Stil (in den Hochschulen als „Blame-the-president/dean“ oder „Blame-the-secretary/assistant/student“-Spiel bekannt). In dezentral nach dem Muster der Selbstorganisation strukturierten Unternehmen geht das nicht mehr - da ist jede Führungspersönlichkeit in der Tat für ihren Bereich selbst verantwortlich, soviel auch über institutionelle oder korporative Verantwortung geredet werden mag!

Was aber hat das für die Frage der Eliten und ihrer Krise in Deutschland zu bedeuten? Die Antwort lautet: Unsere Eliten sind nicht nur selten willens, in diesem Sinne verstandene Verandtwortung zu übernehmen, sondern sie sind häufig dazu auch gar nicht in der Lage, weil sie dafür nicht ausgebildet sind. Nicht einmal die Analyse dieser Beziehung, geschweige denn die Folgen für das eigene Handeln werden in der traditionellen Ausbildung zum Manager, Politiker, Wissenschaftler, Künstler etc. gelehrt, und das „Training on the job“ findet dann natürlich auch nicht mehr in vitro, sondern gleich in vivo mit der ganzen Last an möglichen unerfreulichen Folgen statt.

Das aber bedeutet noch ein Weiteres, das ich schon oft geäußert und wofür ich schon mindestens ebenso oft Prügel bezogen habe: Verantwortung lernen muß immer auf einer Antizipation, und das heißt letztlich auch immer: auf einer Wertung und einem Gefühl, beruhen. Auch das aber will - und muß - gelernt sein.

Es ist kaum jemandem verborgen geblieben, daß die deutschen Universitäten als Elite-Kaderschmieden untauglich geworden sind, und daraus wird der - zumindest voreilige - Schluß gezogen, daß es deswegen höchste Zeit sei, etwas gegen die Vermassung und Verdummung der deutschen Universitätsausbildung zu tun. Voreilig ist er deswegen, weil er das Kind mit dem Bade ausschüttet. Eine differenziertere Betrachtungsweise ist daher erforderlich, wenn man über die Krise der Elite in Deutschland nicht nur klagen will, sondern sie als Herausforderung betrachtet, daran etwas zu ändern.

Trotzdem sieht es so aus, als ob wir in eine neue Bildungskatastrophe steuerten. Diese hat ihren Grund allerdings nicht mehr darin, daß wir zu wenig Breitenbildung hätten, wie 1964, sondern in der fehlenden Differenzierung und dem fehlenden Wettbewerb innerhalb des akademischen Systems selbst. Nicht unsere Schulen und deren Resultate sind das Problem, sondern die Tatsache, daß zwar der prozentuale Anteil der Abiturienten nicht nur verdoppelt, sondern fast verzehnfacht wurde, daß diese aber mit dem Abitur weiterhin undifferenziert die allgemeine Hochschulreife erlangen und daß diese allgemeine Hochschulreife weiterhin als hinreichende Zulassungsbedingung für Hochschulen gilt. Außerdem wurde in den vielfältigen Schritten der inzwischen durchgeführten Hochschulreformen versäumt, differenzierende Strukturmerkmale zwischen den Hochschulen und innerhalb der akademischen Ausbildungsgänge einzuführen, so daß nun - ein Jahrzehnt, nachdem weltweit die Planwirtschaft verschwunden ist - nahezu die einzigen nicht nach Wettbewerbskriterien organisierten Einrichtungen die deutschen Hochschulen sind. Globalisierung, Pluralisierung und Wissensgesellschaft auf der einen sowie die neuen Anforderungen an Führungsfunktionen auf der anderen Seite machen nun aber genau dies erforderlich. Die Existenz im Windschatten weltweiter Konkurrenz wird in Deutschland ein weiteres Mal dysfunktional, und während Georg Picht noch das Zurückfallen in der Breitenbildung konstatierte, müssen wir heute einräumen, daß die deutschen Hochschulen nicht mehr in der akademischen Weltspitze vertreten sind.

Analog zu dem, was Georg Picht angesichts der von ihm diagnostizierten drohenden Katastrophe der Breitenbildung in Deutschland vorgeschlagen hatte, gilt es nun, auch der zweiten deutschen Bildungskatastrophe mit einem Notstandsprogramm zu begegnen; und daß sich dies auf Dauer nicht mit einem System von Staatsmonopoleinrichtungen realisieren läßt, versteht sich wohl schon per definitionem.

Offener Wettbewerb wird erst möglich, wenn unser System staatlicher Hochschulen, das in der akademischen Breitenausbildung Erstaunliches bewirkt hat, nun mit der Hilfe privater Hochschulen durchmischt wird, damit sich etwas bewegt. Das „Notstandsprogramm der zweiten Bildungskatastrophe“ kann durch ein gemischt arbeitsteiliges System von staatlichen und privaten Hochschulen gestaltet werden, das beiden Hochschultypen erlaubt, ihre eigenen Stärken auszuspielen: Während die staatlichen Universitäten, zum überwiegenden Teil mit öffentlichen Mitteln finanziert, den politischen Bildungsauftrag wahrzunehmen haben, können die privaten Universitäten aufgrund ihrer flexibleren Struktur und ihrer relativ geringen Größe sich dynamisch am Bildungsmarkt bewegen und damit zusammenhängende Aufgaben wahrnehmen.

Zu den Maßnahmen, die Wettbewerb ermöglichen sollen, müssen gehören: Neuregelung des Hochschulzugangs (Auswahl durch die Universitäten), leistungsbezogene Besoldung, öffentliche Ausschreibung und leistungsabhängige Vergabe von Forschungsmitteln, Finanzautonomie der Universitäten, Studiengebühren, Reform des Stipendienwesens. Wichtig ist, daß all diese kompetitiven Strukturen allen Mitbewerbern offenstehen; spezifische Fördertöpfe nur für staatlich oder nur für privat finanzierte Hochschulen verfehlen erneut den Zweck der Qualitätssteigerung und Differenzierung durch offenen Wettbewerb. Neue Eliten entstehen nur neben einer akademischen Breitenwirkung.

Wenn es nun endlich um die Frage geht, welchen Beitrag ein solchermaßen differenziertes System zur Bildung neuer Eliten im Sinne der leistungsbezogenen Verantwortungseliten leisten kann, fehlt noch ein entscheidendes, aber bereits erwähntes Merkmal. Die sich bislang stärker an Strukturen orientierende Beschreitung der „Notstandsmaßnahmen“ darf sich angesichts der geschilderten Rahmenbedingungen (Pluralisierung, Wissensgesellschaft) und des neuen Führungsverständnisses nicht mehr allein an kognitiven und wissenschaftlichen Kriterien orientieren. Wissenschaftliche Qualität als Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten auf höchstem Niveau wird in Zukunft weltweit von jeder Hochschule verlangt werden. Der wichtigste Unterschied, der die Einrichtungen, die in diesem Sinne elitebildend wirken können, von den anderen abhebt, wird das Merkmal der Persönlichkeitsbildung sein. Dieser in der allgemeinen Führungsdiskussion etwas zu allgemein als „Sozialkompetenz“ charakterisierte Aspekt läßt sich genauer ausdifferenzieren, wenn man sich nicht mehr die Frage stellt, welche zusätzlichen Inhalte ein allgemein gebildetes Mitglied gesellschaftlicher Führungseliten neben seinen fachlichen Qualifikationen noch beherrschen muß, sondern wenn eine Orientierung an den zusätzlich verlangten Kompetenzen an deren Stelle tritt. Kurz: Die Kanonorientierung der Allgemeinbildung wird durch die Kompetenzorientierung der Persönlichkeitsbildung ersetzt.

Es sind, wenn ich recht sehe, drei Kernkompetenzen, die unter den veränderten Bedingungen von Führungspersönlichkeiten verlangt werden, die zur Verantwortungselite gerechnet werden wollen. Da ist zum einen die reflexive Kompetenz, die, durch Philosophie sowie Geistes- und Sozialwissenschaften geschult, die Realisierung jener Fähigkeit ermöglicht, die man als „über den Tellerrand schauen“ bezeichnen kann. Das eigene Fachwissen und die eigenen fachlichen Kompetenzen in das gesellschaftliche und historische Umfeld einbetten können, um damit die eigene Urteilskraft zu stärken, ist wesentliches Kennzeichen dieser Kompetenz.

Immer deutlicher wird aber, daß in einer globalisierten Wissensgesellschaft nicht nur fachliche Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern auch reflexive Kompetenz allein nicht ausreichen, wenn es an der Möglichkeit fehlt, sie zu kommunizieren. Kommunikative Kompetenz wird in einem Zeitalter der Informations- und Kommunikationstechnologien in zweifacher Weise unabdingbar: Zum einen wird die Befähigung zum Umgang mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien zum Bestandteil der fundamentalen Allgemeinbildung; zum anderen aber werden komplementär zur Technologisierung der Kommunikation das direkte zwischenmenschliche Gespräch, die Rhetorik und Argumentationsfähigkeit an Bedeutung gewinnen. Das Gewicht der Kommunikationsfähigkeit wird in dem Maße zunehmen, in dem im Führungsgeschäft neben der intellektuellen auch die emotionale Intelligenz an Bedeutung zunimmt.

Und schließlich wird man von denjenigen Persönlichkeiten, die in dem Sinne zur Elite gehören, daß sie fähig und bereit sind, Führungsverantwortung zu übernehmen, auch erwarten, daß sie ihre eigene Fähigkeit, Neues zu denken und mit Neuem umzugehen, schulen. Nun pflegt man die Fähigkeit, das Neue und Unerwartete zu denken,„Kreativität“ zu nennen, und die Geschichte der Kreativitätspsychologie lehrt uns, daß man Kreativität nicht lernen kann. Allerdings lassen sich die Bedingungen, unter denen kreative Fähigkeiten entwickelt werden können, verbessern oder verschlechtern. In dem Sinne muß, wer einer neuen Elitebildung das Wort redet, auch Bedingungen zur Weiterentwicklung der jeweils eigenen kreativen Kompetenz schaffen.

Hochschulen, die neben exzellenter wissenschaftsgestützter Fachausbildung auch einen Schwergewicht auf die Persönlichkeitsbildung im Sinne von reflexiver, kommunikativer und kreativer Kompetenz legen, werden in Zukunft einen namhaften Beitrag zur Entwicklung einer neuen Kultur von Verantwortungseliten in Deutschland unter Bedingungen der Globalisierung, Pluralisierung und Wissensgesellschaft leisten können. Die aus dieser Analyse folgenden Konsequenzen auch in der Praxis zu erproben, wird in Zukunft ein Privileg, aber auch eine Pflicht der wenigen Universitäten in privater Trägerschaft sein, die es in Deutschland bislang gibt.

 

Prof. Dr. Walther Zimmerli ist seit 1999 Präsident der Privatuniversität Witten/Herdeke. Der Text ist ein gekürzter und leicht überarbeiteter Nachdruck des Beitrags „Wenn sich die Welt ändert, müssen sich die Eliten ändern“ aus der Zeitschrift „Universitas“, Juni 2001


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen