© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/01 17. August 2001

 
„Das ist eine Kriegserklärung“
Der Hamas-Mitbegründer Abdel Aziz Rantisi über die Eskalation im Nahen Osten
Moritz Schwarz

Herr Dr. Rantisi, in der vergangenen Woche hat Israel in großem Stil autonomes palästinensisches Gebiet besetzt und Einrichtungen der Autonomiebehörde mit Raketen beschossen. Ist dies die unausgesprochene Kriegserklärung Scharons?

Rantisi: Das ist in der Tat eine Art Kriegserklärung. Bedenken Sie aber, daß es beileibe nicht die erste solche Kriegserklärung ist. Die Luftangriffe auf Bethlehem und jüngst Nablus - wo gezielt zwei Führer der Hamas ohne Rücksicht auf die spielenden Kinder vor dem Haus regelrecht hingerichtet wurden - sind Glieder einer Kette.

Haben Sie selbst Angriffe der Israelis miterlebt?

Rantisi: Vielfach, denn die Mentalität der Israelis ist der Terror. Sie greifen unser Volk überall und mit allen Mitteln an. Wir wissen, daß wir von ihnen nichts zu erwarten haben.

Hat sich die Atmosphäre im Gaza-Streifen unter dem Eindruck der Geschehnisse der letzten Tage verändert?

Rantisi: Nein, es ist dieselbe Bedrückung geblieben, die seit Beginn der Al-Aksa-Intifada herrscht.

Welche Auswirkung hat der erneute Druck der Israelis auf die Palästinenser auf das Verhältnis der verschiedenen palästinensischen Organisationen wie PLO/ PNA (Palestine National Authority = palästinensische Autonomiebehörde), Hamas („brennender Eifer“) oder Dschihad Islami („Islamischer heiliger Krieg“) untereinander?

Rantisi: Nach dieser Eskalation israelischer Gewalt stehen wir Palästinenser einmal mehr mit dem Rücken zur Wand, unser Volk befindet sich nun in ein und demselben „Schützengraben“. Wir glauben nicht mehr, daß die Israelis mit dem Frieden irgend etwas am Hut haben. Das einzige, was noch auf ihrer Agenda steht, ist der Krieg. Damit haben heute alle Palästinenser denselben schweren Stand.

Wird diese Einheit nicht getrübt von den unterschiedlichen Standpunkten, die etwa die PNA und die Hamas vertreten?

Rantisi: Wir haben sicherlich unterschiedliche Standpunkte, was die Politik angeht. Es geht aber im Moment um die Verteidigung Palästinas gegen die Feinde unseres Volkes.

Ist dies das Ende des von Arafat eingeschlagenen Weges eines Friedens durch Verhandlungen?

Rantisi: Allen Palästinensern ist nun klar, daß der Weg der Verhandlungen mit unseren Feinden ein völliger Fehlschlag war. Alles was uns Palästinensern nun noch bleibt, ist, unseren Kampf gegen die Besatzung fortzusetzen.

Und die Strategie der Hamas für diesen Kampf heißt Terror?

Rantisi: Die Strategie der Hamas ist, unser Volk vor dem Terror der Israelis zu schützen. Besetzung eines Landes nenne ich Terror, die Ermordung von zweihundert unserer Kinder nenne ich Terror, die Tötung weiterer Hunderter unserer Zivilisten nenne ich Terror.

Das legitimiert Gegenterror?

Rantisi: Wir haben keine andere Wahl, als die Israelis mit allen Mitteln zu stoppen.

Sie sprechen davon, daß „nun“ und „heute“ keine andere Wahl mehr bestünde. Die Hamas hat aber doch niemals an den Oslo-Friedensprozeß geglaubt, oder?

Rantisi: Die Israelis haben niemals an diesen Frieden geglaubt und nichts unterlassen, um die Vereinbarung von Oslo zu torpedieren. Hamas glaubt an den Frieden, aber nicht unter Preisgabe unserer Rechte.

Beinhaltet dieser Friede auch die Existenz Israels?

Rantisi: Frieden bedeutet, daß jeder Palästinenser heimkehren und in seinem Land sicher leben kann.

Wo bleiben die Israelis?

Rantisi: Sie fragen nach dem Schicksal von Aggressoren, Besatzern und Mördern. Sie sollten mich statt dessen lieber nach dem Schicksal der Opfer fragen! Nach dem Schicksal meines Volkes, das seit nunmehr 53 Jahren in Lagern leben muß. Wann wird diese Tragödie zu Ende gehen? Sie verstehen, daß dies die Dinge sind, die mich interessieren.

In der Tat wurden seit Beginn der zweiten Intifada - der sogenannten Al-Aksa-Intifada - vor zehn Monaten etwa 800 Palästinenser getötet und rund 27.000 verletzt.

Rantisi: Das zeigt nur zu deutlich, daß die Israelis offenbar den Krieg wollen.

Sehen Sie einen Unterschied zwischen Politikern wie Ariel Scharon und Schimon Peres?

Rantisi: Nein, Scharon ist ein Mörder, und Peres ist ein Mörder. Denken Sie an die Tötung zahlreicher Unschuldiger, Frauen und Kinder, 1996 in Kana in Südlibanon, die damals Peres als Ministerpräsident zu verantworten hatte. Heute ist Peres Scharons Partner in einer Regierung, die uns praktisch den Krieg erklärt hat. Da gibt es keinen Unterschied zwischen den beiden.

Peres entschuldigte sich gerade für die von den Israelis gegenüber den Palästinensern nicht gehaltenen Versprechen.

Rantisi: Wir haben diese Entschuldigungen von Peres schon hundert Mal gehört ...

Nun schlägt er vor - um den Friedensprozeß zu retten -, die Palästinenser sollten zunächst im Gaza-Streifen einen ersten eigenen Staat errichten.

Rantisi: Wenn es Peres wirklich um den Frieden geht, sollte er zuerst von Jerusalem sprechen statt vom Gaza-Streifen, denn die Al-Aksa-Intifada haben wir um Jerusalem willen begonnen.

Wenn Sie das Tischtuch als zerschnitten betrachten, was wird Ihr nächster Schritt sein, eine neue Serie von Selbstmord-Bombenattentaten?

Rantisi: Das zu entscheiden ist Sache des militärischen Flügels von Hamas, nicht die des politischen Flügels.

Aber Sie betrachten die Selbstmord-Attentäter doch ebenfalls als Helden und Märtyrer?

Rantisi: Christen, Juden und Moslems: sie alle betrachten jene, die sich für das Heil der Ihren opfern, als Helden.

In welcher Beziehung stehen die beiden Flügel der Hamas?

Rantisi: Beide gehören gleichermaßen zur Organisation, aber jeder Flügel arbeitet für sich alleine.

Sie befürworten aber die Attentate des militärischen Flügels gegen die Israelis?

Rantisi: Wir haben weder „Apache“-Kampfhubschrauber noch F-16-Jagdbomber. Wenn wir solche Waffen auch einmal haben, werden wir nichts anderes mehr benutzen.

Verliert das palästinensische Volk angesichts dieser Eskalation das Vertrauen in Arafat und wendet sich den radikalen Organisationen zu?

Rantisi: Der Friedensprozeß wurde von den Israelis mit Füßen getreten. Natürlich können unsere Leute nun niemandem mehr vertrauen, der sich für Verhandlungen mit den Israelis ausspricht. Das Ergebnis der Verhandlungsstrategie ist die Zerstörung zahlreicher Häuser, Hunger, die Tötung Hunderter Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, die Judifizierung Jerusalems und des Westjordanlandes. Alles, woran unsere Leute heute noch glauben können, ist der Kampf.

Arafat hält noch am Friedensprozeß fest, entzweit er sich also mit seinem Volk?

Rantisi: Wir sprechen über Politik und nicht über Arafat, und ich will nur soviel sagen, nunmehr glauben unsere Menschen nur noch an die Politik und die Strategie des Kampfes.

Wie ist Ihre Beziehung zur Fatah, der Kampforganisation von Arafats PLO?

Rantisi: Gut, wie auch zu allen anderen palästinensischen Organisationen. Wir alle liegen im selben „Schützengraben“. Auch die Fatah glaubt nicht mehr an die Politik des Verhandelns und des Friedens.

Also gibt es Uneinigkeit zwischen der Fatah und Arafat?

Rantisi: Nein, denn Arafat ist schließlich der Kopf der Fatah.

Arafat hält aber bislang offiziell am Weg der Verhandlungen fest.

Rantisi: Arafat glaubt genauso wie wir, daß wir um unsere Rechte kämpfen müssen. Doch für einige Zeit meinte Arafat, es sei besser, den Kampf am Verhandlungstisch fortzusetzen. Entscheidend aber ist, daß Arafat den Gedanken des Kampfes nie aufgegeben hat. Wir befinden uns nicht im Konflikt mit Arafat, auch wenn wir unterschiedliche politische Ansichten haben. Wir pflegen trotz allem eine friedliche Atmosphäre mit ihm.

Was wird Ihrer Meinung nach Arafats nächster Schritt sein, wird er seine Politik in Richtung auf die Ihrigen ändern?

Rantisi: Dazu möchte ich verständlicherweise nichts sagen.

Was halten Sie von der zurückhaltenden Nahost-Politik von US-Präsident Bush?

Rantisi: Ich halte ihn für voreingenommen zugunsten der Israelis. Die Politik der Vereinigten Staaten wird von bestimmten Interessenvertretungen gemacht, nicht vom Präsidenten. Deshalb gibt es letztlich keinen Unterschied zwischen der Palästina-Politik eines Bill Clinton und der eines George W. Bush.

Die Politik der USA ist also feindlich gegenüber Palästina?

Rantisi: Sie hilft unseren Feinden.

Demzufolge werden Sie auch die USA angreifen, wie jetzt die Israelis?

Rantisi: Wir Palästinenser greifen niemanden auf der Welt an - außer unseren Besat-zern.

Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht die Europäer in diesem Konflikt?

Rantisi: Glauben Sie mir, letztlich keine sehr viel andere als die Amerikaner. Die Europäer, auch Ihr Deutschen, unterstützt leider Israel im Kampf gegen unser Volk.

Die Religion spielt eine entscheidende Rolle für Hamas, anders als für die eher nationalistisch orientierte PLO?

Rantisi: Der entscheidende Unterschied ist, daß die Religion uns verbietet, Land unseren Feinden zu überlassen. Und zwar konsequent.

Die Religion diktierte also den heiligen Krieg gegen die Israelis?

Rantisi: Gegen die Besatzer! - Gegen jeden Okkupanten.

Zunächst entstand im Iran die Hisbollah, dann in Palästina Hamas und Dschihad Islami, schließlich übernahmen in Afgahnistan die Taliban die Macht. Sehen Sie das Heranwachsen einer weltweiten islamischen Bewegung?

Rantisi: Wir können dies in der Tat als das Heranreifen eines panislamischen Staates betrachten. Wenn auch heute noch niemand sagen kann, wann dieser Staat wirklich entstehen wird. Aber was heute noch unscheinbar erscheinen mag, ist eine Art Fokus, der die Entwicklung in diese Richtung bündelt.

 

Dr. Abdel Aziz Rantisi geboren 1947 in Yabna

/ Palästina. Nach dem Krieg von 1948 flüchtete seine Familie in den Gaza-Streifen. Rantisi studierte Medizin im ägyptischen Alexandria und kehrte 1976 in den Gaza-Streifen zurück, um in einem Krankenhaus zu arbeiten. 1987 gründete er mit einigen Aktivisten die islamische Widerstandsbewegung Hamas. 1988 bis 1990 verbrachte er in Haft. 1992 transportierte man ihn mit 400 anderen Hamas- und Dschihad- Islami-Aktivisten nach Süd-Libanon. Nach seiner Rückkehr wurde er erneut festgenommen und blieb bis Mitte 1997 inhaftiert. Heute ist er Sprecher des politischen Flügels der Hamas im Gaza-Streifen.

 

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