© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/01 17. August 2001

 
Vielfalt ist Reichtum
Globalisierung zerstört verwurzelte Identitäten - und schafft neue
Alain de Benoist

Die Globalisierung vereinigt die Welt, aber sie vereinigt sie nicht auf beliebig. Sie vereinigt sie durch die globale Verteilung all derer, die kaufen und verkaufen, also durch den Austausch von Waren oder die Entwicklung der Finanzmärkte. Sie verwirklicht so die seit jeher vorhandene Tendenz des liberalen Kapitalismus, der keine anderen Grenzen kennt als die des Geldes und kein anderes Gesetz als das des sich stets kontinuierlich vergrößernden kurzfristigen maximalen Profits.

Angesichts der durch die Globalisierung eingeleiteten weltweiten Angleichung ist es verführerisch, die bis heute auf der Welt weiterbestehenden kollektiven, volklichen oder kulturellen Identitäten als Argument zu nehmen, dieser riesigen Bewegung der Entwurzelung der Kulturen zugunsten eines allein dominierenden Modells Einhalt zu gebieten. Eine völlig berechtigte Haltung, vorausgesetzt, daß man sich im klaren bleibt über die eigentliche Natur der Globalisierung sowie über die Definition von Identität.

Zunächst einmal gilt es zu begreifen, daß die Globalisierung, wie der Großteil aller historischen Erscheinungen, kein eindimensionales Phänomen ist. Sie ist eher eine dialektische Entwicklung. In dem Maße, wie sie sich mit immer größerer Macht durchsetzt, provoziert sie umgekehrt Reaktionen, die in die entgegengesetzte Richtung laufen. Je mehr die Globalisierung Wirklichkeit wird, desto mehr produziert sie ihr eigenes Gegenteil. Es läßt sich durchaus behaupten, daß sie die kollektiven Identitäten gleichzeitig zerstört und wiederum hervorruft. Das Problem ist: es sind nicht mehr dieselben Identitäten. Die Globalisierung zerstört die verwurzelten Identitäten, die differenzierten Lebensweisen, die organischen Strukturen und erschafft sie neu - aber nur in einer rein reaktiven, verflachten und oft verkrampften Form. Die fortschreitende Vereinheitlichung der Welt geht also einher mit mit einer neuen sozialen Zertrümmerung, einer neuen Entfesselung von politischen und religiösen Fundamentalismen. Diese beiden Phänomene widersprechen sich in keiner Weise. Sie sind zwei Seiten derselben Medaille.

Identität ist das, was von allem anderen unterscheidet und gleichzeitig das, was es mit bestimmtem anderen identisch macht. Identität ist überdies nicht ein für allemal für alle und jeden gegeben. Sie beschreibt nicht das Wesen, sondern einen langsamen Prozeß der Entwicklung des Selbst, die stets auch einen Austausch mit dem Anderen voraussetzt. Identität ist nicht das, was sich niemals ändert oder sich jeder Änderung entzöge, aber etwas, was innerhalb dieser Änderungen bestehen bleibt.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, daß sogar die tradierten Identitäten im Westen im wesentlichen nur noch gewählte Identitäten sind. Wohlgemerkt: Jeder unter uns wird als Franzose, Italiener, Deutscher, Flame usw. geboren, und in diesem Sinne geht ein Teil unserer Identität uns bereits voraus. Dennoch: In dem Maße, wie die Lebensart eines Landes sich derjenigen eines anderen Landes immer mehr angleicht, verliert das Bewußtsein seiner selbst die naturgegebene Selbstverständlichkeit. Man mag sich durchaus noch seiner Wurzeln bewußt sein, aber diese sind nur noch insoweit bestimmend, als man selbst von ihnen bestimmt werden möchte. Mit anderen Worten: Die Identität von heute ist sicherlich keine Chimäre, aber doch etwas, was wir selbst wählen, ohne a priori auf sie verpflichtet zu sein. Die traditionellen Gesellschaften waren abhängige Gesellschaften, vor allem bestimmt durch ihre Vergangenheit, ihre Tradition. Die moderne Gesellschaft bildet sich autonom und ist vor allem der Zukunft, dem Fortschritt zugewandt. In der postmodernen Gesellschaft, die eine individuelle Autonomie bereits erreicht hat, gibt es keine weitere Begrenzung mehr als den gegenwärtigen Augenblick. Traditionen existieren nur noch deshalb, weil wir von Zeit zu Zeit wollen, daß sie fortbestehen. Die Traditionen hängen viel eher von uns ab als wir von ihnen. Dasselbe gilt für die Identitäten: Sie haben nur dann einen Sinn, wenn wir uns in ihnen wiedererkennen wollen oder sie anerkennen. Das, was einst ihr natürlich bindendes Wesen ausgemacht hat, ist heute verloren.

Die Globalisierung ist zunächst einmal weder gut noch schlecht: sie ist. Sie ist der Rahmen unserer gegenwärtigen Geschichte - und die Vorstellung, daß wir den Rahmen auch verschwinden lassen könnten, entbindet von der Utopie. Zudem ist die wichtigste Frage weniger, wie man gegen die Globalisierung kämpfen kann, sondern, wie man es einrichten kann, daß das Ergebnis dieser Globalisierung nicht die Entwurzelung der Kulturen und die Verflachung der Vielfalt ist.

Das Prinzip der Unterschiedlichkeit ist per definitionem ein allgemeines Prinzip. Der Vereinheitlichung der Welt eine ethnozentristische Verzerrung gegenüberzustellen, hieße, in einen politischen oder geopolitischen Autismus zu verfallen, nach dem Motto: „Wir leben in unserem Bunker, der Rest der Welt interessiert uns nicht“. Tatsächlich handelt es sich darum, der Globalisierung einen anderen Inhalt zu geben. Es handelt sich darum, dafür zu sorgen, daß sie nicht in eine Welt mündet, die zentral geplant und genormt ist, sondern die von dem Prinzip ausgeht, daß die Vielfalt der Welt ihr wahrer Reichtum ist, was uns die Pflicht auferlegt, daß wir sie unseren Kindern nicht weniger reich, weniger vielfältig hinterlassen, als wir sie selbst ererbt haben.


 
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