© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/01 27. Juli / 03. August 2001

 
Genosse Stalin soll überrascht gewesen sein
Ein neues Buch zum "Unternehmen Barbarossa", das Schlüsseltexte verschweigt und Fakten virtuos umdeutet
Ernst Topitsch

Der bekannte israelische Histori ker Gabriel Gorodetsky prä sentiert hier ein Buch, dessen zentrale Thesen längst wissenschaftlich überholt waren, als der Autor es niederschrieb. Doch noch schlimmer: Die hier aufgestellten Behauptungen beruhen an entscheidenden Punkten darauf, daß Schlüsseltexte , die dem Verfasser bekannt sein mußten, in provozierender Weise verschwiegen oder störende Fakten uminterpretiert werden. Nur so läßt sich heute noch die längst erledigte Behauptung vertreten, die Sowjetunion habe eine defensive, bloß auf Wahrung ihrer Sicherheitsinteressen bedachte Politik betrieben und Stalin habe sich ernstlich um ein längerfristiges Appeasement mit Hitler bemüht und daher wichtige Vorsichtsmaßnahmen gegen den deutschen "Überfall" unterlassen.

Inzwischen hat sich aber sogar in dem politisch so korrekten Deutschland die Nebel im historischen Gedächtnis so weit gelichtet, daß neben den obligaten Beifallssalven auch Kritik geäußert wurde, deren Ton von höflich-distanzierter Skepsis (K. Hildebrand, FAZ , 13. Februar) bis zu hartem Zupacken (M. Klonowski, Focus Nr. 10/01) reicht. Ja, selbst die politisch überkorrekte Bianka Pietrow-Ennker kann die massive Quellenunterdrückung Gorodetskys nicht völlig übergehen: "Die für die sowjetische Expansionspolitik relevanten Quellen (selbst publizierte Reden Stalins) werden nicht herangezogen". Zum Schluß erfolgt freilich der Kniefall: "Es sollte nicht verschwiegen werden, daß wir über Stalins Kriegspläne, die er vor dem deutschen Überfall hegte, nichts wissen, weil es darüber bislang keine Quellen gibt" (Die Zeit , 29. März 2001).

Daß es darüber längst eine umfangreiche und gut fundierte Literatur gibt, die neuerdings – siehe J. Rohwer/M. Monakov: The Soviet Union‘s Ocean-Going Fleet, 1935-1956, in: The International History Review, XVIII, 4. November 1996) – durch das Bekanntwerden von Stalins monströsem Flottenbauprogramm eine geradezu dramatische und für das Gesamtverständnis der sowjetischen Weltmachtpolitik hochbedeutsame Ergänzung erfahren hat, enthält die Rezensentin dem Leser vor. Ein Sittenbild nicht nur der "Zeitgeschichte".

Immerhin enthält das aufgrund umfangreicher Quellenstudien zustandegekommene Werk auch eine Fülle bisher unbekannter oder nur mangelhaft bzw. überhaupt nicht berücksichtigter Details zumal hinsichtlich der Balkanpolitik 1940/41, wo sich die Interessen Rußlands, Englands, Deutschlands und Italiens überkreuzten. So eröffnet das Buch einen guten Einblick in die diplomatischen Schach- und Winkelzüge der beteiligten Mächte, wobei es den Deutschen schließlich gelang, diesen für sie kriegswirtschaftlich wichtigen Raum unter ihre Kontrolle zu bringen, was aber auch eine schwere Belastung ihrer Beziehungen zur Sowjetunion bedeutete. Dabei widmet sich der Autor auch ausführlich den Bemühungen Moskaus um eine effektive Kontrolle der türkischen Meerengen, die sich vor allem gegen eventuelle englische Flottenoperationen im Schwarzmeerraum richtete. Überhaupt stand Stalin den Briten mit äußerstem Mißtrauen gegenüber und verdächtigte sie stets des Zusammenspiels mit den Deutschen – besonders auch im Zusammenhang mit dem mysteriösen Flug von Rudolf Heß. Gorodetsky zeigt aber aufgrund einer sorgfältigen Auswertung der verfügbaren Unterlagen, daß dieser Verdacht unberechtigt war und London das spektakuläre Ereignis nur auszuwerten suchte, um einer befürchteten engeren Zusammenarbeit zwischen Berlin und Moskau entgegenzuwirken. Doch Stalin war nach Auffassung des Autors nur bemüht, sich nicht durch England in einen vorzeitigen Krieg mit Deutschland verwickeln zu lassen.

Mit der Bezugnahme auf den tiefen, bis weit in das 19. Jahrhundert zurückreichenden Gegensatz zwischen England und Rußland, der nach 1917 noch durch den zwischen Kapitalismus und Kommunismus verschärft wurde, hätte sich Gorodetsky ein guter Zugang zur russischen bzw. sowjetischen Weltmachtpolitik geboten. Leider hat er diesen unter dem Einfluß des Dogmas von der defensiven Grundeinstellung Moskaus nicht benützt.

Doch dieses Dogma ist nur mehr halbwegs glaubhaft, wenn so massiv Quellen und Fakten selektiert und unterdrückt werden, wie dies der Autor betreibt. Wir erfahren daher nichts von dem grundlegenden Konzept einer Langzeitstrategie zur Unterwerfung der "kapitalistischen" und "imperialistischen", also noch nicht dem Kommunismus unterworfenen Welt, das Lenin bereits 1920 entworfen hat. In einem zweiten "imperialistischen Krieg" sollten die "kapitalistischen Staaten" einander zum Vorteil der Sowjetunion zerfleischen. Vor allem sollte Deutschland von den Westmächten getrennt gehalten und schließlich in einen Krieg mit ihnen verwickelt werden. Stalin hat dann mit seinem berühmt-berüchtigten Pakt vom 23. August 1939 genau in diesem Sinne gehandelt und wesentlich zur Entfesselung des Zweiten Weltkriegs beigetragen.

Wir erfahren auch nichts von dem erwähnten gigantischen Flottenbauprogramm, das 1935 unter Stalin inauguriert wurde und bis 1947 die Sowjetunion zur stärksten Seemacht der Welt machen sollte und schwerpunktmäßig nur gegen die angelsächsischen Seemächte gerichtet sein konnte, die Zitadellen des "Weltkapitals" und wichtigsten Hindernisse für eine Weltherrschaft Moskaus. Als Operationsbasis kam vor allem die Atlantikküste in Frage, doch man findet in dem Buch auch kein Wort über die strategisch hochbedeutsame Tatsache, daß nach dem deutschen Sieg im Westen nur mehr die Wehrmacht zwischen jener Küste und der Roten Armee stand.

An anderen Stellen werden seltsame Umdeutungen präsentiert oder aus zutreffenden Erkenntnissen nicht die logischen Folgerungen gezogen. Beispielsweise wird aus einer teilweisen Reduktion der russischen Truppen nach dem Finnlandkrieg geschlossen, es habe damals noch keinen "master plan" gegeben, die Abnützung der Kriegführenden für Zwecke einer militärischen Expansion der Sowjets zu gebrauchen. Im Zusammenhang mit Molotows Berlin-Besuch wird richtig gesehen, daß Hitlers Tendenz zum Angriff auf die Sowjetunion, durch die die russische Unversöhnlichkeit in den Balkanfragen wesentlich verstärkt wurde, doch es taucht nirgends der Gedanke auf, daß es sich um eine kalkulierte Herausforderung gehandelt haben könnte. Besondere Schwierigkeiten bereitet natürlich die Stalin-Rede vor Militärakademikern am 5. Mai 1941 mit ihrem ausgesprochen offensiven Tenor. Gorodetsky interpretiert sie in bizarrer Weise: Sie sei bestimmt gewesen, die Deutschen von einem Angriff abzuschrecken. Warum sie dann geheimgehalten und warum der deutschen Botschaft ein unverfänglicher Text übermittelt wurde, bleibt rätselhaft. Jedenfalls aber hat sich Stalin bemüht, durch Drängen auf Verhandlungen und Vermeidung von Irritationen einen taktischen Zeitgewinn zu erreichen und den militärischen Zusammenstoß bis zum Abschluß der eigenen Vorbereitungen hinauszuschieben, der für Mitte Juli geplant war.

Die Frage, ob Stalin aus politisch-psychologischen Gründen den Deutschen den Erstschlag überlassen wollte, wird ebensowenig angeschnitten wie jene nach der strategischen Zielsetzung des Schukow-Planes. Dazu die Auffassung von Nikolai Romanitschew, einem der führenden russischen Militärhistoriker: Dieser meint, Stalin habe Hitler mit Rücksicht auf die Westmächte den Erstschlag überlassen wollen, wenn es schon nicht gelang, den Krieg überhaupt hinauszuzögern, und der Schukow-Plan habe darauf abgezielt, die in Ostpreußen und Polen entfalteten deutschen Hauptkräfte vom Hinterland abzutrennen und zu vernichten und so die deutsche Führung zur Kapitulation zu zwingen, womit übrigens auch der Weg zur Atlantikküste freigestanden hätte. Von dem globalen Konzept der sowjetischen Weltmachtpolitik in Konfrontation mit den kapitalistischen Anglo-Amerikanern ist erst recht nicht die Rede. So steht am Ende über dem wissenschaftlichen Wert dieses Buches doch ein großes Fragezeichen.

 

Gabriel Gorodetsky: Die große Täuschung. Hitler, Stalin und das "Unternehmen Barbarossa". SiedlerVerlag, Berlin 2001, 510 Seiten, 49,90 Mark

 

Prof. Dr. Ernst Topitsch: Jahrgang1919, philosophisch-philologisches Studium, unterbrochen durch Kriegsteilnahme (1939–1945), 1946 Promotion über Thukydides, 1962 Lehrstuhl für Soziologie in Heidelberg, 1968 Berufung nach Graz, veröffentlichte 1985 "Stalins Krieg".


 
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