© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/01 27. Juli / 03. August 2001

 
BLICK NACH OSTEN
Der Temelíner Kraftwerksstreit
Carl Gustaf Ströhm

Manchmal reibt sich der Chro nist die Augen: déjà vu, es ist alles schon dagewesen. Der Streit, der zwischen Berlin und Prag – fast könnte man sagen: zwischen Deutschen und Tschechen – um das Atomkraftwerk Temelín entbrannt ist, hat in erster Linie mit der möglichen Unsicherheit und der Gefahr eines neuen "Tschernobyl" 60 Kilometer östlich der deutschen Grenze zu tun.

So weit, so gut – aber das ist nicht alles. Der Brief des "grünen" Umweltministeriums, in dem Prag "eindringlich" aufgefordert wurde, das AKW zu schließen, hat die tschechische Öffentlichkeit auf die Palme gebracht. Die Formulierung "eindringlich" wecke Assoziationen an ein Ultimatum, meinte ein tschechischer Diplomat. Und ein tschechischer Regierungssprecher sagte spitz, Prag werde sich in der Temelín-Frage "sicher nicht nach Österreich oder Deutschland richten". Die österreichische Regierung protestiert seit geraumer Zeit gegen das grenznahe AKW und österreichische Demonstranten veranstalten öfters (von der Wiener Regierung geduldete) – Straßenblockaden an den Grenzübergängen zum Nachbarland.

Hinter dem Spektakel wird die ganze Komplexität der deutsch-tschechischen Beziehungen sichtbar. Da aber sind wir schon beim déjà vu: in den Augen der tschechischen Öffentlichkeit und der Regierung hat sich ausgerechnet der linke Jürgen Trittin mit seiner internationalistisch-kommunistischen Vergangenheit "typisch deutsch" verhalten: Ohne die geringste Sensibilität fordert er wie ein gestrenger Vater seinen halbwüchsigen Sohn, die Tschechen, "eindringlich" auf, ein AKW zu schließen, in das sie nicht nur materiell, sondern prestigemäßig ihren ganzen Stolz gesteckt haben.

Die "linke" deutsche Seite versteht auch das Dilemma der Tschechen nicht: Bislang wurde Strom mittels in Böhmen (wie in der Ex-DDR) reichlich vorhandener Braunkohle gewonnen. Die Folge war exzessives Waldsterben in Nordböhmen (und im Erzgebirge), wo sich ganze Landstriche durch Abgase in Mondlandschaften verwandelten. Anders als den zum Teil hysterisierten Deutschen erscheint vielen Tschechen "saubere" Kernkraft als Rettung. Hier stoßen also zwischen dem "linksregierten" Berlin und dem eher "halblinksregierten" Prag diametrale Gegensätze aufeinander.

Aber man muß vielleicht noch mehr in die Tiefe gehen. Zwischen Deutschen und Tschechen herrscht seit den Tagen, als der Prager Prediger und Uni-Rektor Johannes Huß (Jan Hus) 1415 in Konstanz als Ketzer verbrannt wurde, gegenseitiges Mißtrauen und Nichtverstehen, das gelegentlich – meist von tschechischer Seite – in offenen Haß umschlägt: den Haß des Kleineren, Schwächeren gegenüber einem übermächtigen Nachbarn. Alles Versöhnungsgerede der letzten Jahre täuscht nicht darüber hinweg, daß die große Mehrheit der Tschechen die Vertreibung der Sudetendeutschen 1945 auch heute für gut und notwendig hält.

Trotz gemeinsamer Historikerkommissionen leben Deutsche und Tschechen auch heute noch nebeneinander her. Prag gilt den meisten deutschen Touristen als Ausflugs- und Amüsierkulisse. Die tschechischen Tourismusbediensteten betrachten die Deutschen als Zahler, die man gelegentlich ausnehmen muß. Der brave Soldat Schwejk läßt grüßen! Die Sudetendeutschen aber stellen unbeirrt ihre Forderungen – doch kaum einer von ihnen würde wirklich mit den Tschechen zusammenleben wollen. Die Geschichte läßt sich nicht so leicht überlisten.

Übrigens – gegen das ungarische Donau-AKW Paks (unweit von Budapest) protestiert man weder in Berlin noch in Wien.
 
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