© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/01 20. Juli 2001

 
Gespenstische Szenerie
Das Urheberrecht am "Aufstand der Anständigen" liegt bei Gregor Gysi
Elvira Seidel

Es gilt, einen Irrtum auszuräu men. Nicht Gerhard Schröder gebührt das Copyright am "Aufstand der Anständigen", sondern Gregor Gysi, Hans Modrow & Genossen. Die Kampfdemonstration gegen Faschismus, die am 9. November 2000 von höchsten Stellen am Brandenburger Tor veranstaltet wurde, hatte nämlich einen Vorläufer. Am 3. Januar 1990 zelebrierte die alt-neue SED/PDS-Führung vor der pompösen Kulisse des Sowjetischen Ehrenmals in Berlin-Treptow eine Massenkundgebung gegen "Rechts", die mit genausoviel Pathos, leuchtenden Augen und Selbstergriffenheit über die Bühne ging wie die im Herbst 2000.

Das war in den letzten Dezembertagen 1989 die Lage: Das Brandenburger Tor war offen, die SED hatte Egon Krenz in die Wüste geschickt, die DDR blutete trotzdem weiter aus, ihre ratlose Führung verfügte über keinerlei Konzept oder Staatsidee, um den amorphen Staatskörper zusammenhalten. In dieser Situation wollte die Modrow-Regierung ein "Amt für Nationale Sicherheit" (Nasi) etablieren, eine Light-Version des offiziell aufgelösten Staatssicherheitsministeriums (Stasi). Der Plan erwies sich angesichts der Stimmung im Land als undurchführbar.

Da traf es sich gut, daß am Morgen des 28. Dezember 1989 am Sowjetischen Ehrenmal Hakenkreuzschmierereien entdeckt wurden. Die Ermittlungsbehörden vermuteten schon nachmittags in ehemaligen Stasi-Mitarbeitern die Urheber. Mit solchen Feinheiten hielt die SED/PDS – wie sie offiziell hieß – sich gar nicht erst auf. Sie erließ umgehend einen Aufruf zur Manifestation gegen den drohenden Faschismus in Deutschland. Der intakte Herdeninstinkt ihrer Anhänger sorgte dafür, daß am 3. Januar 1990 eine sechsstellige Teilnehmernzahl nach Berlin-Treptow strömten. Das DDR-Fernsehen berichtete ausführlich. Eine böse, bedrohliche Stimmung verbreitete sich im Land.

Die Fernsehübertragung verschaffte den Zuschauern eine erste Erfahrung mit Gregor Gysi, dem damals neuen SED/PDS-Chef. Er war der Star des Abends, der Hauptredner. Mit lockender, schmeichelnder, drohender, überschnappender Stimme warnte er vor Faschismus und brauner Gefahr in Deutschland. Die Hakenkreuze am Sowjetischen Ehrenmal ließen nur eine einzige Möglichkeit zu: "Wir brauchen ein Amt für Nationale Sicherheit!" Der Ruf "Einheitsfront!" kam auf, setzte sich fort, erfüllte die Masse, vereinte sie zu antifaschistischen Volksgemeinschaft. Neben Gysi stand Manfred Gerlach, der amtierende Staatsratsvorsitzende und Chef der DDR-Liberaldemokraten, die kurz darauf in der FDP aufgingen. Ein sogenannter Bürgerlicher also und genauso ratlos und feige wie die CDU-Führung im Herbst 2000. Nach einigen Augenblicken des Zögerns stimmte auch er in den Ruf ein: "Einheitsfront!" Am nächsten Tag richtet Modrow das "Amt für Nationale Sicherheit" ein.

Der DDR-Psychoanalytiker Joachim Maazgab in seinem Buch "Gefühlsstau" (1990) eine Erklärung dieser gespenstischen Szenerie. Maaz ging noch davon aus, daß die Schmierereien von desorintierten Jugendlichen angebracht worden waren. Dennoch ist seine Deutung von bedrückender Aktualität:

"Just zu dem Zeitpunkt, wo in Rumänien die ’Klassenbrüder‘ noch schamlos mordeten, beschwor in der alten, demagogischen Weise die PDS-Spitze neue-alte Feindbilder. Man muß sich die Verhältnisse klarmachen: Die mit ernormer Schuld beladene SED war am letzten großen Massaker gerade noch gehindert worden. Sie hatte die chinesischen Verbrecher eben noch gefeiert und den mordenden Ceaucescu eben noch geküßt und hoch dekoriert, und nun ereiferte sie sich über einige Jugendliche, die Naziparolen geschmiert hatte, so heftig, als wäre dieses Delikt das Ausbund des Bösen. Kein Wort über die möglichen Hintergründe solchen Handelns, wenn Jugendliche ihren affektiven Druck und ihren Protest auf diese Weise hinausschreien. Keine Analyse der selbst verursachten Misere, denn es waren die Kinder des SED-Staates! (...) Die Wende von der SED zur PDS war ohne erkennbare ’Trauerarbeit‘ erfolgt; Namensänderung, Führungswechsel, Austritt und das Bemühen um einen demagogischen Schlußstrich sollten genügen. (...) Es ist nahezu grotesk, wie diese Partei in ihren Programmen seitdem alle anderen Gruppen an progressiven Zielen zu übertreffen sucht. (...) Als intellektuelle Leistung und an der Oberfläche der sozialen Fassade geht so etwas immer rasch, doch wie ist dies innerseelisch verwurzelt? Man könnte darüber lachen, wenn es nicht so gefährlich wäre. Was sich ’antifaschistisch‘ nannte, entlarvte sich letztlich wieder als stalinistisch-kriminell, das ’Antifaschistische‘ war nur eine Metapher, um sich selbst vor dem ’inneren Faschismus‘ zu schützen."

Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um Ulbricht oder Honecker, nicht um den 17. Juni 1953 oder den Mauerbau 1961, sondern um die "gewendete" PDS und konkret um Gregor Gysi. Noch einmal: "stalinistisch-kriminell", "demagogischer Schlußstrich", "ohne erkennbare Trauerarbeit", "neue-alte Feindbilder", "grotesk", "gefährlich", "ereifern", "innerer Faschismus".

Eine beängstigende Gedächnislosigkeit herrscht in Deutschland. Im sonst ausgezeichneten Geschichtsarchiv zur DDR-Wende, das der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg (ORB) im Oktober 2000 ins Internet gestellt hat, werden die Kundgebung vom 3. Januar 1990 und ihr demagogische Charakter natürlich erwähnt, doch der Name Gysi fehlt. Hielten es die ORB-Archivare etwa für "unanständig", an seinen Anteil zu erinnern, oder saß ihnen bei ihrer Selektion eine alte Angst im Nacken?

Immerhin schickt Gregor Gysi sich gerade an, für die PDS Regierender Bürgermeister von Berlin zu werden. Das also scheint denkbar im Land der Anständigen. Andererseits würde sein Wahlsieg tatsächlich für mehr Ehrlichkeit sorgen. Gysi würde sich das Copyright an der allgemeinen Anständigkeit, die heute im Lande grassiert, ganz offiziell zurückholen.

Demonstration am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow, 3. Januar 1990: SED/PDS-Chef Gregor Gysi (r.) hielt während der "antifaschistischen" Kundgebung mit 250.000 Teilnehmern eine Rede


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen