© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/01 20. Juli 2001

 
"Sie waren deutsche Patrioten"
Der ehemalige Generalinspekteur Klaus Naumann über den 20. Juli und dessen Bedeutung für die Bundeswehr
Moritz Schwarz

Herr Naumann, welche Bedeutung hat der 20. Juli für Sie persönlich?

Naumann: Im 20. Juli wird die Auseinandersetzung zwischen Gewissen und Gehorsam deutlich. Der Soldat ist verpflichtet, seinem Soldateneid entsprechend treu zu dienen, das schließt den Gehorsam mit ein. Über diese Pflicht zum Gehorsam hinaus gibt es eine ethisch begründete Bindung an das Gewissen. In einer Demokratie wie der unsrigen wird natürlich diese Spannung zwischen Gehorsam und Gewissen aller Voraussicht nach nicht auftreten.

Weist dieses Beispiel nicht darauf hin, daß das Soldatsein in seiner geistigen und seelischen Dimension hohe Anforderungen an Charakter und Sittlichkeit eines Menschen stellt?

Naumann: Das meine ich schon, der Soldat übernimmt mit seinem Eid die Verpflichtung, mit seinem Leben für sein Land, dessen Freiheit und dessen Rechte einzustehen. Soldat zu sein bedeutet eine Verpflichtung zu übernehmen, wie sie – mit Ausnahme des Polizeidiensts vielleicht – kein anderer Beruf kennt. Man erkennt das als junger Soldat, das gebe ich gerne zu, erst später: Als ich mit neunzehn Jahren den Eid geleistet habe, ist mir die ganze Tragweite auch noch nicht bewußt gewesen.

Welche Bedeutung hat der 20. Juli für die Bundeswehr?

Naumann: Der Modellcharakter des 20. Juli, also der Zwiespalt zwischen Gehorsam und Gewissen, und daraus abgeleitet, daß es auch für den Soldaten eine letzte ethische Bindung gibt, ist erst im Laufe der Jahre erkannt worden. Hier hat die Bundeswehr einen gewaltigen Schritt nach vorne getan. Heute sind die Männer und Frauen des 20. Juli Vorbilder für unsere Offiziere und Unteroffiziere.

Die Soldaten des 20. Juli waren Soldaten der Wehrmacht und handelten in der Mehrzahl dezidiert als solche. Muß die Bundeswehr also nicht die Tradition der Wehrmacht anerkennen, wenn sie sich auf den 20. Juli berufen will?

Naumann: Nein – das ist zu pauschal formuliert. Ich habe als Generalinspekteur in einem Generalinspekteursbrief zum 20. Juli und später zum fünfzigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs deutlich herausgestellt, daß die Soldaten der Wehrmacht, die ehrenhaft gehandelt haben, als Personen für die Soldaten der Bundeswehr durchaus Vorbildcharakter haben können. Es gab aber auch solche, die schuldig geworden sind, und diese sind als Vorbilder inakzeptabel. Deshalb kann die Wehrmacht insgesamt auch nicht als Vorbild für die Bundeswehr dienen.

Was zählt denn mehr: Die Verbrechen, die auch den Schild der Wehrmacht beflecken, oder der Glaube Stauffenbergs, von Tresckows und vieler anderer an die Ehre des deutschen Soldaten, der den 20. Juli überhaupt erst möglich machte? Nach christlicher Überzeugung wiegen zehn Gerechte Sodom und Gomorrah auf.

Naumann: Eine solche Abwägung würde ich nicht anstellen. Die Wehrmacht, das sind achtzehn Millionen Deutsche gewesen. Die Mehrheit dieser Soldaten hat im guten Glauben gekämpft, für ihr Land zu handeln. Sie sind mißbraucht worden, Opfer geworden – etliche unter ihnen sind aber eben auch Täter geworden. Die Wehrmacht hat als Truppe Vorzügliches geleistet. Deshalb wird sie auch vor allem im Ausland zumeist respektiert und ihre Leistungen als vorbildlich dargestellt. Das macht aber die Verbrechen, an denen Soldaten der Wehrmacht beteiligt waren, nicht ungeschehen.

War die Wehrmacht eine deutsche Armee?

Naumann: Natürlich.

Wenn sie eine deutsche Armee war, dann kann sie nicht mehr oder weniger schuldig geworden sein als Deutschland selbst.

Naumann: Ich glaube nicht, daß man der Wehrmacht mehr Schuldvorwurf als Deutschland als Ganzem machen kann. Man darf nur nicht verhehlen, daß ein verbrecherisches Regime Deutschland in die dunkelste Stunde seiner Geschichte geführt hat.

Natürlich stehen wir als Deutsche in der Kontinuität unserer eigenen Geschichte, mit Licht und auch den Schatten des Dritten Reiches. Nur die Wehrmacht scheint aus dieser Kontinuität "herausgeschnitten" und ganz im Schatten zu stehen.

Naumann: Wir machen da keinen Schnitt. Auch wenn wir Nachgeborene nicht schuldig geworden sind, so haben wir dennoch die Last der Geschichte zu tragen und haben daraus die Verantwortung zu entwickeln, daß durch das Handeln Deutschlands und deutscher Manschen nie wieder ähnliches wie zur Zeit des Nationalsozialismus geschehen kann.

In den neunziger Jahren wurden zahlreiche Traditionsräume der Bundeswehr leergeräumt, alte Soldatenlieder wurden zensiert, verboten oder umgedichtet, Kasernen umbenannt.

Naumann: Ich halte generell nichts von Bilderstürmerei – in keiner Phase der Geschichte. Ich habe auch diesen Befehl des Ministers Rühe – der zudem noch oftmals eifrig, manchmal gar übereifrig ausgeführt wurde – nie für sehr glücklich gehalten. Ich denke nur an den Fall der Entfernung des Bildes eines Regimentskommandeurs, der Führer eines Vorgängerverbandes eines Truppenteils der Bundeswehr war, nur weil er zuvor Offizier der Wehrmacht gewesen ist. Dafür habe ich kein Verständnis.

Wie beurteilen Sie die NVA? – War sie eine deutsche Armee?

Naumann: Ja, die NVA war sicher eine deutsche Armee. Dennoch kann man sie nicht der Bundeswehr gleichsetzen, denn sie diente einem Staat, der nicht als Rechtstaat bezeichnet werden kann, und sie war in erheblichem Maße eine Armee der Partei. Weit mehr, als die Wehrmacht jemals Armee der NSDAP gewesen ist – wenn sie das überhaupt war.

Waren die Soldaten der NVA ebenfalls deutsche Patrioten?

Naumann: In ihren Reihen dienten zweifellos eine Reihe von Männern, die vermutlich mit durchaus ehrenwerten Motiven ihrem Staat dienten. Aber angesichts des Unrechtsstaates DDR und des starken internationalistischen Charakters, den die Ideologie dieser Armee hatte, möchte ich doch hinterfragen, ob sie deutsche Patrioten genannt werden können.

Wofür sind die Männer des 20. Juli gestorben?

Naumann: Sie wollten den Krieg beenden, sie wollten die Zerstörung Deutschlands verhindern, sie wollten dieses Regime beseitigen und Deutschland zurückführen in den Kreis der zivilisierten Nationen.

Ein Mann wie Ewald von Kleist-Schmenzin wollte Krieg und Unrecht beenden; Stauffenberg in erster Linie das Reich retten.

Naumann: Stauffenberg wollte die Integrität Deutschlands wahren und es unversehrt aus dem Krieg herausführen. Da ist in der Tat in der Gewichtung der Ziele ein Unterschied etwa zu der von Kleist-Schmenzins festzu-
stellen.

Stauffenberg war Kopf und Motor der Verschwörung, und er war der Mann des Attentats. Warum wird heute bei der Rezeption – bei der Stauffenberg nach wie vor im Mittelpunkt steht – als Kern des 20. Julis stets der kleistsche "Aufstand des Gewissens" statt der stauffenbergschen "Rettung des Reiches" dargestellt?

Naumann: Das Bemerkenswerte ist sicherlich das Überwinden des Gehorsams und die Zuwendung zu der Verantwortung gegenüber dem Gewissen. Von daher ist die Charakterisierung als "Aufstand des Gewissens" vorzuziehen. Dennoch haben Sie unzweifelhaft recht, daß einige Männer des 20. Juli das Ziel hatten, ihr Land territorial und politisch zu bewahren und zu verhindern, daß Deutschland in Folge des Krieges zerschlagen werden würde. Das waren Männer, die sich nicht nur an ihr Gewissen gebunden fühlten, sondern auch deutsche Patrioten waren.

Die Bundeswehr kämpft heute nach ihrem Selbstverständnis für Frieden, Freiheit und Sicherheit in aller Welt. Welche Rolle spielt der patriotische Faktor, also das Vaterland und dessen Verteidigung, für die Bundeswehr?

Naumann: Der Eid des Soldaten verpflichtet zunächst dazu, "der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen". Insofern ist schon dadurch eine klare Beziehung zu Deutschland hergestellt. Daß Soldaten der Bundeswehr außerhalb Deutschlands eingesetzt werden, dient der Zielsetzung, Risiken von Deutschland fernzuhalten, und ist damit indirekt auch eine Form der Landesverteidigung.

Die Bundeswehr ist also immer noch eine Nationalarmee und keine Streitmacht "die den Völkern Frieden bringt", wie das Brigadegeneral Wolf-Dieter Löser im Gespräch mit dieser Zeitung formulierte?

Naumann: Es gibt meines Wissens nach keine Streitmacht der Welt, die nicht letzlich dazu da ist, die Interessen des eigenen Landes oder der Bündnisse, denen das eigene Land angehört, zu schützen. Das ist das letzte Ziel, das die Politik der Armee vorgibt. Wo und wie das auszuführen ist, das entscheidet die Politik.

Warum sind Sie 1958 Soldat geworden – was war Ihr erster Gedanke dabei?

Naumann: Mein erster Gedanke war nicht, Soldat zu werden. Ursprünglich wollte ich Archäologie studieren. Doch als junger Mann haben die Ereignisse in Ungarn 1956, die Hilflosigkeit, mit der wir zusehen mußten, wie ein Volk niedergewalzt wurde, einen Prozeß des Nachdenkens eingeleitet, der mich Soldat werden ließ. Ich wollte dazu beitragen, zu verhindern, daß es uns genauso gehen würde.

Der patriotische Faktor spielt heute eine immer geringere Rolle. Vor allem Angehörige ausländischer Streitkräfte wundern sich über die ausgesprochene nationale Laxheit in der Bundeswehr.

Naumann: Die anderen Staaten haben – trotz dunkler Flecken – eine ungebrochene Geschichte. Diese Staaten haben nicht erlebt, daß ihre Streitkräfte zweimal hintereinander in einem Jahrhundert für Angriffskriege mißbraucht worden sind, die nicht gebilligt werden können. Hinzu kommt die Verstrickung von Soldaten und einzelnen Truppenteilen in Verbrechen des Nazi-Regimes. Das ist das Besondere an Deutschland.

Irritierend bleibt dennoch, daß wer sich mit glühendem Patriotismus und Opferbereitschaft in der Bundeswehr einzubringen versucht, sich suspekt macht. Statt mit dem 20. Juli identifiziert zu werden, wird man bizarrerweise dessen verdächtigt, was Stauffenberg bekämpft hat.

Naumann: Wir neigen sicherlich dazu, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wenn jemand mit besten Absichten – voll auf dem Boden unseres Grundgesetztes stehend und für dessen Ideale eintretend – bekennt, daß er stolz auf dieses Land ist, daß er stolz ist, Deutscher zu sein, wird er gelegentlich von einigen Übereifrigen sofort in die rechte Ecke verbannt. Ein Teil des Phänomens des Rechtsradikalismus, das wir in Deutschland leider haben, ist aber darauf zurückzuführen, daß diese irregeleiteten Jugendlichen in Deutschland keine Leitbilder gefunden haben, die es ihnen erlauben, sich mit unserem Staat zu identifizieren, und sie dazu bringen, dem Staat zu dienen. Ein bißchen mehr Stolz auf Deutschlands Leistungen, ein bißchen mehr Patriotismus würde uns in diesem Land nicht schaden.

Stauffenberg war das Soldatsein Berufung. In der Bundeswehr hat die Job-Mentalität schon überwiegend Raum gegriffen. Das Verständnis eines exklusiven Offizierskorps, nicht als Privilegien-Träger, sondern als Träger der Verantwortung für Vaterland und Sittlichkeit, existiert nicht mehr. Ist Soldatsein heute Beruf statt Berufung?

Naumann: Das Soldatsein wird vermutlich von einer großen Zahl an Offizieren in der Bundeswehr tatsächlich als Beruf gesehen, wahrscheinlich sogar als ein Beruf wie jeder andere. Ich glaube nicht, daß das ein Verständnis ist, das letztlich der Belastung, die der Einsatz bringen kann, standhält. So gesehen, muß die sittliche Verpflichtung, Verantwortung für etwas zu übernehmen, doch immer wieder im Mittelpunkt desjenigen stehen, der sich für diesen Beruf entscheidet.

Hängt dieser Verfall des soldatischen Ethos damit zusammen, daß der abstrakte "Verfassungspatriotismus" der Bundeswehr an die Stelle des unmittelbaren Verständnisses der "Vaterlandsverteidigung" getreten ist?

Naumann: Die Tatsache, daß wir nur sehr schwer definieren können, was uns wirklich bedroht, ist ein Problem. Die Welt ist komplizierter geworden. Instabilität ist etwas schwer Faßbares. Stabilität erscheint nach kurzer Zeit stets selbsverständlich und keiner besonderen Pflege zu bedürfen.

Stauffenberg und seine Kameraden verpflichteten sich am 3. Juli 1944 in einem gemeinsamen Schwur, den Kampf um Deutschland auch nach der Besetzung gegen die Alliierten fortzusetzen. Warum wird das immer verschwiegen?

Naumann: Diese Männer wollten die Integrität Deutschlands bewahren und den Krieg beenden. Sie sahen in der Beseitigung Hitlers dazu den Weg. Sie wußten aber, daß dazu dann auch die Bereitschaft der Alliierten gehörte. Wäre diese nicht vorhanden gewesen, wären sie natürlich dazu bereit gewesen, die Verteidigung Deutschlands fortzusetzen, bis man einen vernünftigen Frieden erreicht hätte. Das sehe ich als eine logische Kette.

Irritierend bleibt, daß sowohl die Intention Stauffenbergs – Rettung des Reiches – wie auch dessen Bereitschaft, den Kampf um Deutschland fortzusetzen, bei der Präsentation des 20. Juli durch die Bundeswehr unterschlagen wird.

Naumann: Es wird in den Unterlagen, die den Einheitsführern zum 20. Juli an die Hand gegeben werden, nicht verschwiegen, daß Stauffenberg entschlossen war, die Verteidigung Deutschlands fortzusetzen. Im Vordergrund steht aber die unendlich schwere Belastung, die der Zwiespalt zwischen Eid und Gehorsam für diese Männer darstellte.

Manche Frontsoldaten sind heute noch der Ansicht, die Verschwörer seien "der kämpfenden Truppe in den Rücken gefallen".

Naumann: Man muß mit denjenigen, die diese Ansicht vertreten, intensiv und gründlich sprechen und versuchen, ihnen klarzumachen, daß an einem Punkt sich ihre Ziele und die der Verschwörer des 20. Juli trafen, nämlich einen Weg zu finden, mit dem man Deutschland so unbeschädigt wie möglich aus diesem Krieg würde herausführen können. Man muß aber vor allem deutlich machen, daß das Regime mit seinen Verbrechen seinen Teil der Eidesverpflichtung gebrochen und damit die Verantwortung gegenüber den Soldaten aufgekündigt hatte. Es war somit das Regime, das Deutschland verraten hatte.

Ehrenwache der Bundeswehr im Bendlerblock, der Hinrichtungsstätte Stauffenbergs: "Vorbild für unsere Offiziere"

 

General a.D. Klaus Naumann geboren 1939 in München, trat er im Oktober 1958 in die Bundeswehr ein. Nach der Ausbildung zum Offizier und verschiedenen Verwendungen im Truppendienst (Panzerartillerie) folgte von 1970 bis 1972 eine Generalstabsausbildung. Von 1991 bis 1996 war er Generalinspekteur der Bundeswehr, danach Vorsitzender des Nato-Militärausschusses ("Chairman Military Committee"), des wichtigsten militärischen Beratungsorgans der Nato, in Brüssel. 1999 nahm er seinen Abschied.

 

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