© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/01 13. Juli 2001

 
Fliegen ist endlich schöner
Deutsche Bahn: Die Tarifreform bringt fast allen Fahrgästen nur Nachteile / Irrwitzige Umtauschbürokratie droht
Jörg Fischer

Zu günstigen Preisen reisen ab Herbst 2002 nur noch jene Bahnkunden, deren Leben in einem starren Gerüst verläuft: Mindestens sieben Tage im voraus sollen die Fahrgäste ihre Hin- und Rückreise "buchen". Die Fahrkarte gilt dann jeweils nur für einen bestimmten Zuglauf. Wer die jeweiligen Züge verpaßt, dessen Fahrkarte ist unwiderruflich verfallen – oder ein saftiger Preisaufschlag und eine nervige Umtauschprozedur am (überlasteten) Fahrkartenschalter wird fällig. Wer, wie seit mehr als einem Jahrhundert üblich, Bahn fahren will – Fahrkarte kaufen und einsteigen –, zahlt in einem Jahr mindestens 25 Prozent mehr! Bislang wurden Stammkunden der Deutschen Bahn AG (DB) durch die (in der 2. Klasse) 270 Mark teure Bahncard mit einem Rabatt von 50 Prozent belohnt – egal, ob die Fahrkarte einen Monat oder eine Minute vor Abfahrt gekauft wurde. Nach dem neuen Tarifkonzept kostet die Bahncard zwar nur noch 117,35 Mark (60 Euro, 1. Klasse: 150 Euro), dafür fällt der Rabatt auf 25 Prozent. Wer weniger als 140 Kilometer fährt, bekommt nicht einmal den "Frühbu-cherrabatt". Mehr als 70 Prozent der Bahnreisenden fahren solche Strecken und müssen bald 50 Prozent mehr bezahlen!

Die Bahn konkurriert hauptsächlich mit Auto und Flugzeug. Der eigene Pkw ist ständig abfahrbereit, einen Fahrplan gibt es nicht. Das Flugzeug ist – auf längeren Strecken – insgesamt zwar schneller, aber an einen starren Flugplan und eine Vorausbuchung gebunden. Ist das Flugzeug ausgebucht, ist kein Mitfliegen möglich. Um von diesen Verkehrsmittel neue Bahnkunden abzuwerben, muß die Bahn nicht nur billiger, bequemer und schneller, sondern auch flexibler sein. Diese Vorteile verliert die Bahn durch die angekündigte "Tarifreform" – spontanes Reisen wird mindestens 25 Prozent teurer –; ein Ändern der Reisewünsche, sei es aus privaten oder beruflichen Gründen, wird zu einem unangenehmen bürokratischen Akt. Wer einmal die Prozedur einer Fahrgeldrückerstattung "erleben" durfte, will nie wieder etwas mit Bahnbürokraten zu tun haben.

"Bei Sonderpreisen bestimmen die Bahnkunden selbst den Preis", wirbt die DB – das ist glatt gelogen! Die Reisenden werden zwar versuchen, rechtzeitig zu buchen, um den Preisvorteil von bis zu 55 Prozent zu bekommen, doch für Frühbuchungs-Rabatte stehen nur eingeschränkte Platz-Kontingente zur Verfügung, und die Frühbuchungspreise werden nur in begrenzter Zahl gewährt: "Solange der Vorrat reicht" – so die Bahn süffisant. Der Bahnkunde ist den DB-Computerprogrammen ausgeliefert, der Zentralrechner "entscheidet", ob sich noch ein preisgünstiger Fahrschein findet oder letztlich die teureren Preise zu berappen sind. Außerdem "darf" die Rückfahrt "frühestens am Sonntag nach der Hinfahrt liegen", so heißt es im besten Bürokratendeutsch. Kurz gesagt: Die Flexibilität bei der Nutzung der Bahn geht verloren. Müssen nun die teureren Preise bezahlt werden, dann ist die Entscheidung für Auto oder Flugzeug um so leichter – die Umwelt wird sich "bedanken".

"Wer früh bucht, spart bares Geld", verspricht das DB-"Marketing". Gerade mal fünf Prozent im Vergleich zum bisherigen Bahncard-Preis können bestenfalls gespart werden – vorausgesetzt, der Bahnkunde bringt Zeit und Nerven mit und unterwirft sich dem Buchungskorsett. "Mit dem neuen Preissystem wird die Bahn im Fernverkehr erstmals die Möglichkeit zur Auslastungssteuerung haben. Damit werden die Züge gleichmäßiger ausgelastet, überfüllte Züge weitestgehend vermieden und so der Komfort für Bahnreisende um ein Vielfaches erhöht" – doch auch das ist wirklichkeitsfremd. "Überfüllte Züge" wird es weiterhin geben, denn die Arbeitswoche beginnt auch nach der DB-Reform am Montag und endet am Freitag. Zu Spitzenzeiten wegen "Frühbuchern" mehr Sitzplätze zur Verfügung zu stellen ist inzwischen schlicht unmöglich – an die ICE-Triebzüge lassen sich keine zusätzlichen Wagen ankuppeln. In Doppel- oder Dreifachtraktion zu fahren ist ebenfalls kaum möglich, dazu reichen weder der Fahrzeugpark noch die Bahnsteiglängen aus! Fernpendler mit Rabatten auf schwach ausgelastete Züge zu verweisen ist illusorisch: Weder die Familien noch die Arbeitgeber richten ihr Leben nach der DB ein – Feiertage oder Kuraufenthalte ebensowenig. "Den Komfort für Bahnreisende um ein Vielfaches erhöht" hat die Bahn nur in der Theorie: Äußerlich wirken die Triebzüge modern, doch speziell die neuen ICE-T ("Pendolinos") sind viel unbequemer als die bisherigen InterRegios oder IC-Züge. Die jahrzehntelang eisenbahntypischen, bequemen und geselligen Abteile gibt es prinzipiell nicht mehr, die 2+2-Sitzreihen in den "Großraumwagen" sind so eng und "thromboseträchtig" wie im Flugzeug, das Platzangebot ist in jeder Hinsicht eingeschränkt. Zwischen den Sitzreihen ist ein ständiges Kommen und Gehen. Das Gepäck muß nicht verschließbaren, unbeaufsichtigten Regalen "anvertraut" werden. Dafür kostet das Mitfahren mehr: ICE-Zuschlag ist fällig – Tarifreform hin oder her.

"Die von der Deutschen Bahn geplante Abschaffung der Bahncard in ihrer bisherigen Form bedeutet eine massive Preiserhöhung für viele Fahrgäste", kritisiert Andreas Barth, stellvertretender Pressesprecher des Fahrgastverbandes "Pro Bahn" die DB-Pläne. Unter 140 Kilometer Reiseweg steigt der Fahrpreis für Bahncardkunden um 50 Prozent, dies ist "mehr als nur unverschämt", so Barth. Dies trifft vor allem viele Leute, die nur zweimal die Woche unterwegs sind. "Eine 630 Mark-Kraft muß mit den neuen Tarifen zukünftig bis zu einem ganzen Monatsgehalt im Jahr an die Bahn abgeben." "Pro Bahn" sieht daher die Gefahr, daß mit dem neuen Tarif Stammkunden vergrault werden. "Wer mehrere hundert Mark im Jahr mehr zahlen muß, überlegt sich vielleicht seine Verkehrsmittelwahl nochmal", so Barth. Nur maximal 75.000 Personen würden mit der Bahncard pendeln, entgegnet Bahnchef Hartmut Mehdorn – peanuts im Managerjargon. "Die Bahn hat in erster Linie die Fernverkehrskunden im Auge, vernachlässigt aber gleichzeitig den Nahverkehrskunden. Preisdifferenzierung muß immer das Ziel haben, möglichst viele Verkehrsteilnehmer von der Straße auf die Schiene zu bringen, und das zu gerechten Preisen", kritisierte Bayerns Verkehrsminister Otto Wiesheu (CSU) die Bahnpläne. Der rheinland-pfälzische Verkehrsminister Hans-Artur Bauckhage (FDP) drohte gar: "Wir prüfen alle Möglichkeiten, um gegen die erheblichen Fahrpreissteigerungen für Nahverkehrskunden vorzugehen." Lediglich Gelegenheitsfahrer hätten einen Vorteil durch die billigere Bahncard. Es entstehe eine "groteske Situation", warnte Bauckhage. So werde eine Fahrt von Koblenz nach Mainz (91 Kilometer) im IC mit Frühbucherrabatt billiger sein als eine Fahrt von Spay (Kreis Mayen-Koblenz) nach Mainz (79 Kilometer) im Nahverkehrszug mit der Bahncard. "Damit wird die bisherige Logik der Bahnpreise auf den Kopf gestellt und die Kunden in Gemeinden ohne Fernverkehrsanschluß benachteiligt." Bauckhage befürchtet, daß sich die neue Bahncard-Regelung negativ auf die Fahrgastzahlen auswirken könnte. Er erinnerte daran, daß es seit 1994 gelungen sei, die Zahl der von Bahnreisenden zurückgelegten Kilometer in Rheinland-Pfalz um 90 Prozent zu steigern. Durch moderne Fahrzeuge, Taktverkehr und modernisierte Bahnhöfe sei es gelungen, mehr Menschen für die Eisenbahn zu begeistern. "Diese bundesweit einmalige Erfolgsgeschichte wollen wir fortsetzen. Die Bahn könnte ihren Beitrag durch eine Nachbesserung des neuen Preissystems leisten", so der 57jährige.

Joachim Kemnitz von "Pro Bahn" plädierte nach Bekanntwerden des neuen Bahnpreiskonzeptes gegenüber Spiegel online übrigens für die Einführung einer "Bahncard Gold". Auf diese sollte, wie bei der bisherigen Bahncard, 50 Prozent Rabatt auf allen Strecken eingeräumt werden. Damit bliebe alles beim Alten – hoffentlich. Doch etwas Gutes hat die Reform zumindest: Kinder bis 14 Jahre sollen in Begleitung ihrer Eltern oder Großeltern immer kostenlos reisen. Reisen mit großem Bruder, Schwester, Onkel oder Tante bleiben aber eine teure Angelegenheit.


 
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