© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/01 29. Juni 2001

 
Puppen und Prothesen
Ausstellung: "Der kühle Blick – Realismus der zwanziger Jahre" in München
Baal Müller

Der kühle Blick" ist die Eröffnungsausstellung der neuen Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München betitelt, die sich auf großzügigen 1.185 Qadratmetern Ausstellungsfläche dem "Realismus der zwanziger Jahr" widmet. Kühl und auf die für solche Projekte übliche Weise minimalistisch wirkt vor allem die von den Schweizer Architekten Herzog & de Meuron geplante Kunsthalle mit ihrem glasigen Foyer, der "großzügigen", an den "hängenden Gärten der Salvatorpassage" vorbei und in die "Museumslounge" führenden Treppe und dem etwas siebzigerjahrelastigen Café.

Die von Wieland Schmied als Kurator – in der Nachfolge des jahrzehntelang im "Haus der Kunst" und für die Hypo-Kulturstiftung tätig gewesenen Peter Ade – konzipierte Ausstellung entschädigt den Besucher jedoch allemal für postmoderne Hightech-Gewöhnlichkeit, so daß sich sein Blick vor den versammelten Meisterwerken von 71 Künstlern aus mehreren europäischen Ländern sowie den USA bald sehr erwärmt.

Ohnehin stellt sich die Frage, wessen Blick eigentlich, außer demjenigen der Architekten, so "kühl" sein soll, wie es der Titel der Ausstellung verheißt. Nach Wieland Schmieds gleichnamigem Essay im Ausstellungskatalog ist es offenbar derjenige der Künstler: "Die neusachlichen Maler wollten mit ihm die Optik ihrer Zeitgenossen aufnehmen – eine Optik, die in der Fotografie ihren prägnantesten Ausdruck fand und die alle Phänomene unserer Welt ohne Unterschied nüchtern, scharf und vorurteilsfrei ins Auge fassen wollte."

Mehr noch zeigt sich die Kühle und Leere des Blickes allerdings in den Augen der porträtierten Figuren, von Felice Casorati beispielsweise, Ubaldo Oppi, Cagnaccio di San Pietro und besonders Tamara de Lempicka, deren großartig-monumentale, stets aus der Froschperspektive wahrzunehmenden Frauengestalten, wie die fiktive "Herzogin de La Salle" (1925), ihre sinnlich-provokative Arroganz geradezu ausstellen, oder, wie die berühmte, den Ausstellungskatalog schmückende, blaue Telefonistin ("Das Telefon II") und das "Junge Mädchen in Grün", trotz der zarten Gesichtszüge und der üppigen Weiblichkeit ihrer Formen zu einer kristallinen, kubistisch inspirierten Flächigkeit erstarren. Bringt die breitbeinige Pose der Herzogin in ihrem straffen, schwarzen Reiterkostüm eine offensiv-dominante Erotik zum Ausdruck, so bildet der gemäßigte, "bürgerliche" und konsumtaugliche Kubismus von Lempickas puppenhaften Frauengestalten der dreißiger Jahre bereits einen Übergang zur Comic- und Pop-Art eines Lichtenstein und Warhol. Ist das Puppige bei Lempicka bereits der ästhetisch geglättete, zweifellos affirmierende Ausdruck der Massenkonsumgesellschaft, so hat es bei Künstlern wie Anton Räderscheidt, Rudolf Wacker und Grethe Jürgens ein zivilisations- und technikkritisches Potential, das sich etwa bei George Grosz auf die bekannte drastische Weise steigert, wenn er die menschlichen Gliederpuppen Giorgio de Chiricos oder die geometrisch fragmentierten Formen des Kubismus als verkrüppelte Kriegsveteranen mit Prothesen interpretiert. Eine ähnliche, seinerzeit sehr kritische, heute hingegen eher unterhaltsame Wirkung erzielt Otto Dix, indem er umgekehrt von organischen Formen ausgeht, deren morbide, von Krankheit, Alter und Verfall gezeichnete Erscheinung aber auf eine derart plastische Weise pointiert, daß sie in ihrer Penetranz geradezu naiv und kurios wirkt – einem Horrorfilm vergleichbar, der die Grenze von Grusel und Klamauk spätestens dann überschreitet, wenn den wandelnden Untoten die Maden aus den Augenhöhlen fallen.

Hatte Carl Einstein Otto Dix 1926 einen "malenden Reaktionär am linken Motiv" genannt, so meinte er den Gegensatz zwischen einer angeblich fortschrittlichen und gegenwartsnahen, in Wirklichkeit allgemeinmenschlichen Thematik und einer "reaktionären", weil gegenständlichen, an den alten Meistern geschulten "kleinlichen Maltechnik", die ein "umgekehrtes Gartenlaubenidyll", eine Art röhrenden Hirsch für Linke, liefere. Ungeachtet seiner zeitbedingten Favorisierung der Abstraktion hat Einstein damit bereits etwas gesehen, was von den Verfassern der Essays im Ausstellungskatalog nicht in derselben Weise bemerkt wird: Die Malerei der Neuen Sachlichkeit ist ebenso wie die der vorangegangenen dekonstruktiven, formalreduktionistischen Avantgarden zum Genrebild "aufgeflogen", weil sie nicht mehr "vom aktuellen Jetzt verteidigt wird". Eine lediglich an der Selbsteinschätzung der Maler orientierte und die bekannten Themen der Moderne wie Geschwindigkeit, Fragmentierung, Technisierung, Verstädterung etc. aufzählende Betrachtung tendiert zum Klischee, wenn sie nicht auch auf die veränderte Rezeptionshaltung hinweist: Der heutige, tatsächlich moderne und nicht nur die klassische Moderne nachbetende Ausstellungsbesucher hat sich an manches gewöhnt, mit einigem gar sich recht gut eingerichtet, was den Künstlern der zwanziger Jahre noch sehr bedrohlich erschien; daher erschaudert er nicht mehr vor den Fabriklandschaften eines Stefan Hirsch, Louis Lozowick oder Giorgia O’Keeffe und noch weniger vor den lustigen alten Huren von Otto Dix – vielmehr lächelt er über das, was etwa die Futuristen unter Geschwindigkeit oder Fernand Léger unter moderner Technik und Architektur verstanden, er wundert sich beinahe über Dix’ Probleme mit Alterssexualität und sehnt sich nostalgisch zurück nach den Berliner Salons der "Goldenen Zwanziger", in denen nach Dix und Grosz, Hubbuch und Beckmann nur dämonisch-groteske Tänze auf dem Vulkan veranstaltet wurden.

Anstatt von dem "kühlen", in Wirklichkeit sehr heißen und engagierten, dabei reduktionistischen und isolatorischen Blick der Neu-Sachlichen wird der heutige Betrachter eher vom "magischen" Blick der Chirico und Carrá, ihrer die Dinge bei großer, an den Renaissance-Meistern geschulter Präzision zugleich unwirklich entrückenden pittura metafisica angesprochen und fasziniert. Vom "Magischen Realismus" dieser um die Zeitschrift Valori Plastici gruppierten Maler ist der frühe, durchaus noch in den "realistischen" Kontext der Ausstellung gehörende Dalí ebenso beeinflußt wie Picasso, dessen Frauengestalten von zeitloser Archaik, wie etwa "Mutter mit Kind" und "Die Quelle" (1921), einer mythisch-unvergänglichen mediterranen Welt entstammen und dennoch nicht ohne die künstlerischen Techniken der Moderne zu denken sind.

Auf eindrucksvolle Weise zeigt diese großangelegte Ausstellung, daß von dem Realismus nicht gesprochen werden kann; es scheint vielmehr ebensoviele Realismen wie Maler zu geben, deren Vielfalt nicht unter einem gemeinsamen Epochenbegriff, sondern allenfalls unter einer so nüchtern-temporalen Bezeichnung wie den "zwanziger Jahren" zusammengefaßt werden kann.

Tamara de Lempicka, "Das Telefon II" (Öl auf Holz, 1930) / Boris Grigoriew, "Selbstporträt" (Öl auf Leinwand, um 1920)

 

Die Ausstellung in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, Theatinerstraße 8, München, wird noch bis zum 2. September gezeigt. Der Katalog, hg. von Wieland Schmied, ist im Prestel Verlag erschienen und kostet 48 Mark .


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen