© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/01 29. Juni 2001

 
Pankraz,
S. Berlusconi und die neue Seeräuber-Jenny

Ein neues, die Phantasie anregendes Wort ist in die Agentursprache eingeführt: der "Gewalttourist". Überall, wo sich die Mächtigen dieser Welt, ob EU, Weltbank oder G8-Gruppe, zu repräsentativem Palaver versammeln, treten auch die Gewalttouristen ins Bild und stören den holden Frieden durch Steinewurf und Anzünden von Mülltonnen. Aber auch zu fröhlich-sommerlichen Stadtteilfesten oder Liebesparaden kommen sie angereist, oft von weit her und mittels teurer Eisenbahn-, Bus- oder Flugzeugtickets. Sie wollen nicht mittanzen, sie wollen nichts besichtigen, sie wollen nicht auf Wellen surfen und nicht in gemütlichen Ferienbungalows wohnen, sie wollen nur eins: Gewalt ausüben, zerstören, Krawall machen. Deshalb heißen sie Gewalttouristen.

Es gibt auch schon Reisebüros für Gewalttouristen, in denen man sich über das aktuelle Angebor an Gewaltanlässen orientieren kann und wo einem verbilligte Tickets und günstige Übernachtungsgelegenheiten am Gewaltort angeboten werden. Auf kostenlosen Faltzetteln wird man über die örtlichen Besonderheiten belehrt. Wie gut ist die Polizei organisiert, reitet sie auf "weicher" oder "harter" Welle? Wie ist die "Steinlage" (sind Pflastersteine zur Hand oder muß man sie extra mitbringen)? Wer sind die jeweiligen sympathisierenden Verbindungsleute in der örtlichen Presse und im örtlichen Fernsehen? Wo trifft man die örtlichen Reiseleiter, die einen optimal in die Aktionen einweisen?

Via Internet entwickelt sich ein weltweiter Gewalttourismus-Verbund, werden die verschiedenen Kundengruppen zusammengeführt. Da sind linke "Autonome", die sich maskieren und während der Gewaltabläufe gewöhnlich den sogenannten "harten Kern" bilden. Da sind die Anarchisten, die schwarze und rotschwarze Fahnen entrollen. Da sind die Restbestände aus der von den damaligen Sowjets organisierten "Friedensbewegung". Da sind Greenpeace-Aktivisten, Situationisten, diverse Abolitionisten.

D eutlich erkennbare politische Profile gibt es nicht, außer daß der Verbund links zu sein beansprucht und "gegen rechte Gewalt" ist. Ansonsten regieren Schlagwörter, bei denen sich jede einzelne Gruppe etwas anderes denken kann: Globalisierung, Herrschaft des Kapitals, Ausbeutung der Dritten Welt, Zerstörung der Umwelt. Während der Aktionen werden kaum Parolen skandiert, kaum Plakate gezeigt. Die alles dominierende Parole lautet: "Drauf!" Das einzig deutlich lesbare Plakat ist der fliegende Stein. Ziel ist, daß die Steine auf Polizeischilde prasseln und in Schaufenster klirren und daß die Szene abends ins Fernsehen kommt.

Gewalttourismus und aktuelle Politik, bzw. aktueller Zeitgeist greifen paßgenau ineinander, es waltet eine fast schon unheimlich anmutende coincidentia oppositorum, Einheit der (scheinbaren) Gegensätze. Denn auch die attackierten EU- oder sonstigen Gipfel bestehen ja aus wesenlosem Geschwätz, werden einzig veranstaltet, damit die beteiligten Größen optimal in die Kanäle kommen. Worum es jeweils geht, ist im Grunde gleichgültig, wichtig ist die Show, der bildliche Knalleffekt.

Man kann sogar sagen: Die Aktionen der Gewalttouristen sind das medial notwendige Salz in der Suppe der Gipfeltreffen und Stadtteilfeste, ohne sie würden diese Treffen und Feste gar nicht ins Programm passen. Wie jeder weiß, sind die Medien von oben bis unten durchzogen von Gewalt. Kein Krimi, kein Tierfilm und keine historische Dokumentation ohne Gewaltszenen. Indem bei der Übertragung der Gipfel und Feste die Taten der Gewalttouristen mit hereingenommen werden, gleicht sich die Sendung den übrigen "Formaten" an und hält das Publikum davon ab, irritiert zu werden und wegzuzappen.

Und nicht nur mit der Politik, die er scheinhaft attackiert, bildet der Gewalttourismus eine coincidentia oppositorum, sondern auch mit dem "normalen" Massentourismus, der angeblich so sanft und so friedlich ist. Längst haben die Soziologen dieses Bild der Sanftheit und Friedlichkeit korrigiert. Der normale Massentourismus hat sich für viele der Regionen, die er überflutet, zu einem bedrohlichen Gewaltfaktor entwickelt, der die Landschaften und Völker, die er angeblich nur besuchen und besichtigen will, gegen nur scheinbar leichtes Geld bedroht und zerstört, sie ihrer Seele und ihrer Besonderheit beraubt.

Nicht nur "Ballermann 6", durchgrölte und niedergesoffene Strandfeste liefern dafür Indiz, aber derlei Veranstaltungen markieren den Übergang zum nackten Gewalttourismus am deutlichsten. Die Grenzen sind fließend. Emphatisch geleerte Flaschen verwandeln sich unversehens in Wurfgeschosse, die in Schaufenstern oder auf Köpfen der Einheimischen landen. Und die "Parolen", die dazu abgelassen werden, unterscheiden sich in keinem Jota mehr von denen, die kürzlich in Göteborg oder Dresden zu vernehmen waren und demnächst möglicherweise in Genua zu vernehmen sind.

Berlusconis, des italienischen Gastgebers, Erwägung, den bevorstehenden Genueser G8-Gipfel des drohenden Gewalttourismus’ wegen auf einen Musikdampfer zu verlegen, der die Delegierten aufs offene Meer entführt und so vor den Steinwürfen und brennenden Mülltonnen der Touristen in Sicherheit bringt, wirft ein grelles Schlaglicht auf die Situation. So weit hat es kommen müssen. Das wesenlos Musikdampferhafte der aktuellen Politik findet das ihr angemessene Symbol.

Übrigens darf man sich fragen, ob die Politiker auf ihrem Musikdampfer wirklich unbehelligt bleiben würden. Man sollte die Strategiebüros des Gewalttourismus und ihre Möglichkeiten nicht unterschätzen. Vielleicht mieten sie ebenfalls einen Dampfer, mit dem sie sich dann unabwendbar ins Kielwasser des Gipfeldampfers hieven? Das wäre ein Traumschiff ganz eigener Art, ein Mittelding aus Ballermann und Seeräuberfregatte, dem eine neue Seeräuber-Jenny getrost einen eigenen Song widmen dürfte.


 
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