© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/01 29. Juni 2001

 
Nischenstrategie erzielt Rekordgewinne
Wirtschaft: Der Berliner Pharmakonzern Schering wird 130 Jahre alt / Letzter Industriegigant der Hauptstadt
Rüdiger Ruhnau

Arzneimittel waren einmal die Domäne der Deutschen. "Apotheke der Welt" nannte man Firmen wie Hoechst, BASF und Bayer. Aber das ist lange her. Die Großen von einst haben sich von ihrem Namen (Hoechst ging in Aventis auf) oder von ihrer Medikamentenabteilung (BASF verkaufte diese) getrennt. Geblieben sind, außer Bayer, die Unternehmen der zweiten Reihe: Schering, Merck, Boehringer Ingelheim, neben vielen kleinen Arzneimittelherstellern. Nirgendwo ist der Konzentrationsprozeß so ausgeprägt wie in der Pharmabranche, denn die Firmen stehen unter einem enormen Innovationsdruck. Zum einen sind die Kosten für die Entwicklung neuer Patente stark gestiegen, zum anderen verlieren zahlreiche umsatzstarke Medikamente nach zwanzig Jahren ihren Patentschutz. Selbst die Großen schließen sich zu Megeakonzernen zusammen, kürzlich fusionierte die US-Firma Pfizer mit Warner-Lambert zum weltweit größten Pharmakonzern. Pfizer hat acht Medikamente in der Pipeline, sogenannte Blockbuster, mit einem jeweiligen Jahresumsatz von über einer Milliarde Dollar.

Den weniger Großen bleiben eigentlich nur zwei Wege offen. Entweder sie produzieren Generika – Nachahmer-Produkte erfolgreicher Medikamente, bei denen der Patentschutz abgelaufen ist – und sparen dabei die Ausgaben für Forschung und Entwicklung, oder sie konzentrieren sich auf aussichtsreiche Marktnischen. Zu dieser Strategie hat sich die Berliner Schering AG entschlossen.

Die konsequente Neuorientierung von einem stark diversifizierten Unternehmen zu einem reinen Pharmakonzern hat der Schering AG Spitzenpositionen auf den bearbeiteten Märkten erbracht. Nachteilig ist, daß die Umwandlung auch Arbeitsplätze gekostet hat. 7.000 Stellen sind bisher weggefallen. Weltweit beschäftigt der Pillendreher rund 22.000 Mitarbeiter. Bei einem Umsatz von neun Milliarden Mark erzielte der Konzern zuletzt einen Rekordgewinn von 670 Millionen Mark und leistet damit einen bedeutsamen Beitrag zur Stärkung der Berliner Wirtschaft.

Vor 150 Jahren, am 4. Juli 1851 eröffnete der Berliner Apotheker Ernst Schering die "Grüne Apotheke" und begann mit der Herstellung von Heilmitteln und Chemikalien. Die Umwandlung in eine "Chemische Fabrik auf Actien (vorm. E.Schering)" am 23. Oktober 1871, mit einem Gründungskapital von 500.000 Talern, gilt als das eigentliche Gründungsdatum des Unternehmens, das inzwischen die Produktion nach Berlin-Wedding verlegt hatte. An der Wende zum 20. Jahrhundert bestand das Angebot der Chemischen Fabrik aus einer Fülle von Spezialitäten, die von den Desinfektionsmitteln über Narkoseäther bis hin zu fotografischen Papieren, synthetischem Kampfer und Bromverbindungen reichte. Scherings Aufstieg zum weltweit tätigen chemisch-pharmazeutischen Großkonzern fand in der Zwischenkriegszeit statt.

Zum großen Erfolg entwickelte sich die Hormonforschung, als man den späteren Nobelpreisträger Adolf Butenandt als ständigen Mitarbeiter gewinnen konnte. Aus 15.000 Litern Männerharn, die Schering in den Kasernen der Berliner Schutzpolizei einsammeln ließ, isolierte Butenandt, der 1933 auf den Lehrstuhl für Organische Chemie der Technischen Hochschule Danzig berufen wurde, das männliche Sexualhormon Androsteron.

Nach der Eroberung Berlins durch die Rote Armee demontierten die Russen sämtliche Apparaturen, Werkzeugmaschinen und Laboreinrichtungen. Vom Mikroskop bis zum Porzellanmörser wurde alles mitgenommen. Bei der West-Ost-Aufteilung Berlins verblieben Schering nur noch die beiden Werke Müllerstraße und Charlottenburg. Das in der sowjetischen Besatzungszone befindliche Eigentum ging verloren, ebenso der umfangreiche Besitz in Schlesien. Der Auslandsbesitz wurde enteignet, die Warenzeichen und Patente beschlagnahmt. Die US-Amerikaner verkauften für 29 Millionen Dollar die "Schering Corporation Bloomfield", ohne daß die Muttergesellschaft eine Entschädigung erhielt. Von den 24 Tochtergesellschaften überstanden nur vier den Verbleib bei Schering.

Im Jahre 1961 begann für das Berliner Traditionsunternehmen eine ganz neue Ära. Mit dem Präparat Anovlar kam die erste Pille zur Empfängnisverhütung in Deutschland auf den Markt. Mit der Antibabypille der vierten Generation (Femovan) erreichte Schering bei den oralen Kontrazeptiva im Inland einen Marktanteil von 34 Prozent. Diese Kontrazeptiva mit der geringsten Konzentration an Östrogenen und Gestagenen ("Mikropille") kamen allerding wegen der gefährlichen Nebenwirkungen aus den Schlagzeilen nicht heraus. Der im letzten Jahr erwirtschaftete Rekordgewinn des Pharmakonzerns ist – neben dem Arbeitsgebiet der Röntgenkontrastmittel – auch der kräftigen Umsatzsteigerung des Therapeutikums Betaferon zu verdanken. Dieses Multiple-Sklerose-Präparat hat auf dem wichtigen US-Markt gute Erfolge zu verzeichnen. Betaferon ist das einzige Mittel mit nachgewiesener Wirksamkeit für alle Multiple-Sklerose-Patienten. Damit unterstreicht Schering seine Marktführerschaft auf diesem Gebiet in fast allen Ländern der Welt.

In Japan nehmen die Empfängnisverhütungsmittel der Berliner Firma einen Marktanteil von 30 Prozent ein. Zur Abrundung der Spezialisierung der eigenen Produktpalette investiert Schering in den USA, dem Mekka der Genforschung, in den Aufbau von Forschungskapazitäten und in die Zusammenarbeit mit Spezialisten. Ohne in die aktuelle Fusionshysterie einer ganzen Branche zu verfallen, verfolgen die Berliner eine eigene Nischenstrategie, die dem Unternehmen in der deutschen Hauptstadt hoffentlich weitere Erfolge bescheren wird.


 
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