© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/01 29. Juni 2001

 
Kolumne
Schrumpfung
Klaus Hornung

Hermann Lübbe hat einmal die geistige Lage in Deutschland auf den Begriff der "Gegenwartsschrumpfung" gebracht. Er meint damit die Schrumpfung des geschichtlichen Bewußtseins auf das leere Hier und Jetzt. Das antifaschistische Geschichtsbild hat eine reale deutsche Geschichte von tausend Jahren auf die zwölf Jahre des Nationalsozialismus eingedampft und diese noch einmal auf den Holocaust. Doch Geschichtsverlust, so werden wir täglich belehrt, führt zu Identitäts- und Realitätsverlust, öffnet der Manipulierbarkeit der Massen und der zynischen Machtpraxis der politischen Kommandohöhen Tor und Tür.

Der jüngste Beleg ist der von der antifaschistischen Linken und einem übermütig gewordenen Bundeskanzler vom Zaun gebrochene Machtpoker um die Hauptstadt Berlin. Laßt doch endlich, "der Zukunft zugewandt", den Kalten Krieg hinter euch! rufen die Machtzampanos einem glotzenden Publikum zu, das kaum noch Erinnerung, Erfahrung und Vorstellung von diesem Konflikt hat. Wenn schon Geschichte, dann die von der einen "Vergangenheit, die nicht vergehen will", besser wohl: die nicht vergehen soll, als Instrument für ihren Gebrauch und Mißbrauch "zu gegenwärtigen Zwecken" (Martin Walser).

Mit diesem antifaschistischen Geschichtsbild ist auch der Bundestagspräsident stets rasch bei der Hand. So hat er am 22. Juni im Bundestag ex cathedra einmal mehr seine mangelnde historische Orientierung offenbart, die sich keineswegs auf der Höhe der inzwischen erreichten wissenschaftlichen Erkenntnis befindet. Auch die beliebte Rede vom deutschen faschistischen Überfall auf die friedliebende Sowjetunion Stalins ist ein zentrales Beispiel für die bei uns sich austobende Geschichtsschrumpfung und Geschichtsklitterung. Kein Wort über die geschichtliche Korrelation der Intentionen und Kräfte 1939: vom Hitler-Stalin-Pakt des 23. August, durch den der Sowjet-Diktator seinem deutschen Kollegen grünes Licht für dessen Angriff auf Polen gab, von dem der Mann im Kreml sich in überlegenem Kalkül die Auslösung des Zweiten Weltkrieges versprach, keine Rede davon, daß die Sowjetunion mit ihrem Angriff auf Polen am 17. September als Verbündeter Hitlers in den Krieg eintrat und davon, daß sie ihre sechs westlichen Nachbarstaaten (Finnland, Baltikum, Polen und Rumänien) trotz bestehender Nichtangriffsverträge überfiel.

Das antifaschistische Bild der Geschichte des 20. Jahrhunderts in den Köpfen vieler Nachwuchspolitiker soll weiterhin als Instrument dazu dienen, daß Deutschland aus der Rolle der Genossenrepublik nicht herauskommt.

 

Prof. Dr. Klaus Hornung ist Politikwissenschaftler und Präsident des Studienzentrums Weikersheim.


 
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