© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/01 29. Juni 2001

 
PRO&CONTRA
Direktwahl der Ministerpräsidenten?
Holger Zastrow / Dr. Ursula Besser

Politikverdrossenheit auf der einen, Filz, Vetternwirtschaft und Korruption auf der anderen Seite – Deutschland ist mehr und mehr zu einem Staat geworden, den wenige politische Kräfte unter sich aufgeteilt haben. Die großen Parteien haben sich den Staat zur Beute gemacht. Die Claims wurden abgesteckt, Einflußbereiche aufgeteilt. Über Jahrzehnte hinweg haben CDU und SPD persönliche und strukturelle Abhängigkeiten geschaffen, die schwer zu durchschauen und noch schwerer zu ändern sind. Man kennt sich, man mag sich und bleibt lieber unter sich.

Unser bisheriges Wahlsystem unterstützt genau das. Für tiefgreifende Veränderungen bleibt kaum Raum. Eine Partei entscheidet für sich, wer Ministerpräsident eines Landes wird. Manchmal ist es der Spitzenkandidat, manchmal auch nicht. Und wenn eine affärengeschüttelte Regierungspartei während einer Legislaturperiode nach personellen Alternativen suchen muß, findet das unter Ausschluß des Bürgers statt.

Die Vorteile einer Direktwahl konnte man erst kürzlich in Dresden beobachten: Hier wurde der FDP-Mann Ingolf Roßberg als Kandidat einer Bürgerinitiative und mit Unterstützung von FDP, SPD, PDS, Grünen, ÖDP und Freien Wählern gegen den CDU Amtsinhaber zum neuen Oberbürgermeister der sächsischen Landeshauptstadt gewählt. Er gewann die Wahl.

Die Direktwahl von Ministerpräsidenten gibt dem Wähler die Chance, anders zu wählen und in Parteihierachien einzugreifen. Sie bedeutet ein größeres Mitspracherecht und eine Stärkung der Bürgerrechte. Die Direktwahl bringt Farbe in unsere politische Landschaft, gibt weniger etablierten Kräften Siegeschancen und schafft echte Wahlalternativen. Gemeinsam mit einer strikten Begrenzung von Amtszeiten ist sie der richtige Weg, wenn man nicht akzeptieren will, daß die Partei der Nichtwähler weiter wächst.

 

Holger Zastrow ist sächsischer Landesvorsitzender und stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP.

 

 

Dieser Vorschlag, der in Berlin den Regierenden Bürgermeister meint, übersieht, daß Berlin nach Verfassung und Grundgesetz ein "Land der Bundesrepublik Deutschland" ist und den Wahlregeln von Art. 20, 28 und 63 GG und Art. 1 und 41 Verf. V. Groß-Berlin unterliegt. Das für Städte und Gemeinden übliche Wahlrecht ist für diese "Länder" nicht anwendbar. Deshalb wählt das Berliner Abgeordnetenhaus in seiner Eigenschaft als Landtag den Regierenden Bürgermeister und die von ihm nach dem d‘Hondtschen (Verhältnis-)Verfahren vorgeschlagenen Senatoren als Stadtregierung; eine Direktwahl ist ausdrücklich nicht vorgesehen.

Die Väter des Grundgesetzes haben unter gründlicher Beachtung der geschichtlichen Erfahrungen und nach sorgfältigen Beratungen dies so in der Verfassung verankert. Wer unsere Vergangenheit bedenkt, rührt daran nicht. In einem Land, in dem die Parlamentarier in "allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl" gekürt werden ist das auch nicht nötig. Mehr Einfluß im Detail als darüber hat der einzelne Bürger bei Direktwahl keineswegs. Wer etwas darüber hinaus tun will, muß sich aktiv in einer Partei seiner Wahl betätigen. Die facettenreiche Vielfalt des Volkswillens spiegelt sich am ehesten im Parlament, nicht in einer regierenden Person und auch nicht im von dieser berufenen Kabinett.

Sicher sieht nicht jeder engagierte Bürger, der sich aus der Tiefe seines Herzens zum Thema äußert, vorher in Grundgesetz und Verfassung; ein Parlamentarier wie ein versierter Politiker ist allerdings dazu verpflichtet, wenn er sich nicht einer Sorgfaltsversäumnis schuldig machen will oder Fragwürdiges im Schilde führt. Wo z.B. ein bisher nicht widerrufenes 93er Parteiprogramm Eckpunkte enthält zu Schwerpunktsetzungen für einen ganz anderen Staat, hat dieser Kandidat ganz sicher neben seinem persönlichen Erfolg weitere strategischen Ziele im Auge. Das darf er; aber wählen muß man ihn dann nicht!

 

Dr. Ursula Besser ist seit 1945 CDU-Mitglied. Von 1967 bis 1985 gehörte sie dem Abgeordnetenhaus von Berlin an.


 
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