© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/01 22. Juni 2001

 
Das Ende der alten Fronten
von Alain de Benoist

In der Regel wird die Entstehung der politischen "Linken" und "Rechten" auf den 28. August 1789 datiert, als die verfassungsgebende Versammlung in Versailles über das Vetorecht des Königs debattierte. Die Mitglieder, die dieses Recht befürworteten, nahmen rechts des Vorsitzenden Platz, während die Gegenseite zu seiner Linken saß. Es handelte sich also zunächst um eine rein topographische Unterscheidung. Damals hätte sich niemand träumen lassen, welch eine ungeheure Bedeutung diesem Begriffspaar im Laufe der nächsten zweihundert Jahre zukommen sollte. Um so wichtiger ist heute die Frage, ob der Gegensatz zwischen "Links" und "Rechts" noch geeignet ist, die politische Realität zu analysieren, oder ob er, der mit der Moderne in die Welt kam, nicht auch mit der Moderne aus ihr verschwunden ist.

Persönlich neige ich der letzteren Hypothese zu, und das obwohl die Rechts-Links-Achse allem Anschein nach die politische Landschaft weiterhin strukturiert, vor allem zu Zeiten des Wahlkampfes. Im folgenden werde ich meine Meinung anhand von drei Argumentationsketten darlegen.

1) Schon seit einigen Jahren deuten sämtliche Umfrageergebnisse aus ganz Europa darauf hin, daß die Unterscheidung in "Links" und "Rechts" in den Augen der allermeisten Bürger mehr und mehr an Aussagekraft verliert. Die Linke und die Rechte bestehen fort, aber nur noch als Schattenrisse mit unbestimmtem Inhalt: Was sie unterscheidet, ist immer schwieriger wahrzunehmen. In Frankreich gaben im März 1981 33 Prozent der Bevölkerung an, die Begriffe "links" und "rechts" gehörten der Vergangenheit an und eigneten sich nicht mehr zur Positionsbestimmung politischer Parteien. Im Februar 1986 teilten schon 45 Prozent diese Einschätzung; im März 1988 waren es 48 Prozent; im November 1989 gar 56. Derselbe Anteil wurde auch bei zwei weiteren Umfragen im Dezember 1990 und im Juli 1993 ermittelt; er scheint seither konstant geblieben.

Bemerkenswert ist diese Entwicklung aus mindestens drei Gründen. Zunächst wird hier eine Tendenz deutlich, die ständig zunimmt: von Jahr zu Jahr verringert sich der sichtbare Unterschied zwischen der Linken und der Rechten. Dabei handelt es sich aber auch um einen ungewöhnlich schnellen Prozeß. Innerhalb eines einzigen Jahrzehnts hat die Schnittstelle zwischen Links und Rechts mehr als 20 Prozent ihrer Glaubwürdigkeit eingebüßt. Und schließlich hat diese Entwicklung an beiden Enden des politischen Spektrums stattgefunden. Eine im April 1988 durchgeführte Umfrage hat sogar erwiesen, daß sich seit 1981 gerade auf der klassischen Linken der Eindruck, die alte Trennung zwischen Links und Rechts habe sich überlebt, am stärksten verbreitet hatte.

Eine entscheidende Rolle spielt hierbei die Tatsache, daß sich die Programme der politischen Parteien wieder vermehrt in Richtung Mitte orientieren. Der Zusammenbruch des sowjetischen Systems im Jahre 1989 war nur der Höhepunkt einer Folge politischer Irrtümer, Fehlentwicklungen und Desillusionierungen, die dazu führte, daß viele Menschen den Glauben an jegliche revolutionären oder restaurationistischen Geschichtsprojekte verloren. Der Gedanke, daß es echte politische Alternativen gäbe, hat sich ebenso verflüchtigt. Da nicht mehr über Sinn und Zweck gesellschaftlichen Zusammenlebens gestritten wird, sondern um die besten Mittel zur Durchsetzung gesellschaftlicher Ziele, deren Nutzen fast niemand mehr in Frage stellt, wechselt sich in der Politik die linke Mitte mit der rechten Mitte ab – oder, wenn man so will, der Sozialliberalismus mit dem sozialen Liberalismus. Die Parteiprogramme unterscheiden sich immer weniger voneinander, und so ist es kein Wunder, daß die Wahlkämpfe immer personenbezogener werden. Politiker werden auf den Markt gebracht wie neue Produkte: mit Werbekampagnen, in denen es nur noch um das "Image" und die Kommunikationsfähigkeit geht. Genau dasselbe Phänomen ist übrigens im Bereich der Medien zu beobachten. Verschiedene Presseorgane und Fernsehsender vertreten keine Meinungen mehr, sondern gleichen sich immer mehr einander an und werden letztendlich austauschbar.

Eine direkte Konsequenz dieser "Vermittung" der Politik ist die Krise der demokratischen Repräsentation. Anders als die Theoretiker des "politischen Markts" argumentieren, die davon ausgehen, daß der Wähler sich als Börsenspekulant versteht, dem es darum geht, seinen eigenen Profit zu mehren, ist die Stimmabgabe vor allem eine Möglichkeit, Selbstverständnis auszudrücken und bestätigt zu wissen. Wenn den Wählern das Gefühl vermittelt wird, daß die Parteien sich nur um die Macht zanken, statt wirkliche Alternativen anzubieten, dann interessieren sie sich natürlich nicht mehr für ein solches politisches Spiel, das ihnen keinerlei Anteilnahme oder Identifikation mit der einen oder anderen Position gestattet. Das Ende der "démocratie d’identification" (Pierre Rosanvallon) zeigt sich nirgends deutlicher als in der abnehmenden Wahlbeteiligung. In manchen Ländern ist es inzwischen keine Seltenheit mehr, wenn weniger als die Hälfte aller Wahlberechtigten eine Stimme abgibt.

Eine weitere Folge ist die zunehmende Unberechenbarkeit der Wähler. Dieses Phänomen geht mit der Auflösung der traditionellen politischen Familienbande einher: Der Wähler "probiert" verschiedene Parteien der Reihe nach durch, er sucht sich aus linken und rechten politischen Anliegen jeweils das heraus, was ihm am besten gefällt, und wechselt so regelmäßig, wie seine Hoffnungen enttäuscht werden. Auch hier mag Frankreich als Paradebeispiel dienen: 1946 rechnete François Goguel aus, daß von 1877 bis 1936 das Kräftegleichgewicht zwischen rechten und linken Parteien niemals um mehr als zwei Prozentpunkte schwankte. Heutzutage verhält es sich ganz anders. Siebzehn Prozent der Wähler, die bei den Parlamentswahlen von 1986 ihre Stimme für die extreme Linke abgaben, wählten in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 1988 eine Rechtspartei – und 60 Prozent derer, die 1988 für François Mitterrand gestimmt hatten, verweigerten den Sozialisten 1993 ihre Stimme.

Unzweifelhaft liegt dieser Entwicklung ein Verfall der politischen Kultur zugrunde, der mehrere Dimensionen aufweist. Der klassischen Analyse zufolge, die Carl Schmitt in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts vorlegte, verliert die Politik ihre Vorrechte mehr und mehr an die Pole der Moral einerseits und der Wirtschaft andererseits. Erstere ist in Form der Menschenrechtsideologie allgegenwärtig, letztere im Profitstreben und der Allmacht der Märkte. In jüngster Zeit hat die wirtschaftliche Globalisierung dazu geführt, daß politische Grenzen immer durchlässiger werden. Die volle Wucht dieser Entwicklung, die die allgemeine Krise der demokratischen Einrichtungen noch verschlimmert, trifft die Nationalstaaten, die in der Moderne die Hauptakteure auf der politischen Bühne waren: Sowohl die Staaten als auch die Nationen verlieren ständig an Bedeutung zugunsten der neuen politischen Gebilden der Postmoderne – den Nachbar- oder Gemeinschaften, wie sie der Kommunitarismus US-amerikanischer Provenienz beschwört, und den Netzwerken.

Dabei darf auch die Rolle der Technik nicht übersehen werden. Seit Jahrzehnten schon ereignen sich die wichtigsten gesellschaftlichen Transformationsprozesse nicht mehr in der Politik, sondern auf dem jeder Kontrolle entzogenen (und sich immer unaufhaltsamer weiterentwickelnden) Gebiet der Technologien: Empfängnisverhütung, Automobil, Fernsehen, Internet, die Biotechnologien der Zukunft, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, haben die Gesellschaften radikaler verändert, als irgendeine Regierungsmaßnahme es vermocht hätte. Parallel dazu befindet sich eine technizistische Denkweise im Aufschwung, die alle anderen Ideen zu verdrängen droht. Sie besagt, daß politische und gesellschaftliche Entscheidungen immer eine Frage des rationellen Verstandes sind, so daß es für jedes Problem nur eine richtige Lösung geben kann. Politisches Handeln wird so zu einer bloßen Verwaltungstechnik degradiert. Eine solche Sicht trägt nicht nur dazu bei, daß immer weniger über gesellschaftliche Gesamtzusammenhänge nachgedacht wird, sondern läßt die Tiefenströmungen des Sozialen als unvermeidlich und unveränderlich erscheinen. Man muß sich bewußt machen, daß damit nicht nur das Wesen der Politik negiert wird, sondern auch das der Demokratie. "Auf der einen Seite", sagt Pierre Rosanvallon, "gibt es Experten, die Bescheid wissen, auf der anderen Individuen, die gar nichts wissen. Letztere müssen sich nur informieren und auf ihre Vernunft hören, um den Ansichten der ersteren beizupflichten."

2) Ich werde mich an dieser Stelle nicht mit der Frage befassen, ob Rechte und Linke sich gegenseitig als Idealtypen, als ideologische Aggregate, als psychologische Archetypen, als Essenzen auffassen. Es hat zu jeder Zeit verschiedene rechte und verschiedene linke Richtungen gegeben, und so stellt sich die nicht weniger offene Frage, ob es zwischen einigen dieser Ausprägungen in der Vergangenheit nicht stärkere Annäherungen zwischen Links und Rechts gab, als man bislang angenommen hat. In meiner zweiten Ausführung möchte ich erörtern, daß die wichtigsten Kontroversen, an denen die Schnittstelle zwischen Links und Rechts zwei Jahrhunderte lang festgemacht wurde, sich heute erledigt haben.

Die erste Meinungsverschiedenheit drehte sich darum, wer in der Regierung den Ausschlag gibt. Sie begann mit der Revolution von 1789 und spaltete fast ein Jahrhundert lang die Parteigänger der Republik, die Anhänger der konstitutionellen Monarchie und die Nostalgiker einer Monarchie von Gottes Gnaden. Der nächste Streitpunkt kam um 1880 auf und ging um die religiöse Frage. Zwischen den Anhängern einer "klerikal" gedachten sozialen Ordnung und den Befürwortern eines laizistischen Gesellschaftsbegriffs wurden jahrzehntelang so erbitterte Diskussionen geführt, daß es sich eigentlich nur um das Aufeinandertreffen rechter und linker Standpunkte handeln konnte. Inzwischen sind diese beiden Kontroversen längst entschieden. Die Gegner einer republikanischen Regierungsform sehen sich an die Ränder des Spektrums politischer Ideen gedrängt. Die ganze Welt ist heute demokratisch oder tut zumindest so. Wie "Demokratie" sich jeweils definiert, kann von Staat zu Staat verschieden und sogar widersprüchlich sein, aber diese Auseinandersetzung wird bezüglich und innerhalb eines gemeinsamen demokratischen Rahmens ausgetragen. Was die Religion angeht, so ist sie schon lange kein Faktor im politischen Verhalten mehr.

Die letzte Debatte war die soziale, die um 1830 einsetzte, als der Kapitalismus die traditionellen Wirtschaftsformen der Vergangenheit zu überholen begann und damit den Klassenkampf zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie einläutete. Die Entstehung der Industriegesellschaft, des Sozialismus und der Arbeiterbewegung hielten die Flamme am Kochen. Nachdem die union sacrée während des Ersten Weltkriegs eine kurze Unterbrechung brachte, ging der Streit nach 1917 erst richtig los. Seit 1920 heißt "links" zu sein nicht mehr bloß die Republik zu befürworten (das tun inzwischen alle) oder laizistisch zu denken (es gibt auch linke Katholiken). Links bedeutet jetzt sozialistisch oder kommunistisch. Reformistisch wie revolutionär gesinnte Linke definieren sich über das gemeinsame Ziel der staatlichen Kontrolle über die (Plan-)Wirtschaft. Über wirtschaftliche und soziale Institutionen wollen sie die kollektive Emanzipation erreichen und eine Art allgemeines Vertragssystem einführen, in dem alle Produktionsmittel dem Kollektiv gehören.

Dieses Staats- und Produktionsmodell kann nach dem Untergang der Sowjetunion und mit dem Abbau des Wohlfahrtsstaates als gescheitert betrachtet werden. Hinzu kommt, daß die Arbeiterklasse, die sich zunehmend reformistisch und konsumeristisch orientierte, in der Auflösung begriffen war. So haben sich die Linken in der Mehrzahl längst auf die Seite der Marktwirtschaft geschlagen und wären die letzten, die die Logik des Kapitals auf ihrem Siegeszug noch aufhalten wollten.

Noch in den sechziger Jahren neigte man desto mehr dazu, Rechts zu wählen, je katholischer man war; und wer der Arbeiterklasse entstammte, tendierte eher nach links. Zehn Jahre später ging diese Gleichung nicht mehr auf, weil die Linkswähler unter der professionellen Mittelschicht zugenommen hatten. Dieses Wählerpotential hatte sich zwischen 1954 und 1975 mehr als verdoppelt, weil der Dienstleistungs- und tertiäre Sektor in dieser Zeit enorm expandiert war – eine Tendenz, die seither angehalten hat. In Frankreich ist das Zugehörigkeitsgefühl zu einer gesellschaftlichen Klasse von 68 Prozent 1976 auf 56 Prozent 1987 gefallen, und zwar vor allem unter den Arbeitern (von 74 auf 50 Prozent). Die "Stimme der Katholiken" verteilt sich mittlerweile mehr oder weniger gleichmäßig auf alle Meinungssparten: Von 1978 bis 1988 fiel die Übereinstimmung zwischen "rechtem" Wahlverhalten und religiösem Lebenswandel um zwanzig Prozentpunkte ab.

In den neunziger Jahren begann die Linke ihren Halt im Volk zu verlieren. In den französischen Parlamentswahlen von 1978 hatten noch 75 Prozent der Arbeiter ihre Stimme für eine linke Partei abgegeben. 1993 waren es nur 42 Prozent. Umgekehrt wählten 1973 nur 20 Prozent der bourgeoisen Führungsschichten eine linke Partei, während es 1997 stolze 51 Prozent waren (und sogar 69 Prozent der im öffentlichen Sektor Beschäftigten).

Das Phänomen der "Gentrifikation" der Sozialdemokratie macht sich inzwischen überall bemerkbar. In Österreich verdankt die FPÖ ihre Regierungsbeteiligung hauptsächlich einem veränderten Wahlverhalten der Arbeiterschicht. Die italienischen Linksparteien verlieren schon seit Jahren ihre einstigen Wählerhochburgen im industriell geprägten Norden des Landes. In Spanien unterstützen sogar die Gewerkschaften massiv die Mitte-Rechts-Regierung José Maria Aznars. Stimmen, die traditionell der Linken gehörten, verschieben sich zugunsten "querdenkerischer", atypischer und populistischer Gruppierungen. Ganz offensichtlich sind die sozialen Konflikte nicht aus der Welt geräumt, aber sie lassen sich nicht mehr wie früher automatisch auf die Dimension der Klasse reduzieren: Das Phänomen des gesellschaftlichen Ausschlusses – verursacht durch eine Arbeitslosigkeit, die nicht mehr konjunkturell, sondern strukturell bedingt ist – verwischt alte Grenzlinien.

Die Kriterien, die angeblich den Gegensatz zwischen Links und Rechts ausmachen, verschwinden sukzessive. Gegenüber einer Rechten, die oft vom Konservatismus belastet war, profilierte die Linke sich als Partei des Fortschritts und der Veränderung. Heute ist es der liberale "Turbokapitalismus", der an der Spitze des technologischen Fortschritts und der Globalisierung der Märkte steht, während seine schärfsten – und oft relevantesten – Kritiker aus den Reihen der "grünen" Parteien kommen, die im allgemeinen der linken Seite des politischen Spektrums zugerechnet werden.

Nicht einmal der Gleichheitsgedanke, an dem Norberto Bobbio momentan unbedingt den Unterschied zwischen Links und Rechts aufhängen will, ist noch von großer Bedeutung. Die klassische linke Analyse wertet jede Ungleichheit per se als Unterdrückung, so daß die Freiheit gleichsam dazu verurteilt war, sich selbst zu widerlegen: Indem sie Ungleichheit zuläßt, führt sie wiederum Unterdrückung herbei. Heute haben auch viele Linke dem Glauben abgeschworen, daß gleiche Ausgangsbedingungen für alle möglich oder auch nur wünschenswert sind. Oft wird zwischen "gerechten" und "ungerechten" Ungleichheiten unterschieden und der Chancengleichheit mehr Bedeutung zugemessen als gleichen Ergebnissen. Statt abstrakt von "Gleichheit" zu reden, bevorzugt man den Begriff der Gleichberechtigung, der eine Berücksichtigung besonderer Umstände für Einzelpersonen wie für Gruppen erlaubt. Auf der Rechten dagegen erfuhr die Gleichheit im politischen Sinne eine positive Neubewertung. Gemeint ist hier eine substantielle Gleichheit, die sich weniger aus einklagbaren Rechten als aus der Anerkennung eines Statuts ergibt: Die Bürger eines demokratischen Staates müssen gleiche politische Rechte genießen, nicht weil sie von Natur aus oder von ihren Fähigkeiten her gleich sind, sondern weil sie gleichermaßen Bürger dieses Staates sind.

3) Meine abschließende Bemerkung wird kürzer ausfallen. Hier geht es mir um die einfache Feststellung, daß die Einteilung in Links und Rechts nicht mehr ausreicht, um Positionen zu verstehen, zu analysieren oder auch nur vorauszusehen, die im politischen Weltgeschehen bezogen werden. Ob es sich um den Golfkrieg oder die Intervention der Nato im Kosovo handelt, um die deutsche Wiedervereinigung und ihre Folgen, die Rolle der Welthandelsorganisation (WTO) oder die Konflikte um kulturelle Identitäten und Multikulturalismus, um "Souveränismus" und Föderalismus, um den vertretbaren Grad an regionaler Autonomie, um die Globalisierung, die Biotechnologien und so weiter – alle Debatten der letzten Jahre haben Standpunkte hervorgebracht, die sich nicht mehr auf den Gegensatz zwischen Links und Rechts reduzieren lassen. Die Bruchlinien verlaufen heute quer zu dieser Achse: Sie führen mitten durch die Rechte wie durch die Linke, die sie zerteilen und frisch zusammensetzen. Zu wissen, ob sich jemand als "Rechter" oder als "Linker" versteht, gibt keinerlei Aufschluß darüber, wie er konkret zu den wichtigsten Fragen steht, die der Beginn dieses neuen Jahrhunderts aufwirft. Die Unterscheidung in Rechts und Links taugt nicht mehr als Raster, um die Gegenwart durchschaubar zu machen.

"Dem politischen Gebilde der Moderne", behauptet Serge Latouche, "geht die Luft aus, weil es sein Ziel erreicht hat. Die Rechte wie die Linke haben ihr Programm weitgehend verwirklicht. Die gemäßigte Rechte und die Linke verstehen sich als Erben der Aufklärung, aber keine von beiden beruft sich auf deren gesamte Inhalte. Beide haben ihrem jeweiligen Teil des aufklärerischen Programms zum Durchbruch verhelfen können. Die Linke, die eine radikale Vorstellung von der Aufklärung pflegten, bewunderten den Fortschritt, die Wissenschaft und die Technik; von Condorcet bis Saint-Simon findet man immer wieder dieselben Themen. Die liberale und gemäßigte Rechte begeisterte sich für die individuelle Freiheit und den wirtschaftlichen Wettbewerb. Die Linke wollte Wohlstand für alle, die Rechte Wachstum und das Recht, die Früchte des eigenen Fleißes zu genießen. Der moderne Staat hat all dies erreicht, allerdings nicht ohne Stockungen und Krisen."

Es wäre falsch, daraus zu schließen, daß die Thesen vom "Ende der Geschichte" oder dem "Ende der Ideologien" berechtigt sind. In allernächster Zukunft werden wir am Anfang einer neuen historischen Phase stehen, die neue ideologische Ausprägungen entstehen läßt. Die Tatsache, daß sich die inhaltlichen Koordinaten der Rechts-Links-Achse in den vergangenen zwei Jahrhunderten stetig verschoben haben, zeigt, daß es weder "metaphysische Rechte" noch "absolute Linke" gibt, sondern nur relative Positionen und Systeme von Relationen, die sich immer wieder neu formieren. Will man sie verstehen, so darf man sie nicht ihrem jeweiligen Kontext entreißen. In jeder Epoche verschwanden bestimmte Gegensätze oder verloren an Relevanz, während andere, die vormals von sekundärer Bedeutung schienen, plötzlich die politische Landschaft beherrschten.

Der Erklärungsnotstand, in den die "Rechte" wie "Linke" derzeit geraten sind, besagt also keinesfalls, daß es nie wieder Rechte oder Linke geben wird, sondern daß diesen Kategorien in der Spätmoderne – oder der anbrechenden Postmoderne – das Essentielle verlorengegangen ist, das zuvor ihren Gehalt ausmachte. Die Zukunft wird neue Gegensätze hervorbringen. Denn ohne sie kommt die Politik trotz aller Betonung des Pluralistischen und Diversen nicht aus. Doch diese neuen Oppositionen werden nicht auf die alten hinauslaufen, die uns aus Geschichte und Gegenwart vertraut sind. Die Konflikte zwischen Anhängern des Föderalismus und des Nationalstaates, zwischen Liberalen und Kommunitaristen, haben offenkundig nichts mehr mit der Front zwischen Rechts und Links zu tun. Diese Unterscheidung – Spiegelbild einer Epoche, die vorüber ist – hat ausgedient. Was wir momentan erleben, ist ein Paradigmenwechsel.

 

Alain de Benoist ist der führende Theoretiker der französischen Neuen Rechten ("Nouvelle Droite") und Herausgeber der in Paris erscheinenden Kulturzeitschrift "Nouvelle Ecole".


 
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