© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/01 22. Juni 2001

 
Ein versiegter Kraftquell
Zum Gedenken an den Komponisten und Chordirigenten Hugo Distler
Hans-Joachim von Leesen

Der Präsident der Hamburger Musikhochschule, Hermann Rauhe, stellte kürzlich fest: "ln der deutschen Bevölkerung verfällt die Fähigkeit zu singen." Und der Münsteraner Musikpsychologe Karl Adamek schrieb in einer Studie: "Vor 30 Jahren konnten in einer Klasse von 30 Schülern 27 eine Melodie einigermaßen notengerecht nachsingen. Heute sind es nur noch drei."

Tatsächlich singen die Deutschen – im Gegensatz zu ihren Nachbarvölkervölkern – nicht mehr. Der großen Mehrheit der Deutschen ist das Singen nicht von selbst vergangen; es ist ihr ausgetrieben worden, und dazu hat nicht zuletzt die Doktrin eines der führenden Köpfe der Frankfurter Schule, Theodor Adorno, beigetragen, der nicht nur in seiner Schrift "Dissonanzen" wütend gegen das gemeinschaftliche Singen als "Herrschaftsinstrument der bürgerlichen Gesellschaft" zu Feld gezogen war.

Zwar gehören noch etwa 700.000 Frauen, Männer und Jugendliche den im Deutschen Sängerbund zusammengeschlossenen Chören an, aber sie dürften die einzigen Deutschen sein, die überhaupt noch singen können, und das sind gerade mal knappe neun Prozent.

Wer selbst nicht singt, der weiß auch die Chormusik nicht mehr zu schätzen. Damit tritt ein wichtiger Teil unseres musikalischen Erbes immer weiter in den Hintergrund. In den Massenmedien kommt ernsthafte Chormusik kaum noch vor, und die Rundfunksender sind es, die das Musikbewußtsein ihrer Hörer und Zuschauer prägen.

Eine Ursache für diesen Verlust mag sein, daß einer der bedeutendsten deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts heute weithin unbekannt ist. Hugo Distler, der im Jahre 1942 aus dem Leben schied, wäre in diesen Tagen 93 Jahre alt geworden. Daß er sich vor allem der geistlichen Musik verschrieben hatte, mag auch ein Grund sein dafür, daß sein Name außerhalb der Kreise aktiv Musizierender vergessen ist. Eine an religiösen Fragen zunehmend desinteressierte Gesellschaft kann auch geistlicher Musik nichts mehr abgewinnen.

Dabei galt Hugo Distler in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts als einer der bedeutendsten deutschen Komponisten. Seine Chorwerke wurden auf überregionalen Chorfesten dargeboten und bejubelt, von Rundfunkstationen aufgeführt, von den bedeutendsten Chören Deutschlands gesungen. Ebenso wie seine Motetten, Messen, Choräle, Kantaten wurden die Orgelwerke hoch geschätzt. Beim "Fest der deutschen Kirchenmusik" in Berlin wurden 1937 mehrere Werke Distlers aufgeführt; über 20.000 Besucher fanden sich ein. Als 1939 beim "Fest der deutschen Chormusik" in Graz Distlers "Mörike-Liederbuch" uraufgeführt wurde, horchte die ganze deutsche Musikwelt auf. Das Publikum bejubelte das Werk, die Fachpresse wie die Tageszeitungen ergingen sich in den höchsten Tönen.

Hugo Distler wurde am 24. Juni 1908 als außereheliches Kind von August Louis Gotthilf Roth, einem Stuttgarter Fabrikanten, und der Schneiderin Helene Distler in Nürnberg geboren. Er wuchs bei seinen Großeltern behütet auf, litt aber sein Leben lang unter der Trennung von der Mutter. Er wird als zartes Kind geschildert, das stets von Angst und Einsamkeitsgefühlen verfolgt wurde. Stets galt er als scheu, weich und sensibel. Früh wurde seine Musikalität erkannt. Er bekam Klavierunterricht und wurde 1927 ins Landeskonservatorium Leipzig aufgenommen, wo er dreieinhalb Jahre Musik studierte mit den Schwerpunkten Orgelspiel und Komposition. Schon sein damaliger Lehrer erkannte in ihm eine "leidenschaftliche Bereitschaft verzweifelter Selbstaufgabe, wenn ihm etwas nicht gelungen schien". Und so reagierte er sein ganzes Leben lang. Stets zweifelte er an der Qualität seiner Arbeit und war bereit aufzugeben, und das obwohl er von seiner Umgebung höchste Anerkennung erfuhr.

Bedeutende Persönlichkeiten der Musikwelt wie die Thomas-Kantoren Straub und Ramin förderten ihn. Er leitete früh Chöre, wurde als Orgelspieler gefragt. 1930 erschien sein erstes großes konzertantes Werk. Seine Ziele steckte er sich extrem hoch.

Trotz äußerster wirtschaftlicher Not entstand ein Werk nach dem anderen, so 1930 die Choralmotette "Herzlich lieb hab ich Dich, o Herr", dann die "Deutsche Choralmesse", die "Kleine Adventsmusik", der "Jahrkreis – 52 geistliche Chormusiken", mehrere Choralmotetten und Kompositionen für Orgel. Zu seiner Tätigkeit als Organist an der Lübecker St. Jacobi-Kirche mußte er mit Unterricht und anderen belastenden Tätigkeiten hinzuverdienen, bis er 1934 als Lehrer an die Kirchenmusikschule in Berlin-Spandau für die Fächer Komposition, Kontrapunkt und Harmonielehrer berufen wurde. Der Rundfunk übertrug immer häufiger Kompositionen von Hugo Distler. Er bekam Kompositionsaufträge von den Reichsrundfunkanstalten. 1935 schrieb die Fachzeitschrift Lied und Volk: "Hugo Distler ist die große Hoffnung der deutschen Kirchenmusik, ja, der deutschen Musik schlechthin." In der Berliner Börsenzeitung konnte man im selben Jahr lesen: "Dieser junge Lübecker Meister erweist sich immer stärker als eine der großen Hoffnungen der deutschen Musik." Seine wirtschaftliche Existenz war nunmehr gesichert. Aber er übernahm sich. Neben der Dozententätigkeit komponierte er, leitete Chöre, erteilte Unterricht.

Distler erstrebte eine Erneuerung der barocken Vokalmusik und ihre Synthese mit neuen musikalischen Ideen an. So wurde er der bedeutendste Erneuerer nicht nur der geistlichen Musik, sondern der Vokalmusik überhaupt. Seine Suiten und ein Cembalokonzert – kürzlich wurde ein im Nachlaß gefundenes weiteres Cembalokonzert in Lübeck uraufgeführt – zeigen ihn aber auch auf dem Weg zum modernen Orchesterstil.

Beeinflußt war Distler von der Jugendmusikbewegung, dem musikalischen Zweig der deutschen Jugendbewegung. Sie wollte breite Schichten des Volkes zu einer musikalischen Betätigung bewegen. Sie entdeckte die alten deutschen Volkslieder neu und knüpfte instrumental wie vokal an die Musik der Renaissance und des Barock an. Die Musik sollte aus der fachlichen Enge befreit werden, das eigene Musizieren sollte zum Kraftquell werden, zur Freude, zur Besinnung und inneren Bereicherung des Volkes. Singen spielte eine ebenso entscheidende Rolle wie die Hausmusik. Fritz Jöde, Walter Rein, Armin Knab, Karl Orff, Walter Hensel, Gerhard Schwarz und eben Hugo Distler, nicht zuletzt aber auch Paul Hindemith sind in diesem Zusammenhang zu nennen.

Distler stieß in Deutschland sowohl bei dem musikalischen Teil des Volkes als auch bei den offiziellen Stellen auf Offenheit, Verständnis und Hilfsbereitschaft. Wie andere bedeutende Komponisten, so wurde auch Distler von staatlichen Stellen finanziell gefördert.

Distler war gewiß kein politischer Mensch, doch lebte er in seinem Volk und mit seinem Volk. Er vertonte Soldatenlieder, schrieb eine Kantate "Ewiges Deutschland" und das Chorwerk "Deutschland und Deutsch-Österreich". Als 1939 der Krieg ausbrach, wurde wenig später auch Hugo Distler gemustert. Weil seine Ernennung zum Professor an der Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik in Berlin bevorstand, wurde er zunächst vom Wehrdienst freigestellt.

Der Krieg bedrückte den sensiblen Künstler außerordentlich. Trotzdem komponierte er mit zunehmender Intensität und arbeitete geradezu besessen als Chorleiter und Organist. Er schrieb Motetten, verfaßte eine "Funktionelle Harmonielehre", gab zahlreiche Konzerte, die alle in der Öffentlichkeit hohes Lob fanden, bekam Aufträge zu Bühnenmusiken. Der Zweifel an der Qualität seiner Werke ließ ihn trotz aller Anerkennung nicht los.

Anfang 1942 berief ihn das Reichserziehungsministerium ins Amt des Direktors des Berliner Staats -und Domchores, eines der repräsentativsten Chöre Europas. Die Reichsmusikkammer stellte den Antrag, Distler für die gesamte Dauer des Krieges vom Wehrdienst zurückzustellen.

Am 1. November 1942 glaubte er seine abgrundtiefe Weltangst nicht mehr ertragen zu können und nahm sich in Berlin in seiner Wohnung das Leben. Auf dem Waldfriedhof in Berlin-Stahnsdorf liegt Hugo Distler begraben, einer der größten deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts.


 
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