© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/01 15. Juni 2001


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Pragmatismus
Karl Heinzen

Der französische Staatspräsident Jacques Chirac hat in einer Grundsatzrede vor Absolventen der nationalen Verteidigungsakademie zwei besonders interessante Akzente gesetzt. Wo alle Welt die Pläne der USA für ein strategisches Raketenabwehrsystem problematisiert, wollen die Franzosen mir nichts, dir nichts ein taktisches auf die Beine stellen. Dieses soll Soldaten auf ihren Einsätzen außerhalb der Landesgrenzen vor Raketen mit begrenzter Reichweite schützen. Sofern hier nicht nur an Handfeuerwaffen gedacht wird, hätten die Franzosen endlich die Chance, ihre technologische Führungsrolle unter Beweis zu stellen. Wen das Projekt dann immer noch nicht abschrecken sollte, Raketen zu bauen und/oder Massenvernichtungsmittel weiterzuverbreiten, den könnte zudem ein Köder locken, von seinem unerfreulichen Tun abzulassen: Jenen Staaten, die auf eigene ballistische Mittel verzichten, sollten, so Chirac, Vorzugsbedingungen eingeräumt werden, wenn sie durch Arianespace Satelliten ins All schießen wollen.

So weit der Präsident hier auch vorgeprescht sein mag, er verbleibt im Rahmen der Tradition: Die Außenpolitik Frankreichs zielt auf Geltung und nicht auf Machtentfaltung. Diese pragmatische Prioritätensetzung basiert auf der Erinnerung daran, welchen Beitrag die große Nation selbst zu leisten vermochte, um in den Weltkriegen am Schluß zu den Gewinnern zählen zu dürfen. Der republikanische Nationalismus unserer Nachbarn ist daher, wie das in der Berührung des europäischen mit dem maghrebinischen und dem afrikanischen Kulturkreis vielleicht sowieso nicht anders möglich ist, enthusiastisch, aber keineswegs aggressiv. Die Universalität des Selbstverständnisses unterminiert allenfalls die Bereitschaft, sich vereinnahmen zu lassen. Französische Außenpolitik ist in diesem Sinne der Versuch, mit eigenen Worten das zum Ausdruck zu bringen, was die Partner mit einer Stimme sprechend sagen. Diese Praxis ist so identitätsstiftend wie ergebnisneutral. Auch die USA können mit ihr gut leben, fällt es ihnen doch leichter, auf Empfindlichkeiten denn auf Interessen Rücksicht zu nehmen.

Wie gut französischer Anspruch und amerikanische Realität dabei harmonisieren, zeigt nun eben die Diskussion um das Missile Defense System, mit dem sich die Amerikaner die Handlungsfreiheit auch gegen Staaten vorbehalten wollen, die schon heute oder vielleicht erst morgen über interkontinentale Trägersysteme für Massenvernichtungswaffen verfügen mögen. Hier einzuwenden, daß die USA sich damit als die einzige verbliebene Supermacht aufführen, hieße den Beweis dessen zu provozieren, was man doch eigentlich ignorieren will, daß die USA eben genau diese einzige verbliebene Supermacht sind. Das Versprechen eines taktischen Raketenabwehrsystems unterläuft eine solche Gefahr, ohne an den Tatsachen zu rütteln. An dieser Fähigkeit, an die eigene Größe zu glauben, ohne die Politik auf sie zu gründen, wird sich die EU ein Beispiel nehmen müssen.


 
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