© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/01 15. Juni 2001

 
"Nizza ist tot"
Irland: Volksabstimmung blockiert den Vertrag von Nizza
Philip Plickert

Herr Coughlan, Sie waren einer der Wortführer der Nein-Kampagne während des jüngsten Referendums. Nach dem überraschenden Nein der Iren bezeichneten Sie in einer Presseerklärung den Vertrag von Nizza als "tot". Was heißt das konkret?

Coughlan: Wenn die irische Regierung die Entscheidung des Volkes akzeptiert, das den Vertrag am 7. Juni mit einer Mehrheit von 54 Prozent zu 46 Prozent abgelehnt hat, dann ist Nizza tot. Der Vertrag kann nicht ratifiziert werden, wenn nicht alle EU-Staaten ihm zustimmen. Die Frage ist nun, ob die irische Regierung die Volksabstimmung akzeptiert und ihren EU-Partnern deutlich macht, daß der Ratifizierungsprozeß abgebrochen werden muß. Allerdings könnte es auch passieren, daß die irische Regierung darauf spekuliert, die Bürger bei einem zweiten Referendum umzustimmen. Dann stünde die irische Regierung in einer Linie mit der Kommission und den großen EU-Staates gegen das eigene Volk. Das wäre Betrug. Die Iren würden während des kommenden Jahres unter Druck gesetzt, ihre Meinung zu ändern. Eine solche Verrücktheit wäre sowohl für die EU als auch für Irland ein Desaster.

Warum haben die Iren den Vertrag von Nizza abgelehnt?

Coughlan: Es gibt viele Gründe. Sie haben alle zu tun mit der Angst vor einem weiteren Abbau ihrer Demokratie, ihrer Souveränität, ihrer nationalen Unabhängigkeit und eigenständigen Außenpolitik. Ebenso ging es gegen die Zentralisierung und Militarisierung in der EU. Die in Nizza getroffenen Verfügungen zu einer sogenannten vertieften Kooperation schlagen vor, die EU in zwei Clubs zu teilen. Einer inneren Gruppe von acht Ländern, angeführt von Deutschland und Frankreich, wäre erlaubt, die EU aus egoistischem Machtkalkül regelrecht zu kidnappen. Nizza hat das Einstimmigkeitsprinzip abgeschafft, das uns vor solchen Entwicklungen schützen könnte. Nizza hat die Europäische Union als eine Partnerschaft von zumindest rechtlich Gleichen zerstört. Es ebnete den Weg für Jacques Delors’ "avant-garde" und für Joschka Fischers "Regierung, die mit einer Stimme zum Rest sprechen könnte". Das ist ein reaktionäres und antidemokratisches Bild.

Hat die geplante Osterweiterung der EU in Wahlkampf auch eine Rolle gespielt?

Coughlan: Nein, die Erweiterung war kein entscheidender Faktor für das irische "Nein" zu Nizza. Alle Parteien und Gruppen auf der "Nein"-Seite haben erklärt, daß sie nicht gegen die Erweiterung sind, solange die Bewerberländer fair behandelt werden und solange ihre Völker in fairen und freien Referenden zustimmen.

Wie wird sich das irische "Nein" auf die Beitrittsverhandlungen auswirken?

Coughlan: Die sollten weitergehen. Der Vertrag von Nizza ging nicht in erster Linie um die Erweiterung der EU. Hauptsächlich sollte er sicherstellen, daß Deutschland und Frankreich weiterhin die Politik der EU dominieren können. Das sollte geschehen, bevor eine bedeutende Zahl von neuen Mitgliedern hinzustößt. Bis zu fünf neue Staaten können beitreten unter den Bedingungen des Amsterdamer Vertrages, ohne daß weitergehende Vertragsänderungen nötig würden. Das sollte jetzt so geschehen.

Welche Länder sind ihrer Meinung nach reif für einen Beitritt zur EU?

Coughlan: Diejenigen, die ihre Verhandlungen abgeschlossen haben und deren Regierungen und Völker in freien Abstimmungen die Beitritte gebilligt haben. Noch kein Bewerber ist also derzeit reif. Im Moment sieht es so aus, als seien die aussichtsreichsten Kandidaten Ungarn, die Tschechische Republik, Slowenien und Malta. Die Malteser werden in einem Referendum aber höchstwahrscheinlich "Nein" sagen – viel Glück wünsche ich ihnen!

Die EU-Kommission in Brüssel tut sich offenbar sehr schwer damit, den Willen der Völker zu akzeptieren. Welche Reform der EU-Institutionen schlagen Sie vor?

Coughlan: Ich unterstütze die Vorschläge von "SOS Demokratie", einer länderübergreifenden EU-Parlamentariergruppe: Der Vertrag von Nizza muß neu verhandelt werden, denn er schwächt die parlamentarische Demokratie der Nationalstaaten. Auf keinen Fall darf am Ende der für 2004 angestrebten konstitutionellen Verhandlungen eine Verfassung für eine sogenannte Europäische Föderation, also einen Superstaat, stehen, sondern der Vertrag muß die nationalen Demokratien respektieren. Der nächste EU-Vertrag muß klarstellen, daß die Gesetzgebungskompetenz bei den nationalen Parlamenten liegt, außer in eindeutig definierten Belangen. Niemals wieder darf es den supranationalen Institutionen möglich sein, weitere Kompetenzen an sich zu reißen, etwa durch das Interpretationsmonopol der Kommission oder die oft revolutionären Urteile des Europäischen Gerichtshofs. Alles in allem muß die EU demokratischer und bürgerfreundlicher werden.

 

Anthony Coughlan, emeritierter Universitätsdozent für Sozialwissenschaften am Trinity College in Dublin, ist einer der Wortführer der irischen Nizza-Gegner. Er ist Sekretär der "National Platform for Democracy, Independence and Neutrality". Informationen im Netz: www.nationalplatform.org


 
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