© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/01 15. Juni 2001


Wende in Berlin
Die Hauptstadt kippt nach links
Hans-Jörg von Jena

Spannende Tage in Berlin! Sie könnten sich über Wochen und Monate hinziehen, gewiß zur Freude der Medien. Ob auch zur Freude des Publikums? Machtwechsel macht zwar Spaß, löst aber keine Probleme.

Ende dieser Woche soll der langjährige Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen samt seinen vier CDU-Senatoren gestürzt, anschließend der SPD-Fraktionsvorsitzende Klaus Wowereit mit Hilfe der Grünen und – da liegt der Knackpunkt – der PDS zum Nachfolger gewählt werden.

Der neue Senat, aus SPD und Grünen und "geduldet" von der PDS, soll nach dem Willen der Betreiber des Machtwechsels nur eine Übergangserscheinung sein. Man will schnelle Neuwahlen. Paradoxerweise kann nur die CDU sie ermöglichen, indem sie der Selbstauflösung des Parlaments zustimmt. Ein Streit um Termine ist dabei ziemlich sinnlos. Entscheidend ist: die linke Mehrheit war in Berlin seit den letzten Wahlen 1999, trotz des guten Abschneidens der CDU, und auch vorher schon immer da. Wenn sich die drei Parteien links der CDU jetzt einig sind, es miteinander zu versuchen, können sie sich Neuwahlen durchaus sparen. Oder traut man sich die überraschende Partnerschaft nicht ohne eine Neubefragung des Wählers zu, den man eben erst durch die arrogante Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre um einen Teil seines Einflusses gebracht hat? Die CDU sollte das neue Bündnis dann dazu zwingen, die Hürden des Neuwahlverfahrens (Unterschriftensammlung, Volksbegehren, Volksentscheid) korrekt zu nehmen.

Der im Abgeordnetenhaus nicht vertretenen FDP kämen Neuwahlen vermutlich zugute. Ansonsten dürfte ihr Resultat kaum gravierend von dem gewohnten Bild abweichen. Bezieht man die PDS ein, ist Berlin eine linke Stadt und keinerlei bürgerliche Mehrheit in Sicht. Trotzdem täuscht sich hoffentlich niemand über die Risiken eines Berliner Machtwechsels. Was, wenn die PDS die SPD (gegenwärtig trennen sie fünf Prozent) überflügelt? Dann würde wahrscheinlich Gregor Gysi Stadtchef, aber die SPD könnte sich in der Falle einer Art Harzburger Volksfront gefangen sehen, wie einst die Deutschnationalen bei den Nazis.

Grund und Anlaß der Unruhe dürfen bei alledem nicht aus den Augen verloren werden. Die Verärgerung in der Bevölkerung über den Landowsky-Skandal ist groß. Milliarden Mark von einer mehrheitlich landeseigenen Bank in den Sand gesetzt: das sollte sich kein Gemeinwesen leisten, ein hochverschuldetes schon gar nicht. Gewiß ist Stimmungsmache an der gegenwärtigen Empörung nicht unbeteiligt. Investitionen müssen sein, im Nach-Wende-Berlin besonders, und wo Investitionen sind, gibt es Investitionswagnisse, die im Desaster enden können. Auch in Bayern hat eine Bank, über die der Regierungschef die Aufsicht führt, dreieinhalb Milliarden Minus gemacht.

Verarmung und Einsparungszwänge zerren seit Jahren an den Nerven der Berliner. Im letzten Jahrzehnt sind zwei Drittel der industriellen Arbeitsplätze in der früher "größten Industriestadt zwischen Paris und Moskau" verlorengegangen. Die Verschuldung des einzelnen Bürgers ist seit 1991 auf das Fünffache gestiegen. Die Steuern reichen, grob gesprochen, nur noch dazu, die Gehälter zu zahlen.

Daß die Bundeshilfe in Riesenschritten abgebaut wurde und die Länder der Hauptstadt nur halbherzig-lustlos unter die Arme greifen, hat seine Wirkung getan. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Die oft hämischen Kommentare zur Berliner "Mißwirtschaft" in überregionalen Tageszeitungen sind ein Beweis dafür, wieviel Ressentiment und Ignoranz gegenüber Berlin nach wie vor im Land lebendig ist.

Eberhard Diepgen hat der besonderen Situation seiner Stadt durch Kompromisse Rechnung getragen. Die Gleichbehandlung des öffentlichen Dienstes in Ost und West, überdies der hartnäckige Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen waren es nicht zuletzt, die ihn zum – wie Umfragen zeigten – beliebtesten Politiker der Stadt gemacht haben. Zugleich hat er sich, etwa durch das Festhalten am U-Bahn- Neubau Unter den Linden (der ohnehin größtenteils vom Bund bezahlt wird) für die Gestaltung der Zukunft offen gezeigt. Trotzdem ist Berlin ins Taumeln geraten.

Brutalstmöglich formuliert: Berlin ist pleite. Wäre der Stadtstaat ein Privatbetrieb, er wäre reif für die Konkursverwaltung. Zerbrechen sich die Macher, die neuen wie die alten, ernsthaft den Kopf über die notwendige Sanierung? Vorerst schlägt man vor allem mit Halbwahrheiten noch einmal die Schlachten der Vergangenheit. Die SPD neigt zur Bagatellisierung ihrer schlimmen Erfahrungen mit der SED, während die CDU den kommunistischen Teufel der PDS an die Wand malt.

Was können Grüne und PDS für die Sanierung Berlin tun, wozu die CDU nicht imstande war? Beide erstreben vor allem Verteilungsgerechtigkeit. Haushaltsexperte Harald Wolf, der Berliner PDS-Fraktionsvorsitzende, würde als Finanzsenator nicht eine Mark mehr vorfinden oder bewegen können als bisher. Mag sein, daß der Bundeskanzler für einen ihm genehmen Senat zusätzlich Millionen aus der Tasche zieht; um mehr als ein Trinkgeld könnte es sich nicht handeln. Und die Fusion mit Brandenburg, wenn sie denn überhaupt erreichbar ist, bringt gar nichts; auch Brandenburg ist bettelarm.

Die Lösung liegt in einer gemeinsamen nationalen Anstrengung. Für West-Berlin gab es sie schon einmal. 1950 war jeder dritte arbeitsfähige Halbstadt-Bewohner arbeitlos. 1960 hatte man Vollbeschäftigung. Was einst für den bedrohten Außenposten erreichbar war, sollte das nach wie vor reiche Land für seine Hauptstadt nicht zuwege bringen können?

Ob es richtig wäre, Berlin nach dem Vorbild Washingtons zu einem "Bundesdistrikt" zu erklären (wie einer der Vorschläge lautet, die immerhin über den Tellerrand parteipolitischen Taktierens hinausreichen), steht dahin. Berlin als Bundesland, das war seinerzeit gewiß eine Notlösung. Andererseits wäre den Berlinern niemals eine Zurücksetzung zuzumuten; in Washington gab es zwei Jahrhunderte lang nicht einmal ein Wahlrecht.

Am wichtigsten ist der mentale Prozeß. Die haupstadtentwöhnten Deutschen müssen allmählich – wieder oder erstmals – begreifen, was sie an Berlin haben. Dazu gehört, daß Bund und Länder der Stadt aus der Patsche helfen und sie, die sich ja müht, leben lassen. Dazu gehört beispielsweise auch, daß an der Kultur, dem weltweit ausstrahlenden Potential der Stadt, nicht gespart, sondern im Gegenteil, in sie großzügig investiert wird. Es kann dabei auch kein Tabu sein, zur Behebung einer verfahrenen Situation vorübergehend neue Schulden zu machen, wie es einst der Ökonom Keynes empfahl. Hält man es im Privatleben nicht auch so?


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