© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/01 08. Juni 2001

 
Stufen der Intimität
Kino: "Intimacy" von Patrice Chéreau
Claus-M. Wolfschlag

Eine unkonventionelle Beziehung, die der Londoner Barkeeper Jay (Mark Rylance) und die Laienschauspielerin Claire (Kerry Fox) miteinander unterhalten. Sie kommt jeden Mittwoch in sein Haus. Dort reden sie kaum, sondern fallen übereinander her. Sie fordert nichts, gibt sich hin. Danach verschwindet sie wieder in den Straßen der Großstadt. War Jay diese sexuelle Verbindung anfänglich ausreichend, so beginnt er langsam Interesse an der geheimnisvollen Unbekannten zu entwickeln, spioniert ihr heimlich hinterher, dringt in ihr Leben ein. Auf seiner Suche durch das Gewühl der Stadt lernt er schrittweise Hintergründe ihres Daseins, ihren Ehemann, ihren kleinen Sohn kennen. Dabei spürt er der Frage nach, ob jene Frau auch Interesse an ihm entwickeln könnte, ob die körperliche Intimität zu seelischer Verbindung führt.

Ausgehend von Texten des britischen Autors Hanif Kureishi hat der französische Regisseur Patrice Chéreau ("Das Fleisch der Orchidee", "Die Bartholomäusnacht", "Wer mich liebt, nimmt den Zug") einen Film um den Fragenkomplex Sexualität und Intimität gedreht. Eine leidenschaftliche Verbindung, die auf dem Fehlen von Vertrautheit und Verbindlichkeit gegründet scheint, wird auf ihren Hintergrund untersucht. Chéreau beschreibt den Moment der Kontaktaufnahme zu Kureishi: "Von diesem Tag an stand für mich fest, daß ich mit diesem Autor, der mir etwas über mich selbst, über meine Generation und unsere Hoffnungen in den Siebzigern und Achtzigern zu erzählen verstand, zusammenarbeiten wollte. Mit diesem Autor, der versuchte, mir etwas über moderne Paare zu erzählen und darüber, was zwei Menschen zusammen vermögen oder auch nicht."

Auch die scheinbare Unverbindlichkeit einer sexuellen Verbindung entwickelt mit zunehmender Dauer seelische Brisanz. Der Rattenschwanz der Neugier und Gefühle folgt wohl zwangsläufig der gefräßigen Gedankenlosigkeit.

Dabei ist der auf der letzten Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnete Film keinesfalls ein erotischer Augenschmaus. Die ausgesprochen langen Sexualszenen wirken keinesfalls ästhetisiert, sondern vermitteln einen hyperrealistischen Blick: Keuchende, nicht mehr junge Leiber zweier vereinsamter Menschen, von der Lust überwältigt. Dennoch besitzt diese Sicht durchaus faszinierende Einblicke. Die Körper sind einander fremd und undurchlässig, ihre Anstrengung während des Aktes eindringlich zu spüren; zugleich durchströmt Intimität den Raum.

Auch ansonsten ist "Intimacy" wahrlich kein Unterhaltungsfilm, sondern fordert dem Zuschauer nicht nur aufgrund der hektischen Schnitte einiges ab. Jay lebt in völlig heruntergekommenen Verhältnissen, seit er in einer Nacht spontan seine Frau und seine Kinder verlassen hat – ein Schritt, vor dem die ängstlich zerrissene Claire zurückschreckt. Der Sex mit dem fremden Mann ist für sie eine wöchentliche Flucht aus dem Alltag einer Ehe, die kein Leben mehr, aber Sicherheit vermittelt.

Doch was bedeutet es den beiden langsam alternden Menschen, miteinander zu schlafen? Kann aus ihnen deshalb ein Paar werden? Soll auch sie noch einmal von vorne anfangen, auf die Gefahr hin, so zu enden wie Jay, der sich vom Casanova zum erwartungsfrohen Kind wandelt, um schließlich zum von Einsamkeit zerfressenen alten Mann zu werden?

Die dargestellten Charaktere und ihre Leben unterliegen einer komplizierten Dramaturgie – der Betrachter bekommt nur Häppchen, kurze Einblicke serviert, deren Hintergrund sich aufgrund dieser selektiven Präsentation selbst auf den zweiten Blick nur ausgesprochen schwer vollständig erschließt. Aber wie sollte man auch ein, zwei, mehrere Leben in 117 Minuten wirklich erfassen können?


 
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