© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/01 01. Juni 2001

 
Mutter Europas verratene Kinder
Die neue Zeitschrift "Kafka" bestellt den mitteleuropäischen Acker ganz im Sinne ihres Geldgebers
Doris Neujahr

Fünfzig Jahre blieb Europa säuberlich in Ost und West geschieden. Als die Mauer fiel, wollte jeder schnell den Osten abstreifen. Die Bezeichnung blieb für die Russen als die europäischen Schmuddelkinder reserviert. Abgesehen vom psychologischen Ärgernis war der summarische Begriff "Osten" auch in faktischer Hinsicht falsch, weil er 1.000 Jahre europäischer Geschichte und Kultur negierte: Budapest, Prag, Warschau und Bratislava (Preßburg) gehören seit der ersten Jahrtausendwende der lateinischen, nicht der orthodoxen Welt an. Andererseits sind Tschechien, Polen, die Slowakei und Ungarn Teil des slawischen Kulturkreises bzw. aus einem Vielvölkerstaat hervorgegangen.

In den achtziger und verstärkt in den neunziger Jahren wurde hier der Begriff "Mitteleuropa" reanimiert, um die Nähe zum westeuropäischen Modell hervorzuheben, ohne die kulturelle und geschichtliche Differenz und die politische Realität zu verwischen. Doch kann er heute, angesichts der Beitrittsverhandlungen zur EU und dem Bestreben der ostmitteleuropäischen Länder, selber schnellstmöglich zum Westen zu werden, mehr sein als eine historische Reminiszenz? Die neue "Zeitschrift für Mitteleuropa" namens Kafka versucht eine positive Antwort zu geben.

Kafka, das klingt nach Prag, nach Kakanien und der seligen Welt von gestern, nach multinationaler Kulturtradition, nach einer modernen, unheimlichen, universellen Jahrhunderterfahrung. Die Zeitschrift erscheint vierteljährlich in deutsch, polnisch, tschechisch/slowakisch und ungarisch. Herausgegeben – und das heißt auch: finanziert – wird die Zeitschrift vom Goethe Institut Inter Nationes e. V., also vom Bund, und zwar mit jenen Geldern, die im vergangenen Jahr den Kulturinstitutionen der Vertriebenen gestrichen wurden. Aber noch in dieser Umschichtung bleibt unausgesprochene Kontinuität gewahrt: "Mitteleuropa" ergibt nur einen Sinn, wenn man den deutschen Sprachraum als sein macht-, kultur- und finanzpolitisches Gravitationszentrum akzeptiert.

Sonst ist der Begriff ein "Untoter", wie FAZ-Korrespondent Matthias Rüb in seinen weitausholenden, aber ratlosen Aufsatz "Wo liegt Mitteleuropa?" einräumen muß. Istvan Eörsi glaubt, der heutige Mitteleuropäer, der "auf Einlaß ins westliche Tor" warte, zeichne sich durch seine Skepsis aus, die einem Mehr an Erfahrungen, dem Erleben zweier unterschiedlicher Gesellschaftssysteme, entspringe. Adam Krzeminski thematisiert den langen Alptraum der polnischen Geographie, der jetzt endlich zu Ende sei. Deutsche Leser erfahren so, daß die gefährdete Mittellage und der "Alpdruck der Koalitionen" keine deutsche Exklusivität waren. Beim Molekularbiologen und Bürgerrechtler Jens Reich taucht Mitteleuropa als das Uneingelöste und Abwesende auf, wenn er vom "Unbehagen darüber" schreibt, "daß wir die Freiheit, die wir nach langen Jahren erreicht haben, nicht für das selbstbestimmte Leben nutzen, das wir damals für sie entworfen haben". Der Schriftsteller Jiri Kratochvil erklärt die gelegentliche tschechische Intransingenz aus der Furcht vor dem Phantomschmerz: "Wenn wir einmal definitiv in Europa angekommen sind, verlieren wir für immer unsere Märtyrer-Aureole und sind nicht mehr das veleugnete und von allen verratene Kind von Mutter Europa, das sein Leben lang in einer dunklen Kommode eingeschlossen war, wir verlieren somit unser pervertiertes Märtyrer-Privileg und werden nur noch ein gewöhnliches demokratisches und freies Volk sein."

Woher aber kommt, bei soviel intellektueller Potenz, der Eindruck der gepflegten Langeweile? Es ist das alte Lied: Eine Internationale gutsituierter Herren (Damen kommen kaum vor) verständigt sich darüber, daß die Welt entschieden besser wäre, wenn nur alle so aufgeklärt dächten wie sie. Im Editorial ist von "Lebenslügen", "Vorurteilen" und "Feindbildern" die Rede, die man verabschieden wolle. Doch mit diesen verhält es sich wie mit dem Rumpelstilzchen: Der bösartige Kobold verliert erst seinen Schrecken, als man ihn beim Namen nennt. Doch kaum einer derKafka-Autoren traut sich, in den mitteleuropäischen Leichenkeller hinabzusteigen. Alle bemühen sich um einen vermeintlich höheren Standpunkt. Die Kehrseite der Medaille ist oft pure Ignoranz.

Es ist ja nicht einfach Unkenntnis, wenn Rüb es als Zeichen deutscher Hybris darstellt, daß 1871 die "territoriale Einheit der deutschen Nation (...) auch die Gebiete jenseits der Elbe" einschloß, "die seit den Tagen des Deutschen Ordens im 12. Jahrhundert unter ’germanischem‘ Einfluß standen", oder wenn Jens Reich sich über die "lästigen Aktivitäten der Heimatvertriebenenverbände" mokiert. Krzeminski läßt zwar sein Unbehagen über das "Scherbengericht" durchblicken, das die EU gegen Österreich veranstaltete, um dann eilfertig zu versichern, man habe schließlich "im Namen gemeinsamer Werte solidarisch gegen Fremdenfeindlichkeit und Populismus" gehandelt. Zu den selbsternannten Richtern gehörte damals Spanien, wo zur gleichen Zeit ein entfesselter Mob Jagd auf marokkanische Gastarbeiter machte, ohne von der Polizei belangt zu werden. Wo bleibt die mitteleuropäische Skepsis gegenüber dieser Heuchelei? Haben wir von der EU-Erweiterung in geistiger Hinsicht mehr als nur vorauseilenden Opportunismus zu erwarten?

Nicht uninteressant, doch voller ätherischer Wortschwaden ist der Beitrag der FAZ-Edelfeder Lothar Müller "Über Eduard Goldstücker, Kafka und Mitteleuropa". Der bekannte Prager Germanist und Kafka-Forscher Eduard Goldstücker (1913–2000) gehörte zu den jüdischen Intellektuellen, die die religiöse Heilserwartung ihrer Väter in die kommunistische Ideologie überführten. Als zweiter Fixpunkt in Goldstückers Denken fungierte der Philologe und tschechoslowakische Staatsgründer Tomas G. Masaryk. Dessen Vorbildwirkung habe Goldstücker Freiräume jenseits der Orthodoxie eröffnet, die ihn zu einem intellektuellen Wegbereiter des "Prager Frühlings" werden ließen. Damit wird auch Masaryk gleichsam nebenbei zu einer mitteleuropäischen Symbolfigur.

Die Frage, warum dessen Lichtgestalt in Goldstückers Weltbild mit den Führern der kommunistischen Internationale derart friedlich koexistieren konnte, problematisiert Müller genausowenig wie die Tatsache, daß die "Imprägnierung" der tschechischen Kommunisten "mit dem Geist der (Masaryk)-Republik" sich 1948 bei der Stalinisierung des Landes als folgenlos erwies. Die Tschechoslowakei habe damals "das Erbe Masaryks" ausgeschlagen, meint er achselzuckend.

Oder auf perverse Weise vollendet? Hätte Müller sich ein wenig in die Niederungen der Geschichte begeben, wäre er darauf gestoßen, daß "das Erbe Masaryks" durchaus zwiespältig war und eine Erosion der politischen Moral beinhaltete, welche sich bei Benesch und dann bei den Kommunisten fortsetzte. Masaryk selbst hatte die Axt an eine freiheitliche mitteleuropäischen Option gelegt, als er 1918 die Benachteiligung der Deutsch-Böhmen damit begründete, sie befänden sich nur als "Immigranten und Kolonisten" in der neugegründeten Republik. Die Art und Weise seiner Staatsgründung implizierte Elemente nationalrevolutionärer Gewalt gegen die deutsche Minderheit, ohne die die späteren Katastrophen nicht erklärbar sind. Das Sinnieren über die kommunistische Machtergreifung 1948 bleibt sinnlos, wenn man nicht die Verwüstungen erwähnt, die die kurz zuvor erfolgte Entrechtung und Vertreibung der Deutschen innerhalb der tschechischen Gesellschaft anrichtete.

Müller serviert lieber ästhetischen Tee. Dazu reicht Kafka ein Foto von Masaryks engstem Mitarbeiter und Nachfolger im Präsidentenamt, Eduard Benesch, als weiteres Beispiel des guter Mitteleuropäer gewissermaßen. Das allerdings ist nicht nur ignorant, sondern schamlos. Mit Beneschs Namen bleiben die Vertreibung von Millionen Menschen aus ihrer mitteleuropäischen Heimat und jene monströsen Dekrete verbunden, die Mordtaten der viehischsten Art legalisierten. Damit liegt Kafka voll im Zeitgeist und – womit der Kreis sich schließt – auf der Linie des Geldgebers, der Bundesregierung, die nichts dagegen hat, daß die Benesch-Dekrete demnächst zum Rechtsraum der EU-Raum gehören.Ach ja, wozu braucht Mitteleuropa überhaupt ein neues Zeitgeist-Magazin?

Die Themen der beiden nächsten Nummern lauten "Heimat" und "Generationenbrüche". Bleibt zu hoffen, daß die Autoren dann mehr Mut zum Querdenken haben und die Zeitschrift tatsächlich ein Forum des produktiven Streits wird.

 

Kafka. Zeitschrift für Mitteleuropa. Redaktion: Stresemannstr. 128, 10117 Berlin. Gratis-Vertrieb über: Inter Nationes (Vertrieb), Kennedyallee 91-103, 53175 Bonn


 
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