© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/01 01. Juni 2001


Aufbruch in die neue Welt
Gentechnik-Debatte: Die monströse Vision vom idealen Menschen
Michael Wiesberg

In der Diskussion in den Unionsparteien um die Gentechnik verkündete der stellvertretende Parteivorsitzende Jürgen Rüttgers jüngst selbstbewußt: "Die CDU ist gegen Selektion. Behindertes Leben ist für uns gleich wertvoll. Es gibt kein Recht auf ein gesundes Kind." Viele deutsche Wissenschaftler, die einen Eingriff in das menschliche Erbgut ablehnen, denken ähnlich. Das Thema "genetische Manipulation des Menschen" wird von ihnen in der Regel gemieden. Man fürchtet das Mißtrauen einer ohnehin eher wissenschaftskritischen veröffentlichten Meinung. Also gibt man sich skeptisch im Hinblick auf die Möglichkeiten, die die Gentechnik eröffnen könnte. So Jens Reich, Molekularbiologe am Max-Delbrück-Zentrum in Berlin: Der "Mensch nach Maß" sei "eine irrige Allmachtsphantasie". Es treffe zwar zu, so Reich, "daß die meisten biologischen Merkmale eine erbliche Kompenente" hätten. Deren Ausprägung sei jedoch so "unauflösbar verzahnt mit Einflüssen der Umwelt und der Lebensweise", daß eine "gezielte Beeinflussung komplexer Merkmale wie Verhalten oder Intelligenz" ausgeschlossen sei. "Allenfalls", so Reich, "könnte man Unerwartetes erreichen: Pfusch und Fehlbildung".

Reich, der durchaus stellvertretend für viele Wissenschaftler seines Faches in Deutschland spricht, steht mit seiner Skepsis international gesehen allerdings eher alleine dar. Insbesondere in den USA, aber auch in Rußland, herrscht im Hinblick auf die sich abzeichnenden Möglichkeiten der Gentechnik eher eine euphorisch-grenzenlose Aufbruchstimmung.

Wie sich die humangenetische Zukunft der Menschheit gestalten wird, dürfte im nicht unerheblichen Maße in den USA entschieden werden, deren Biotech-Industrie von keinerlei ethischen Skrupeln geplagt zu sein scheint. Im kalifornischen Sorrento Valley findet sich kaum ein Firmenschild, auf dem nicht die Begriffe "Bio", "Gen" oder "Lifescience" auftauchen. Sequenom ist eine der hier ansässigen Firmen. Deren technischer Direktor Charles Cantor macht kein Hehl daraus, was Forschungsgegenstand von Sequenom ist: "Wir suchen", so Cantor in einem Interview für ein Feature des Deutschlandfunks, "die Unterschiede zwischen verschiedenen Menschen. Die nennen wir Snips. Das sind im Grunde kleine Tippfehler in den Buchstaben des Erbgutes ... Wir wollen mit den Snips Genprofile erstellen, so daß jeder Patient in Zukunft eine auf sein Erbgut abgestimmte Behandlung erhält ... Wenn wir die Snips dann irgendwann besser verstehen, werden wir wirklich Ursachen von Krankheiten behandeln können und nicht nur Symptome."

Daß für die Realisierung dieses hochgesteckten Zieles die Anwendung der in Europa verbotenen Keimbahntherapie unabdingbar ist, ist für Cantor kein Thema. Wohin die Reise gehen soll, daran lassen Wissenschaftler wie er keinen Zweifel: "Wir haben jetzt erstmals die Möglichkeit, unsere eigene Evolution zu beeinflussen, und wir werden uns irgendwann selbst verändern. Da habe ich gar keinen Zweifel. Ich hoffe nur, daß es wir es klug anstellen. Denn davon hängt ab, ob wir als Art überleben."

Ähnlich wie Cantor beurteilt French Anderson, der "Papst der Gentherapie", die Entwicklung. Er spricht sich zwar gegen die Anwendung der Keimbahntherapie beim Menschen innerhalb der nächsten 15 bis 20 Jahre aus, weil er diese (noch) für nicht sicher hält. Daß aber die gentechnische Manipulation des Menschen möglich werden wird, davon ist Anderson überzeugt: "Welche Eltern würden ihrem Kind ein angeborenes Gen zumuten, das es tötet oder zu einer schweren Krankheit führt, wenn sie das verhindern könnten? (…) Sobald Gene sicher sind, ohne Risiko und mit Erfolg verändert werden können, werden die Eltern es wollen. Davon bin ich fest überzeugt. In 30 Jahren wird die Keimbahntherapie Routine sein."

Daß dann auch einem möglichen Mißbrauch der Gentechnik der Weg bereitet werden könnte, wird von ihren Kritikern immer wieder beschworen. Schwierigkeiten bereitet aber schon die Frage, wo genau dieser Mißbrauch beginnt. Wer legt die Grenzen fest? Mit diesen Fragen hat sich Lee Silver, ein Molekularbiologe von der Universität Princetown, in seinem in den USA stark diskutierten Buch "Remaking Eden. How genetic Engineering and Cloning will transform the American Family" (1998) beschäftigt. Im Gegensatz zu Jens Reich hält Silver die Manipulation menschlicher Gene nicht für eine "irrige Allmachtsphantasie", sondern für ein bereits eingetretenes Faktum. Er ist der Überzeugung, daß der Kapitalismus die Gesellschaft spalten wird: in die Habenden und Nichthabenden. Die Ha-benden werden ihren Kindern die für sie vorteilhaften Gene kaufen können. Generation für Generation werden die Habenden ihr Erbgut verbessern können. Daß sich dadurch die Schere zwischen gentechnisch manipulierten und nicht manipulierten Kindern immer weiter öffnen könnte, ist für Silver eine "schreckliche Vision für die Zukunft". Solange wir aber den Kapitalismus akzeptierten, so Silver, sehe er keine Möglichkeit, daß diese "Vision" verhindert werden könnte.

Von Silvers "Vision" zu Aldous Huxleys Zukunftsroman "Brave New World" ist dann nur noch ein kleiner Schritt. In der eugenischen Utopie von Huxley werden Menschen nicht mehr geboren, sondern künstlich erzeugt und dann anschließend konditioniert. Noch vor der Geburt erfolgt eine Einteilung in sechs Klassen, die von Alpha bis Eta reichen. Es gibt jedoch auch in Huxleys Schöner Neuer Welt noch einige Menschen, die natürlich gezeugt worden sind und außerhalb der Städte in Reservaten leben.

Ob die Visionen, die Huxley oder Silver beschwören, jemals Wirklichkeit werden könnten, kann vom heutigen Standpunkt aus nicht beurteilt werden. Eines aber kann festgehalten werden: nämlich daß die ethischen Prinzipien, die im Hinblick auf die gentechnische Manipulation des Menschen innerhalb der EU gelten, von außereuropäischen Staaten nicht geteilt werden. Staaten wie die USA oder Rußland werden deshalb die Taktzahl in der Humangenetik vorgeben. Es sei nur an eine Aussage des Petersburger Humangenetikers Wladislaw Baranow erinnert, der vor kurzem auf einer Humangenetik-Konferenz seinen westlichen Kollegen beschied, daß diese in Rußland mit menschlichen Föten so viel arbeiten könnten, wie sie wollten. Gesetze, die die Genforschung behindern oder beeinträchtigen, gibt es in Rußland nicht.

Auch deutsche Wissenschaftler dürften immer heftiger auf eine Änderung der hiesigen Gesetzeslage drängen. Im Hinblick auf die weitere Entwicklung der Humangenetik muß damit gerechnet werden, daß die Eigendynamik der Forschung die heutigen ethischen Grenzen auch in Europa weiter verschieben wird.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen