© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/01 18. Mai 2001

 
Bewältigungsstandort Berlin
Wolf Jobst Siedler über die Flut von Mahnmalen in der deutschen Hauptstadt
Wolf Jobst Siedler

Wolf Jobst Siedler, 75, ist Verleger und Publizist. Sein hier veröffentlichter Beitrag erschien in einer stark gekürzten Fassung in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung am 28./29. April. Weil Siedler aber an der Veröffentlichung der vollständigen Fassung gelegen ist, stellte er das ungekürzte Manuskript der JUNGEN FREIHEIT zur Veröffentlichung zur Verfügung.

Kurz vor dem Krieg zeigte Hitlers "Generalbauinspektor" Albert Speer in seinem Amtssitz am Pariser Platz seinem Vater die Planungen für das neue Berlin. Speer berichtet in seinen "Erinnerungen", daß sein Vater, selber ein angesehener Architekt, schweigend die Flut der Kuppeldome, Triumphbögen, Führerpaläste, Soldatenhallen und Reichsmarschallämter an der geplanten großen Nord-Süd-Achse betrachtet habe, mit denen Hitler und Speer aus der Reichshauptstadt Berlin die "Welthauptstadt Germania" machen wollten. Dann habe der Vater nur einen einzigen Satz gesagt: "Ihr seid komplett verrückt geworden."

Das ist eine heikle Erinnerung, die einem aber angesichts der Vielzahl der Mahnmale, Gedenkstätten und Erinnerungsstelen, die ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen in Berlin geplant sind, durch den Kopf geht. Jahrzehntelang nahm Berlin von den Verbrechen des Dritten Reiches überhaupt keine Notiz, jetzt übertrumpft sich die Stadt mit immer neuen Gedenkstätten und immer größeren Mahnmalen. Es ist wohl der Zeitgeist, der dies mit einem Mal verlangt.

In den sechziger Jahren beschäftigte sich der "Planungsbeirat des Landes Berlin" (dem der Autor angehörte) mit dem Plan des Bausenators Schwedler, die Kochstraße an den Landwehrkanal "anzubinden", wozu sie quer über jenes Gelände des Prinz-Albrecht-Palais geführt werden müßte, dem jetzt jedermann seine Erschütterung zollt. Alle Mitglieder des Beirats (bis auf den Autor) waren damit einverstanden, daß das Gebiet eingeebnet wurde, um Platz für die vierbahnige Schnellstraße zu schaffen: Auch Scharoun, Hillebrecht, Wedepohl, Hebebrand und Düttmann und die anderen damaligen Wortführer des Zeitgeistes, die für die Akademie der Künste, die Architektur-Fakultäten der Universitäten, die Architektenverbände und die sonstigen Honoratioren- Gremien standen. Ein Vierteljahrhundert später will jedermann den Boden heiligen, wo einst die Folterkeller der Gestapo waren. Ja, der Zeitgeist.

Die – fast gelungene – Auslöschung des jüdischen Volkes fällt tatsächlich aus aller europäischen Geschichte heraus. Insofern war ein Ort des Gedenkens für die Opfer des Dritten Reiches unumgänglich. Aber es bleibt sonderbar, daß Jahrzehnte vergingen, ohne daß man dessen gedachte, was im deutschen Namen geschehen war; auch und vor allem die Ermordung von Millionen europäischer Juden. Auf dem Höhepunkt des Rußlandkrieges wurden sie mit Zehntausenden von Güterzügen aus Deutschland, Frankreich und Holland, Italien und Dänemark, Ungarn und Rumänien zum alleinigen Zweck ihrer Vernichtung in die Lager im Osten transportiert.

Eine Menschheitskatastrophe als Exzeß eines kranken Gehirns. Ohne Zweifel wären weder Göring noch Himmler oder Goebbels von sich aus auf den Gedanken gekommen, antisemitische Phantasien aus der K.u.K.-Welt in konkrete Ausrottungsentschlossenheit zu wenden. Immer wieder berichteten die alten Gefolgsleute Hitlers von ihrem Schrecken, als sie von dem konkreten Vernichtungswillen Hitlers hörten. Himmler wurde schlecht, als er – ein einziges Mal – Massenerschießungen beobachtete, und selbst Rosenberg war fassungslos, als er über das Bevorstehende informiert wurde. Goebbels notiert in seinen Tagebüchern, daß der "Führer" wieder einmal "am radikalsten" gewesen sei. Sie alle hatten zwar von den Plänen zur "Ausstoßung der Juden aus dem deutschen Volkskörper" gewußt und sie natürlich gebilligt. Aber ganz offensichtlich hatten selbst diese "Alten Kämpfer" es nicht konkret genommen, daß die Ausstoßung so blutig wortwörtlich gemeint gewesen war.

Die Verleugnung der Vergangenheit nach 1945 betraf aber nicht nur fremde Opfer, sondern auch die eigenen Toten. Ausländische Staatsoberhäupter suchten in der Bundeshauptstadt Bonn jahrzehntelang vergebens einen Platz, an dem sie ihren obligaten Kranz ablegen konnten. Aber weder in Bonn noch in Berlin gab es einen einzigen Ort, wo man der fremden Ermordeten und der eigenen Opfer gedenken konnte.

Nach einem halben Jahrhundert des Schweigens findet nun aber geradezu ein Exzeß des Schuldbewußtseins statt. Wenn die Deutschen schon die größten Sünder waren, so wollen sie jetzt offensichtlich auch die größten Büßer sein. Mit der Neufassung des alten "Ehrenmals" Schinkels "Unter den Linden" und seiner Ausstaffierung mit der Aufblähung eines Nebenwerkes von Käthe Kollwitz war es nicht getan. Man wollte auch an der Stelle, an der der Massenmord von Himmler und Heydrich organisiert worden war, auf dem Gelände des Schinkelschen "Palais Prinz Albrecht" also, wo SS, SD und Gestapo ihren Sitz gehabt hatten, als der "Zentrale des Terrors", gedenken.

Berlin hatte im Dritten Reich seine jüdischen Bevölkerungsteile von fünfhunderttausend Bürgern ausgestoßen, vernichtet oder durch Auswanderung verloren. So beschloß man schon vor der Wende auf Anregung Hans Wallenbergs die Errichtung eines "Jüdischen Museums" als Erweiterungsbau des Berlin-Museums. Inzwischen steht das Gebäude des Amerikaners Daniel Libeskind, und seine symbolische Architekturgestik ist eine der Attraktionen des neuen Berlin – wenn auch noch ohne Ausstellungsobjekte, die man sich in dem eindrucksvollen Haus nur schwer vorstellen kann.

Eine Erweiterung der ursprünglichen Konzeption ist vielleicht notwendig gewesen, aber der Beitrag der Juden zur Geistes- und Kulturgeschichte Berlins tritt nach dem, was man bisher von der Planung Michael Blumenthals erfuhr, notgedrungen in den Hintergrund. Der Leistung der jüdischen Berliner von Moses Mendelssohn über dessen Enkel Felix Mendelssohn Bartholdy bis zu Max Liebermann und Albert Einstein wird nur sehr am Rande deutlich werden, eben als Element einer gescheiterten Assimilation. So kommt auch die Kunst- und Theaterwelt der Weimarer Epoche vermutlich nur am Rande vor – von Cassirer und Flechtheim bis zu Alfred Kerr und Kurt Tucholsky. Das jüdische Element hatte ja in der Weimarer Zeit ein solches Gewicht, daß die Rechtsradikalen gegen die "Verjudung" der Republik polemisierten.

Aber auch der ausgerotteten Juden in den anderen europäischen Ländern wollte man durch ein Holocaust-Mahnmal gedenken, und erneut schrieb man einen internationalen Wettbewerb aus. Wieder wurde er von einem Amerikaner, dem Architekten Peter Eisenman, gewonnen, der bis dahin eher durch Gedankenexperimente als durch realisierte Bauten berühmt geworden war. Eisenman bediente sich weniger einer Architektur- als einer Skulpturensprache. Ein Feld von 2.700 Betonstelen wird nun – denn der Baubeginn ist bereits festgesetzt worden – ein Gelände von der Größe nahezu des gesamten Pariser Platzes einnehmen, was zusätzlich noch durch ein unterirdisches Dokumentationszentrum ergänzt werden soll. Man darf niemals aufrechnen, aber wenn es nach der Zahl der Opfer ginge, müßte ganz Moskau mit seinen – nach der Schätzung Alexander Solschenizyns – 50 bis 70 Millionen Opfern Stalins ein einziges Stelenfeld sein.

Aber auch damit war der Mahnmale für die Untaten des Dritten Reiches nicht genug. Die ermordeten 500.000 Zigeuner Osteuropas, die man nach neuem Sprachgebrauch nur Roma und Sinti nennen darf (obwohl sie selber in ihrer Heimat Rumänien ihre eigene Zentrale "Zentralbüro für Zigeuner" nennen) verlangen ein eigenes Denkmal. Ein Bauplatz in der Nähe des Reichstagsgebäudes ist zwischen Simsonweg, Scheidemann- und Friedrich-Ebert-Straße bereits festgelegt worden.

Und auch der ermordeten Homosexuellen, der Opfer der medizinischen Experimente, der Gemordeten der Euthanasie und der hingerichteten Deserteure soll durch jeweils eigene Mahnmale gedacht werden. Haben sich Deutschlands einstige italienische Bundesgenossen noch nicht gemeldet, von denen die Deutschen nach dem Staatsstreich des faschistischen "Großrats" gegen Mussolini auch einige Zehntausend umgebracht hatten? Dies alles soll neben die schon heute fast einhundert Orte in den Berliner Stadtbezirken treten, an denen in der ganzen Stadt an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnert wird.

Wahrscheinlich resultiert die Misere der Vielzahl von Erinnerungsmalen aus dem Fehlen eines wirklich überzeugenden gedanklichen Konzepts, das für sich selber spricht. Bei dem Wettbewerb für das Holocaust-Mahnmal waren von den Teilnehmern zwar eine Fülle von interessanten Gedanken vorgetragen worden, aber offensichtlich eben doch kein so überzeugender Vorschlag, daß sich die Bundesregierung, der Senat und die Initiatoren der Holocaust-Gedenkstätte auf ihn geeinigt hätten. So verließ man sich bei dem preisgekrönten Entwurf eben auf dieses Feld von Betonstelen, deren künstlerische Kraft gerade aus dem Verzicht auf Kunst kommen soll. Das sieht im Modell schon eindrucksvoll aus. Aber in der Wirklichkeit wird ein Stelenfeld von solcher Ausdehnung eher erschrecken, ganz abgesehen von der Unansehnlichkeit, die Beton nach Jahren zu erlangen pflegt.

Bedenkt man, daß heute schon jüdische Friedhöfe vor Verunstaltung durch mißratene Jugendliche geschützt werden müssen, so ist der Gedanke unerträglich, daß alle diese Holocaust- und sonstigen Mahnmale durch eine eigene Polizei bewacht werden müssen. Oder wie will man sonst die Gedenkstätten davor schützen, daß Demonstranten sie durch Farbbeutel verunstalten? Eine Fläche von der Größe des Pariser Platzes – dafür würde man eine Sicherungstruppe von nach inoffiziellen Schätzungen fünfzig Mann brauchen, wenn man nicht zu elektronischen Sicherungsinstrumenten greifen will, wovor man verständlicherweise zurückscheut.

Muß die Größe des Denkmals der Größe des Verbrechens entsprechen? Es gibt ein Modell, wie ein Tafelbild von ein paar Quadratmetern Größe sich seine eigene Monumentalität schafft – Picassos "Guernica", das in der nordspanischen Stadt den Schrecken des Bombenterrors in Erinnerung halten will. Das zweite berühmte Exempel, wie man die Erinnerung an den Schrecken wachhält, ist Ossip Zadkines Denkmal für das zerstörte Rotterdam, das bald nach dem Krieg aufgestellt wurde. Die Wahl der wie im Schrecken deformierten Figur mit ihren zum Himmel gereckten Armen soll nach der Erklärung Zadkines das Gedenken an den massenhaften Tod im deutschen Bombenhagel in der Figur eines Einzelnen konkretisieren – weil "nur im Leid eines Einzelnen das unfaßbare Leid von Millionen" faßbar gemacht werden könne.

Aber auch Berlin hat in den zwanziger Jahren zwei Muster solcher räumlich bescheidenen Erinnerungsmonumente geschaffen – Tessenows "Ehrenmal" in der Neuen Wache und Mies van der Rohes Gedenkstein für die ermordeten Spartakisten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Beide Male führte man vor, wie man auf kleinstem Raum mit zurückhaltenden Mitteln größte Wirkung erzielen kann. Was jetzt in die Wege geleitet wird, führt auf riesiger Fläche zu einem Ergebnis, bei dem sich voraussehen läßt, daß die monumentale Wirkung verfehlt werden wird. Wahrscheinlich hatten die Auslober nicht den Mut, die Entscheidung über ein zentrales Mahnmal zu vertagen, bis eine Lösung vorliegt, die durch ihr bloßes Vorhandensein alle Diskussion zu einem Ende bringt.

Das Holocaust-Feld soll nach dem Beschluß von Bundesregierung und Bundestag gleich am Eingang von Berlin stehen, in den wenigen hundert Metern zwischen der "Zentrale des Terrors", dem "Holocaust-Mahnmal", dem "Jüdischen Museum" und der geplanten Roma-und-Sinti-Gedenkstätte. Es soll also der Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes auf einem Gelände gedacht werden, das wegen der einstigen Ministergärten der Republik in der Geschichte von Weimar eine Rolle spielte.

Hier entlang der Wilhelmstraße hatten ja die Spitzen der Weimarer Republik ihre Amtssitze, der erste Reichspräsident Friedrich Ebert, der sich im Dienst der Republik und im Kampf gegen die rechte Demagogie verzehrte, der Reichsaußenminister Rathenau, der von rechtsextremen Offizieren ermordet wurde, und der kurzzeitige Reichskanzler und "ewige" Reichsaußenminister Stresemann, der die Versöhnung Deutschlands mit Frankreich in die Wege leitete. Wenn es irgendwo eine "demokratische" Meile im Berliner Stadtbild gibt, so sind es diese einstigen Ministergärten. Und da soll jetzt eine Flut von Gedenkstätten für Verbrechen des Dritten Reiches stehen? Oder hat die Entscheidung für diesen Ort mit der banalen Tatsache zu tun, daß diese Grundstücke im Besitz des Bundes waren, so daß man ohne alle Schwierigkeiten über die Grundstücke verfügen konnte?

Die Kosten sollen gar nicht einmal an erster Stelle stehen. Aber sie sind im Laufe des Prozesses längst aus aller Proportion geraten. Für das "Jüdische Museum" sollen inzwischen rund 120 Millionen absehbar sein, für die "Zentrale des Terrors" mit seinen vertikalen Betonstäben in einer Gesamtlänge von 42 Kilometern werden weitere 110 Millionen veranschlagt, wenn der Bausenator auch diese Summe auf 70 Millionen zu begrenzen sucht. Das ist eine Summe, die den Bund und Berlin natürlich erschreckt. Hat man aber nicht vorher vertraglich festgelegt, welcher Betrag für den Bau zur Verfügung steht, so daß die Summe durch immer erneute Nachforderungen des Architekten nicht ins Unermeßliche gerät? All dies sind, wohlgemerkt, reine Architektenhonorare und faktische Baukosten; die jeweiligen Grundstückspreise sind gar nicht berechnet. Wenn man bedenkt, was die Banken für ihre Bauplätze am Pariser Platz zahlen mußten, kann man davon ausgehen, daß mehrere hundert Millionen Mark für die Grundstücke zusätzlich aufgewendet werden müssen.

Die zugesagten Beträge für den Entschädigungsfond für die ehemaligen Zwangsarbeiter kamen aber auch in zwei Jahren nicht zusammen. Aber Hunderte von Millionen für eine Flut von Mahnmalen stehen zur Verfügung?

Der Gedanke, daß die deutsche Hauptstadt ihre Besucher auf diese Weise gleich neben dem Brandenburger Tor empfangen will, ist bedrückend. Soll dem unbegreiflichen Schweigen von Jahrzehnten jetzt eine ebenso unbegreifliche – und unhistorische – Orgie des Büßens folgen? All das am Eingang zu Berlin in der Nähe des Brandenburger Tores, "wenn Sie reinkommen, gleich links", wie Max Liebermann zu sagen pflegte. Da stand ja das alte Familienhaus der Liebermanns, wo Vater und Sohn lebten und starben. Eine beklemmende Art, in der die Hauptstadt ihre Besucher begrüßen will.


 
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