© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/01 04. Mai 2001

 
Holland ist überall
von Klaus Kunze

Worüber regen sich die Gemüter eigentlich so auf? Im Geltungsbereich des Grundgesetzes über aktive Sterbehilfe zu diskutieren scheint so sinnlos wie ein Streit um des Kaisers Bart. Der ist dem Zugriff der Diskutanten ebenso entzogen wie das unveräußerliche Recht auf Leben nach dem Grundgesetz. Das Gesetz sieht im Grundrecht auf Leben prinzipiell kein Verfügungsrecht über das eigene Leben, und darum kann auch kein solches Verfügungsrecht auf andere übertragen werden. Deshalb ist das Töten auf Verlangen nach Paragraph 216 Strafgesetzbuch (StGB) strafbar. Das Grundgesetz hat dem Staat eine umfassende Lebensschutzgarantie aufgebürdet, die durch 19 II (Wesensgehaltsgrenze) und Artikel 79 III (Ewigkeitsklausel) zur Verfassungswidrigkeit der Forderung führt, künftig andere auf Verlangen töten zu dürfen. Kein Grundrecht darf in seinem Wesensgehalt angetastet werden. Wer für Deutschland staatliche Mitwirkung an der Beeendigung menschlichen Lebens einfordert, verstößt gegen Artikel 1 sowie 2 I GG (Menschenwürde und Recht auf Leben).

Unsere Rechtsprechung hat penibel die Grenzen des hierzulande soeben noch Erlaubten herauspräpariert. Die Scheidelinie läuft zwischen einer Tötungshandlung in Form der verbotenen Euthanasie und dem unter Umständen erlaubten Unterlassen apparatemedizinischer Lebenserhaltung. In diesen Grenzfällen zwischen Leben und Tod können sich tief Bewußtlose oder Gelähmte nicht äußern, ob sie ihr Siechtum beendet wissen möchten. Die Justiz zieht die letzte Grenze des Erlaubten, wenn lebenserhaltende Maßnahmen wie die Ernährung oder Medikamentierung beendet werden und der Sterbende vom Tropf genommen wird. Nach Paragraph 1904 BGB kann die unmögliche Zustimmung des Bewußtlosen zum Abschalten der Apparate vormundschaftsrichterlich ersetzt werden. Weiter darf sich das deutsche Recht durch die jeder Änderung entzogenen Grenzen der Verfassung nicht wagen. Nicht einmal nach Verfassungsänderung dürfte der Staat an der Lebensbeendigung mitwirken, etwa durch Ausdehnung des Paragraphen 1904 BGB auf eine Tötungserlaubnis. Bei der Verfassungsgebung ist allen Gutmenschen die Entscheidung über "Euthanasie" schon längst von wohlmeinenden Bessermenschen abgenommen worden.

Die ausgewogenen Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung von 1998 halten sich im Rahmen des von Grundgesetz und Strafgesetz Erlaubten. Auch bei aussichtsloser Prognose darf in Deutschland Sterbehilfe nicht durch gezieltes Töten, sondern nur entsprechend dem mutmaßlichen oder erklärten Patientenwillen dadurch geleistet werden, daß lebensverlängernde Maßnahmen unterlassen werden. Sterbehilfe ist Hilfe im Sterben, darf aber nicht Maßnahmen zum Sterben umfassen.

Zu allem Überfluß ist jede Tötung eines Menschen aus christlicher Sicht böse. Strafgesetz und Bibel gehen Hand in Hand. Auch für Christen ist Euthanasie kein Grund zum Grübeln, denn die Entscheidung ist ihnen längst abgenommen. Der argumentative Deus ex machina hat gesprochen. Gegen sein klares Gebot "Du sollst nicht töten!" gibt es aus Sicht eines Gläubigen nichts wegzudiskutieren. Gilt also auf allen Ebenen: "Roma locuta, causa finita?"

Mitnichten, denn die Moralisten möchten auch zu Wort kommen. Zu gut eignet sich der "Skandal Holland" zur Selbsterhöhung unserer Tugendwächter. In den Niederlanden wurden jahrzehntelang moralinsaure Sprüche gegen die bösen Deutschen geklopft, und dafür empfängliche Gemüter wurden des Sichschämens nicht müde. Da eignet sich der moralische Fauxpas unserer Nachbarn, die staatliche Lizenz zum Töten Kranker, hervorragend dazu, das eigene wunde Gewissen zu entlasten. Der moralischen Anklagebank entkommt am sichersten, wer sich selbst zum Tribunal erklärt. Man leidet nicht mehr unter dem moralischen Verdikt, indem man selbst zur personifizierten Moral wird. Weil die globalen Sünderlisten immer länger werden, darf der moralisierende deutsche Michel ruhig schlafen: Es wird immer genug Türen geben, vor denen wir kehren können. Holland ist überall!

So hob allerorten ein fröhliches Disputieren an. Die Aufschreie der Empörung überboten sich um so lauter, je deutlicher Demoskopen auf die 67 Prozent Euthanasiebefürworter auch in Deutschland verwiesen. Im Verein mit ihrem Gesetzbuch erklärten Juristen die Euthanasie für immer und ewig verboten, und mit Fingerzeig nach ganz oben zitierten sorgenfaltige Kirchenfürsten immer und ewig geltende Gebote. Wen wir auch fragen, Juristen, Theologen, Moralisten, alles scheint entschieden.

Doch ist wirklich schon alles in höherer Instanz über uns entschieden? Dürfen wir nicht wenigstens am Sterbebett ein bißchen mitreden? Wer Entscheidungsfreiheit für sich selbst bejaht und fordert, kann logischerweise nicht seine persönliche Antwort auf die letzten Fragen von Leben und Tod für allgemeinverbindlich erklären. Alle anderen täten das dann vermutlich auch, und ihre Absolutheitsansprüche relativierten sich wechselseitig.

Philosophisch betrachtet gibt es keine objektiv richtige oder falsche, keine absolut geltende Antwort auf die jedem sich stellende Frage nach Sinn, Ziel und Erfüllung seines Lebens. Gleichwohl wird erbittert, aber argumentativ unbeholfen die Debatte geführt, was "ethisch unbedingt geboten" sei: Jemandem den Tod zu geben, wird mit demselben Pathos von den einen für unethisch (weil inhuman) verurteilt, mit dem die anderen das Leidenlassen eines Sterbenden als unethisch (weil inhuman) verdammen. Nach Auffassung beider Seiten liegt es einfach in der "Natur des Menschen", menschliches Leid nicht zuzulassen. Aus dieser vermeintlich empirischen Feststellung möchten sie eine Pflicht jedes Menschen ableiten, sich "human" zu verhalten, als ob aus einem einfachen Sein ein Sollen folgen könnte. Die um der Menschenwürde willen töten möchten und die um der Menschenwürde lieber leiden lassen wollen: alle gleichen sich in ihrer Denkstruktur und sind sich ideologisch näher, als sie im Eifer des Gefechts merken. Sie schließen im Zirkel, indem sie eine angebliche empirische Eigenschaft in den Menschen projizieren, um sie wie ein Kaninchen aus dem Zylinder als ein Sollen wieder hervorzuzaubern: "Der Mensch ist mitleidig", also soll er mitleidig sein.

Weil sich aber leider verschiedene solcher Naturrechtler für ganz unterschiedliche Eigenschaften als angebliche "Natur des Menschen" entscheiden und jeden als "inhuman" verdammen, der sie nicht als unbedingtes Sollen akzeptiert, können uns auch solche moralischen Zauberkünstler nicht das Denken und nicht die eigene Entscheidung abnehmen. Wer mühsam den Durchblick hinter die Dreifaltigkeit aus Gesetz, Religion und Naturrechtsphilosophie erkämpft hat, sieht durch die Ritzen der Drohkulissen aus Thron, Altar und Feuilleton Menschen, nichts als Menschen wie dich und mich, die uns nur zu gern das Denken, die Entscheidungsmacht und mit ihr die Verantwortung abnehmen. Viele geben diese Verantwortung gern ab. Freilich ist das eigene Denken mühsam geworden, wenn man es nicht mehr gewöhnt ist, und hart drückt die Verantwortung, wenn wir sie wieder selbst tragen müssen.

Immerhin geht es am und im Sterbebett um Gefühle, die jeden empfindenden Menschen im Innersten erschüttern. Uralte Traditionen und Rituale entlasten uns von ihnen. Eine tröstende Vorstellung: Die Familie versammelt sich am Sterbebett und nimmt Abschied, so war das einmal. In das alte, rührende Bild drängt sich ein Weißkittel mit Giftspritze. Im Nebenzimmer warten diskret Krankenschwestern, um das Bett für den nächsten Sterbenden frisch zu beziehen. Noch drei stehen heute auf dem Programm des Sterbens nach Stundenplan.

Nicht jedermann ist bei solch einer Vorstellung von Gefühlen des Abscheus gebeutelt. Die feineren Empfindungen werden manchem tagtäglich vom Fernsehen mit dem Holzhammer ausgetrieben. Doch viele spüren noch: Einen anderen Menschen zu töten, ist ein Zivilisations- und Kulturbruch, auch wenn es aus Mitleid geschieht. Das kriegerische Töten eines Feindes war und ist in allen Gesellschaften erlaubt. Einem hilflos Sterbenden den Tod zu geben, ist hingegen ein jahrhundertealtes Tabu. So etwas macht man nicht. In der europäischen Tradition stützt es sich heute auf christliche Vorstellungen, hätte in anderem religiösem Kontext aber durchaus auch anders begründet werden können. Ärzte durften schon bei den alten Griechen nicht töten. Die Krise dieses Tötungstabus stand im 20. Jahrhundert mit der Krise des Christentums auf der Tagesordnung. Atheistischen Ideologien wie Marxismus und Nationalsozialismus galt ein einzelnes Menschenleben nichts. Soweit diese Ideologien moderne und rationale Elemente enthielten, drängten diese nach ökonomischer Effizienzsteigerung ohne Rücksicht auf das Leid Einzelner. Es zählte nichts angesichts utopischer Glücksverheißung für alle.

Heute steht die Todesspritze aus Mitleid auf der Tagesordnung. Diskussionsfähig wurde sie aber erst durch die ideologischen Rammböcke des 20. Jahrhunderts, die das zuvor Undenkbare denkbar machten und durchführten. Doch auch damals mag es viele Ärzte gegeben haben, die Euthanasie in wirklichem Glauben anwandten, das Leben eines Krüppels, eines Hirnlosen, eines Geisteskranken sei wirklich lebensunwert, und sie alle würden von ihrem Leiden nur erlöst; andererseits aber gab es Technokraten und Juristen, die das Verbotene erlaubten und sich dabei ganz andere Gedanken machten als der mitleidige Arzt. Die Euthanasie des Dritten Reichs hatte mehrere Aspekte: Von "Leid zu erlösen" war ein vorzeigbarer und vorgezeigter Anlaß; die Gesundheit des Volkskörpers als Ganzen das eigentliche ideologische Ziel und die Entlastung der Volkswirtschaft von "Nutzlosen" ein willkommener Nebeneffekt.

Diese Zeit nur als Horrorschau darzustellen und die damaligen Menschen auf ihre Rolle als Übel-Täter zu verkürzen, verhindert die Einsicht: Genau dasselbe komplizierte Geflecht aus subjektivem Mitleid und objektiver Rationalität droht auch heute eine Lawine ins Rollen zu bringen, von der niemand wissen kann, ob sie ihn nicht einmal selbst erreicht. Welchem Kostendämpfungsgesetz werden du und ich dereinst zum Opfer fallen? Wie werden wir unsere Fortexistenz noch rechtfertigen können, wenn wir nach den Gesetzen des Marktes keinen Wert mehr haben? Müssen wir uns nicht schon ständig als "Verbraucher" beleidigen lassen, indem wir nur noch in der Rolle als Fresser, Konsumenten und Müllproduzenten wahr- und ernstgenommen werden? Im Zeitalter des extremen Liberalismus, in dem der Geldwert über alles geht, ist tiefes Mißtrauen angebracht gegen die Eigendynamik eines Systems, das sich nur durch ökonomisches Wachstum selbst erhalten kann. Unproduktiven Sterbenden mit großzügiger Geste das Recht zu geben, sich töten lassen zu dürfen, hinterläßt einen Beigeschmack von Zynismus.

Nicht der linderbare Schmerz ist das Problem, sondern ein System, in dem ein Sterbender sich "nutzlos" fühlt und eben darum verzweifelt. Die Menschen haben sich der industriellen Massenzivilisation und der ihr innewohnenden funktionalen Rationalität angepaßt und vermögen sich selbst nur noch in den Kategorien "nützlich" und "unnütz" zu sehen. In vorindustriellen Zeiten hätte die Reduktion eines Menschen auf seine familien- und volkswirtschaftliche Nutzbarkeit Erstaunen geweckt. Greise durften früher einmal als edel gelten, und ihre Meinung war als Weisheit gefragt. Heute erklärt die offizielle Ideologie die Abtreibung und bald das Sichtötenlassendürfen zum Menschenrecht und Gebot der Menschenwürde. Zugleich erweckt die Reklame der Großindustrie die Vorstellung, ohne Jugend, Fitneß und Leistungsfähigkeit sei einer nichts mehr wert.

Auf das Selbstgefühl Siecher blieb das nicht einflußlos: Der Krebsarzt Stephan Sahm hat in der FAZ eindrucksvoll die Seelenpein alter Kranker geschildert: Nicht der linderbare körperliche Schmerz ist das Entsetzlichste. "Vereinsamung, finanzielle Probleme, Trennung von Lebensgefährten sind es, die Menschen den Wunsch nach Hilfe zur Selbsttötung und Euthanasie äußern lassen." Studien zufolge wirke sich schon der Gedanke katastrophal aus, Angehörige oder der Arzt könnten auf den Wunsch des Patienten spekulieren, sich aus dem Weg räumen zu lassen, und unausgesprochen darauf warten, diesen Wunsch zu exekutieren. Wo das Weiterleben nur eine von zwei legalen Optionen sei, da werde jeder rechenschaftspflichtig, der den anderen die Lasten seines Weiterlebens aufbürdet.

Wer mit alten Menschen zu tun hatte, kennt die drückende Mischung aus Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Zukunftslosigkeit, die zu dem Wunsch führt, seinen Lieben "nicht mehr zur Last fallen" zu wollen. Theodor Storm hatte den Todeswunsch formuliert: "Urahne spricht: ’Morgen ist’s Feiertag, am liebsten morgen ich sterben mag. Ich kann nicht singen und scherzen mehr, ich kann nicht sorgen und schaffen schwer; was tu ich noch auf der Welt?‘"

Wer den alten oder kranken Menschen aber seinerseits liebt, vermag es zumeist nicht über sich zu bringen, ihm genau diesen Todeswunsch eigenhändig zu erfüllen. Hier sind gesellschaftspolitische Weichen zu stellen. Ob die staatliche Gemeinschaft überhaupt den handelnden Einzelnen Vorschriften über ihr höchstpersönliches Lebensende machen darf, ist ebensosehr Entscheidungssache wie das Ausmaß etwaiger Beschränkungen der Freiheit zum Tode und zum Töten. Wer diese Entscheidungsfreiheit leugnet und sich hinter religiösen Geboten oder selbstgesetzten ethischen Verboten versteckt, verleugnet das Menschlichste am Menschen: die Fähigkeit zur persönlichen Sinnstiftung.

Jenseits der unproblematischen juristischen und religiösen Antworten wie auch der vergeblichen Versuche einer allgemeinverbindlichen Ethik lautet die ausschlaggebende Frage: Welche zwischenmenschliche Umwelt wollen wir alle uns gemeinsam gestalten: eine klinisch saubere, normierte Lebenskurve vom Reagenzglas bis zur Todespille, oder eine Lebenswelt, in der natürliche Geburt wie natürlicher Tod, Glück wie auch Tragik, Seligkeit wie auch Schmerz ihren Platz haben? Wollen wir uns gesellschaftsnützlich durchorganisieren lassen, leistungsoptimiert bis hin zum sozialverträglichen Ableben, oder geben wir jedem die Chance zum Abenteuer allen menschenmöglichen Schicksals? Wollen wir eine Vollkaskogesellschaft mit gesellschaftlich garantiertem Mindestglück, oder akzeptieren wir das Leben als Wagnis?

Nicht individuelle Schicksale machen diese Fragen politisch interessant, sondern die kulturelle Gesamttendenz unseres Volkes. Wenn wir zum Leben keine Lust mehr haben sollten, werden sich genug andere finden, die uns die Last der Existenz abnehmen. Die holländische Entscheidung für das Töten auf Verlangen und die weitergehende Diskussion einer Sterbepille liegen in der Logik einer vergreisenden Gesellschaft, dominiert von Feigheit vor dem Sterben und Mutlosigkeit vor dem Leben. Sie wird ihre Mediziner weiterforschen lassen: nach der krankenkassenfinanzierten Gehirnsonde zur Stimulierung des Glückszentrums, nach der ultimaten Pille gegen Leid und Schmerz, nach der drahtlosen Cyberspace-Verbindung vom Gehirn ins Fernsehen und Internetz mit Zugang zu 99 virtuellen Computerspielen, nach vollrobotischer Industrie und arbeitslosem Einkommen für alle, ja nach dem Gen für ein Leben ohne Ende. Als Konrad Lorenz 1972 die Verhausschweinung des Menschen geißelte, gebrach es ihm an Phantasie, wie schweinisch wohl wir uns dereinst werden fühlen können.

 

Klaus Kunze ist Rechtsanwalt in Uslar. Mit seinem Beitrag setzt er die Debatte in der JUNGEN FREIHEIT um Sterbehilfe fort, die Günter Zehm ("Jeder stirbt für sich allein") und Jens Jessen ("Die Logik der Spaßgesellschaft") vorige Woche (JF 18/01) eröffnet haben.


 
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