© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/01 04. Mai 2001

 
Die Schande der Armut
Sozialministerium legt Bericht zu Lebenslagen in Deutschland vor
Bernd-Thomas Ramb

Als Novum präsentiert das Bundessozialministerium den Bericht "Lebenslagen in Deutschland – Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung". Genaugenommen hat es jedoch bereits früher Untersuchungen zu den einzelnen Aspekten der Armut in Deutschland gegeben. Die nun vorgelegte Studie suggeriert eine umfassende Sicht, die leider nicht das hält, was sie verspricht. Insbesondere zieht sie nur halbherzig die Konsequenzen aus den vorgelegten Teilerklärungen. So bleibt für den Großteil der Öffentlichkeit nur die klassenkämpferische Gegenüberstellung von Armut und Reichtum, die sich für die meisten allein in den Einkommens- und Vermögensunterschieden äußert. Das naive Gegenmittel heißt dann schlicht: stärkere Umverteilung. Dazu paßt die Sonntagsforderung der Gewerkschaften nach Streichung des Kindergeldes bei den Reichen wie die Faust aufs Auge.

Die ersten Reaktionen auf den Armutsreport lassen wenig Hoffnung aufkeimen, die sachliche Feststellung Riesters: "Ein reiches Land wie Deutschland muß wissen, wie die soziale Wirklichkeit ist, und dies zur Grundlage politischen Handelns machen" würde tatsächlich in die Tat umgesetzt. Zwar bestehen deutliche Einkommens- und Vermögensunterschiede in Deutschland, im Vergleich mit anderen Staaten sind sie jedoch, sowohl in der absoluten Höhe als auch in ihrer Relation, kaum als katastrophal einzustufen. Auf einen internationalen Vergleich verzichtet der Armutsbericht deshalb verständlicherweise. Der statt dessen gebotene Zeitvergleich der Einkommens- und Vermögensverteilung innerhalb des letzten Jahrzehnts zeigt keine großen Veränderungen und daher scheinbar keine alarmierende Entwicklung – soweit man allein die finanziellen Daten betrachtet und die Augen vor den absehbaren Folgeschäden verschließt.

Die Problematik ist weitgehend bekannt und seit langer Zeit unverändert. Alleinerziehende und Kinderreiche, Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose gehören zu den Gesellschaftsgruppen mit den geringeren Einkommen. Verschärft haben sich allerdings Ausmaß und Charakter der Verschuldung. Immer mehr einkommensschwache Familien oder Alleinstehende geraten in die Falle kreditfinanzierter Lebenshaltung. Dabei spielt zunehmend weniger die Anschaffung von Lebenseigentum, wie das berühmte Eigenheim oder die Eigentumswohnung, Anlaß zur Verschuldung. Mehr und mehr werden langfristige Konsumgüter, vom Auto bis zur Waschmaschine, kreditfinanziert. Neu ist vor allem die unangemeldete Inanspruchnahme sogenannter Primärverschuldung durch unbezahlte Telefon- und Stromrechnungen oder unterlassene Mietzahlungen.

Eine besondere Verursacherrolle spielt dabei die Veränderung der Lebenssituation durch Arbeitslosigkeit oder Scheidung, wobei das Konsumverhalten oft unverändert bleibt. In bestimmten Bereichen, etwa der Versorgung der Kinder mit Markenkleidung und Spielgeräten, wird sogar eine Neigung zu erhöhten Ausgaben festgestellt.

Hinter diesem irrationalem Verhalten steckt eine Neubewertung des uralten Phänomens Armut. Armut wird heute als Schande empfunden. Die Angst vor dem "Nicht-mehr-mithalten-können", vor dem Verlust an Sozialprestige, das an der Höhe der Konsumausgaben gemessen wird, verschärft die Diskrepanz zwischen Einkommen und Ausgaben. Die Verschuldung wirkt so als Indikator eines gesellschaftlichen Defizits. Armut wird nicht mehr als Ergebnis des Sachverhalts ökonomischer Realitäten, allem voran der reduzierten Möglichkeiten des Einkommenserwerbs, akzeptiert, sondern nur noch als "ungerechte" Benachteiligung in einer der Gleichmacherei verschriebenen Gesellschaft verstanden. Die Auffassung, daß sich nun einmal einige mehr und andere weniger leisten können, paßt nicht zur heutigen Wohlfahrtsgesellschaft, die staatlich garantierte Gleichverteilung auf hohem Niveau einfordert. Bekämpfen läßt sich diese Form der mentalen Armut nur durch einen Bewußtseinswandel der Bevölkerung.

Verschlechterungen sind in den letzten Jahrzehnten auch bei den potentiellen Erwerbsmöglichkeiten eingetreten. Hier spielt weniger die zunehmende Rationalisierung der Weltwirtschaft eine Rolle, sondern an erster Stelle die zunehmende Verarmung im Bildungswesen. Sie reduziert das individuelle Vermögen an Humankapital, das nicht nur den Erwerb eines mehr oder weniger hohen laufenden Einkommens ermöglicht, sondern auch für die Erhaltung ererbter materieller Reichtümer notwendig ist. Da im Prinzip alle Schichten der Gesellschaft der Bildungsarmut zum Opfer fallen können, besonders wenn alle demselben staatlich organisierten Bildungssystem ausgesetzt sind, eröffnen sich Möglichkeiten eigenverantwortlicher Weiterbildung und damit einer natürlichen Umverteilung der finanziellen Vermögen.

Lernen und Anstrengung als Grundlage des wirtschaftlichen Erfolgs, Bildung als Weg aus der Armut und die gesellschaftliche Akzeptanz unterschiedlicher Einkommens- und Vermögenssituationen infolge individueller Leistung erfordern ein Denken in den Kategorien wirtschaftlicher Freiheit. Die Lehrsätze Ludwig Erhards sind jedoch im sozialistisch deformierten Deutschland mit seinen gesellschaftlichen Neidkomplexen und dem permanenten Lamento um eine "gerechte Verteilung" kaum wiederzubeleben, auch wenn der Armutsbericht keinen anderen Schluß zuläßt. Das ist die eigentliche Schande der deutschen Armut.


 
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