© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/01 27. April 2001

 
Das Zeitalter der Viren
Die alltägliche Ansteckungsgefahr bereitet den Weg zu neuer Sozialhygiene
Alain de Benoist

Im Zuge der Globalisierung ist die Virusinfektion zur alltäglichen Ge- fahr geworden. In der vernetzten Welt ist der Virus allgegenwärtig: Er tritt plötzlich auf und verbreitet sich rasch. Die Bedrohung, die er darstellt, ist zugleich real, virtuell und metaphorisch.

Trotz aller Maßnahmen, die zu seiner Bekämpfung ergriffen werden, richtet der HIV-Virus immer wieder neue Verwüstungen an, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent. Bald hier, bald dort treten neue Seuchen auf – viele von ihnen sind alte Seuchen, die man längst für besiegt hielt. Doch nicht nur der Mensch ist betroffen. Im Laufe weniger Jahre hat der "Rinderwahn" BSE die Viehzucht zerstört, einen ganzen Wirtschaftszweig in die Krise gestürzt und die Verbraucher zutiefst verunsichert. Die Diskussionen um das Risiko für Menschen reißen nicht ab. Als ob das nicht genug wäre, hat nun die Maul- und Klauenseuche von Großbritannien aus ihren globalen Eroberungszug angetreten.

Auch die neuen Informationstechnologien kennen den Begriff des Virus. Die schnelle Verbreitung des Internet ging Hand in Hand mit dem Auftauchen von Computerviren, die irgendwo entstehen und sich innerhalb weniger Tage, manchmal innerhalb weniger Stunden, in der gesamten Datenwelt verbreiten. Die Finanzmärkte gehorchen selbst den Gesetzen der Virusverbreitung: Lokale Finanzkrisen können den ganzen Planeten erschüttern, indem sie in einer Art Dominoeffekt eine Krise nach der anderen verursachen und jeden Moment einen allgemeinen Crash auszulösen drohen. Und auch Ideologien und Religionen verhalten sich heutzutage wie Viren: Sie überqueren traditionelle Grenzen mit Leichtigkeit und bedienen sich der neuen Kommunikationstechniken. Der Islamismus, um nur ein Beispiel zu nennen, setzt auf diese neuartigen Formen der Ansteckung.

Die Infektion verläuft nach ihren eigenen Gesetzen. Der Virus verbreitet sich auf unvorhersehbare Weise, aber immer nach dem Grundprinzip polyzentrischer Netze. Es handelt sich nicht einfach um eine linear verlaufende Kettenreaktion; jeder Punkt, den der Virus berührt hat, verwandelt sich seinerseits in ein Diffusionszentrum. Die Verbreitung erfolgt mit immenser Geschwindigkeit. Sie mißachtet geographische, politische, institutionelle Hürden. Sie umrundet die Welt in einer unendlichen Bewegung.

Um den Viren Herr zu werden, mutieren alle öffentlichen Ämter zu Gesundheitsbehörden. Biologische und medizinische Metaphern infizieren die Sprache nicht nur, wenn es um Krankheiten geht. Um der Ausbreitung von Seuchen (wie von Sünden) Einhalt zu gebieten, errichtet man Sperrgebiete, man verhängt Quarantänen. Alles, was man sich gerne vom Halse schaffen möchte, betrachtet man als "Mikrobe" oder "Bazille". Gegen einen unsichtbaren, diffusen Feind, der überall sein kann – der frontal, aber vor allem auch hinterrücks angreifen kann –, ist Vorsicht das Gebot der Stunde. So werden ganze Herden geschlachtet, ohne daß irgendeine Gewißheit besteht, ob die Tiere tatsächlich krank sind. Der "Internaut" sitzt vor seinem Computer und löscht alle Nachrichten, deren Absender er nicht kennt, ohne sie zu öffnen. Auf diese Weise wird die Verdächtigung zu einer Art allgemeinen Lebensregel: Die bloße Möglichkeit einer Infektion führt dazu, gegen ganze Bevölkerungskategorien mobil zu machen. Überall macht sich Mißtrauen breit. In der Vergangenheit haben sich aus einer solchen Haltung gegen einen unsichtbaren, aber vermeintlich allgegenwärtigen (und dank seiner Unsichtbarkeit um so schrecklicheren) Feind bekanntlich grauenhafte Wahnvorstellungen genährt und zu anhaltenden Verfolgungen geführt.

Die Folgen für die Politik sind offensichtlich. Ideen, die als "gefährlich" gelten, werden ebenfalls unter Quarantäne gestellt. Um ihrer Verbreitung vorzubeugen, übertreibt man zunächst die Bedrohung, die von ihnen ausgeht (und lenkt dabei von realen Bedrohungen ab). Man verwischt die Unterschiede zwischen Erscheinungen, die nur oberflächlich miteinander zusammenhängen. Dann macht man sich daran, sie auszurotten, indem man die überführten Krankheitsträger als Bürger zweiter Klasse oder gar als Untermenschen behandelt. Um sie herum werden Sperrzonen errichtet.

Der Überwachung folgt die Kontrolle, der Unterstellung die Verfolgung derjenigen, die der Abweichung von ideologisch dominanten Normen verdächtigt werden, und letztlich speist sich daraus eine "orwellianische" Gesellschaft, die dem berühmten Panoptikum Benthams gleicht. So bereitet das Zeitalter der Viren den Weg für eine neue gesellschaftliche Hygiene.


 
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