© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/01 27. April 2001

 
Im Schamanen-Bann
Ausstellung: "Indianisches Leben am Orinoko"
Werner Olles

Im Jahre 1988 erwarb die Familie Cisneros die umfangreiche Kollektion des Venezolaners Edgardo Gonzales-Nino, der aus politischen Gründen in den fünfziger Jahren in die Orinoko/Rio Negro-Region verbannt wurde. Er lebte dort zusammen mit verschiedenen Indiandergruppen und war vom Leben und den Riten der Ureinwohner des Regenwaldes so fasziniert, daß er Gegenstände und Legenden zu sammeln begann. Schließlich beschloß er zu bleiben und wurde zu einem Wegbereiter der venezolanischen Ethnographie. Aber erst Patricia und Gustavo Cisneros aus Caracas machten aus seiner Sammlung die wichtigste Basis ihrer Stiftung zur Förderung und Verbreitung indigener, traditioneller lateinamerikanischer Kulturen, der "Fundación Cisneros". Sie restaurierten und ergänzten die Sammlung und bewahrten sie für die Nachwelt. Im November 2000 wurde die Sammlung Cisneros mit einem der höchsten internationalen Kulturpreis ausgezeichnet: dem Leone d’Oro di San Marco.

Im politisch korrekt zum "Museum für Weltkulturen" umbenannten "Museum für Völkerkunde" präsentiert die Ethnologin Gabriele Herzog-Schröder nun rund 400 verschiedene Objekte dieser seltenen Exponate, die zum Schönsten und Ausgefallensten zählen, was die Stammeskulturen der iberoamerikanischen Indianer hervorgebracht haben. Die Ausstellung gibt einen ausgezeichneten Überblick über die Gesellschaftsordnung, das Kunsthandwerk und die Rituale der zwölf verschiedenen Ethnien, von denen die Yanomami, die Warekena, die Baniwa, die Yekuana und die Piaroa die bekanntesten Stämme sind.

Schon beim Betreten des Museums fühlt man sich schlagartig in das amazonische Tiefland des südlichen Venezuela versetzt, wenn man unter einem Baldachin aus Speeren, der von der Decke des Eingangsfoyers herabhängt, in einen Raum kommt, in dem ein aus Paddeln gebildeter Strahlenkranz dem Betrachter die Bezüge zum Lebensquell Wasser deutlich macht.

In einem anderen, in geheimnisvolles dunkelrotes Licht getauchten Raum glaubt man sich im Bannkreis der Schamanenen, in dem sich das Leben in einem Fluß ständiger Verwandlungen entfaltet. Rasseln aus Tukanschnäbeln, Fruchtschalen, bunten Glasperlen und Kehlköpfen von Brüllaffen, Schamanengewänder aus Schilf, Jichu-Masken, Federschmuck und Bastarbeiten aus den Greifzangen des Flußkrebses und Ritual- und Schmuckketten aus den Panzern kleiner Wasserschildkröten oder aus Tapirzähnen nehmen langsam Gestalt an und vermitteln so den Kontext von Alltagsleben und Festen. Im Werden, Nähren, Ordnen, Feiern, Heilen und Vergehen vollzieht sich das Leben der Indianer am Orinoko, und so illustrieren die riesigen Farbfotos gleichermaßen Wirklichkeit und Mythos dieses Lebenszyklus. Hier bestimmen noch Landschaft, Tier- und Pflanzenwelt Gepflogenheiten und Glauben, während farbenprächtige Hautbemalungen, phantasiereich geschnitzte Masken und rituelle Gewänder die charakteristische indianische Identität bewahren.

Durch den Kulturkontakt mit der Welt der Europäer hat inzwischen zwar auch in den indianischen Gesellschaften das "moderne" Leben Einzug gehalten, aber Brauchtum, eine eigenständige Sicht der Welt und spirituelle Vorstellungen spielen dennoch eine sehr wichtige Rolle. Die am Orinoko lebenden Indianer vollziehen bei ihren Stammesriten in konträrer, wenn auch komplementärer Weise den Schöpfungsprozeß der Urzeit jedes Mal neu nach. Ihre Zeremonien enthalten dabei ein reichhaltiges Repertoire von Zeugnissen indianischer Überlieferungen und Legenden und konkretisieren sich in den Zeichen auf den Objekten, die zum Tribut für die Götter und Geister werden, denen der Mensch einst das kulturelle Wissen stahl. In diesen indigenen Konzepten des Sehens und Verbildlichens und in den Interaktionen mit Geistwesen wie dem Waldbienengott und dem Affengott lösen sich die Konturen der Objektwelt auf, um sich zu geometrischen Mustern zu formen und auf die entdifferenzierte Objektwelt zu legen.

Die Ausstellung informiert aber auch über den kulturellen, sozialen und ökologischen Widerstand der Indianer, deren Dörfer, wie etwa bei den Piaroa, durch verschiedene Regierungsprogramme in die Einzugsgebiete der Städte umgesiedelt wurden. Die Auswirkungen dieser Umsiedlungen vor dem Hintergrund der traditionellen Kultur der Indianer sind dabei in ihrer Tragweite noch gar nicht zu abzuschätzen. Und es ist leider zu befürchten, daß unter dem Siegel des Fortschritts wieder einmal in einer Weise in das Leben und in die Welt der Indianer am Orinoko eingegriffen wird, die die Geschichten, Mythen, Märchen und Fabeln von weisen Frauen und Medizinmännern, von Jagdglück und Zeremonien und dem Traum vom Eldorado in der Savanne und im Regenwald endgültig zerstört.

 

Die Ausstellung "Indianisches Leben am Orinoko – Die Sammlung Cisneros" wird noch bis zum 23. September im Museum für Völkerkunde, Schaumainkai 29, in Frankfurt am Main gezeigt. Öffnungszeiten: Täglich außer montags 10 bis 17 Uhr, Mi. bis 20 Uhr.


 
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