© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/01 27. April 2001

 
Pankraz,
der Oklahoma-Mörder und das Fernsehbeil

Immer noch werden Wetten darüber abgeschlossen, ob die Hinrichtung des sogenannten Oklahoma-Mörders McVeigh nun original und weltweit im Fernsehen und im Internet übertragen wird oder nicht. Die Stimmen, die sich gegen die Übertragung erheben, klingen zwar sympathisch, aber ziemlich weltfremd. Es ist ja keineswegs so, als werde jetzt "eine Grenze überschritten", der mediale Alltag "ins Unerhörte und Gotteslästerliche ausgeweitet". Eher könnte man sagen, es geschieht eine Rückkehr zur Normalität, das Anknüpfen an eine Tradition, die bis vor etwa hundertfünfzig Jahren in allen Kulturen lebendig gewesen ist.

Hinrichtungen waren bis dahin auch im Abendland nicht nur öffentlich, sondern geradezu Höhepunkte des gesellschaftlichen Lebens. Man gab viel Geld aus, um einen "guten Platz" zu ergattern, von dem aus man das Geschehen in allen Einzelheiten beobachten konnte. In London zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts "ging man", wie uns Schopenhauer erzählt, zu den öffentlichen Hinrichtungen jeden Freitag, wie man heute ins Kino oder zum Fußball geht.

Hexenverbrennungen und katholische Autodafés waren in erster Linie zur Unterhaltung und Belehrung der Massen bestimmt, während die Exekutionen prominenter politischer Gegner bevorzugt von den höheren Ständen frequentiert wurden. Solche Exekutionen, zum Beispiel die Hinrichtung des Grafen von Essex oder Karls I. in England, wurden mit höchster Raffinesse als barocke Ereignis-Spektakel organisiert. Aus allen Richtungen reisten große Künstler an, um den Vorgang in der Skizze und im Kupferstich zu verewigen.

Das Verschwinden des Galgens und der Guillotine von den Marktplätzen, ihre Verlegung auf finstere Gefängnishöfe oder in sachlich-glatte Exekutionsräume, bedeutete, wie uns Michel Foucault belehrt, beileibe keine "Humanisierung", sondern fast das Gegenteil, nämlich die Verdrängung des Ungeheuerlichen, das jedes administrative, rituelle Auslöschen von menschlichem Leben doch ist, seine Überantwortung an einige wenige "Fachleute" oder sonstwie Privilegierte, die die Sache streng bürokratisch und ohne jede merkbare Anteilnahme abwickelten.

Zu diesen neuartigen "Hinrichtungszeugen" gehörten von Anfang an, neben Staatsanwälten, Ärzten und Pastoren, auch "Medienvertreter", ausgewählte Bild- und Wortjournalisten, deren Fotos beziehungsweise Reportagen das originale Erlebnis nun also ersetzten. Dadurch kam von vornherein ein Moment der Lüge oder zumindest der Manipulation in den Hinrichtungsbetrieb hinein.

Die Reporter wählten ihre Worte gut, die Filme der Fotografen wurden von den Behörden zensiert und geschnitten. Den ganzen, ungeschnittenen Film behielten sich die Mächtigen in der Regel zur Stillung ihrer persönlichen Rachegelüste vor, so den Film von der Aufhängung des Feldmarschalls von Witzleben und anderer Verschwörer des 20. Juli 1944, den sich nur Hitler und seine engsten Palladine ansehen durften.

Oder man legte das Aufnehmen von Hinrichtungsszenen von vornherein als Propaganda-Unternehmen an. Soeben sah Pankraz auf dem Phönix-Kanal eine neue russische Dokumentation über die Jahre des Stalin-Terrors, darunter einen Propagandastreifen, den "Mosfilm" 1941 über die Hinrichtung einer Gruppe von "Spionen" angefertigt hatte und der damals in Moskauer Kinos vorgeführt worden sein soll. Schlimmer anzusehen als das Sterben der Delinquenten war in diesem Film das Verhalten der ausführlich gezeigten (natürlich dazu abkommandierten) Zuschauer, darunter viele junge Frauen, die vor Freude über das Röcheln der am Galgen Baumelnden geradezu schrien und wie wahnsinnig Beifall klatschten.

Man darf daran zweifeln, ob sich so etwas abgespielt hätte, wenn die Szene original und nicht "übertragen" gewesen wäre. Der Gedanke liegt nahe, daß die größte Grausamkeit beim Hinrichten just in der Übertragung, ihrer medialen Verdoppelung, liegt, und zwar nicht nur dann, wenn dabei planvoll arrangiert, ausgewählt und manipuliert wird. Sondern der mediale Apparat selbst potenziert möglicherweise Grausamkeit – indem er dem Hinrichtungsopfer eine Maske aufsetzt, die Maske des gewaltsamen, ritualisierten Todes, die den Einzelfall gewissermaßen zum Allgemeinfall macht, zum Ritualmord an sich, weltweit ausgestrahlt und damit von uns allen begangen und zu verantworten.

Frühere öffentliche Hinrichtungen waren meist unerhört blutrünstig, es wurde unter den interessierten Augen zarter Reifrockdamen gevierteilt, gerädert, mit glühenden Zangen gezwickt. Menschliche Körper wurden von unwilligen, zum Anzug gepeitschten Kaltblutpferden auseinandergerissen. Beim Oklahoma-Mörder würde man nur sehen, wie ein auf einen Tisch geschnallter Mann eine Spritze injiziert bekommt, und vielleicht dürfte die Kamera noch nahe genug heran, um sein brechendes Auge einzufangen. Und dennoch mögen die recht haben, die den Vorgang für viel, viel monströser und widerwärtiger halten als die Blutorgien der alten Zeiten.

Denn damals, in den alten, vormedialen Zeiten, wurden immer nur Einzelne umgebracht, und Einzelne sahen zu, auch wenn sie in großen Mengen kamen, und ein jeder nahm sich das Spektakel so oder so zu Herzen. Heute dagegen findet sich, potentiell wenigstens, die gesamte Menschheit vor dem PC oder dem Fernseher ein, Bezugspunkt ist kaum noch der konkrete Henker oder die Sünden seines Opfers, sondern es ist einzig der technische Kasten, in dem der Tod wohnt, sofern wir ihn einschalten.

Das ist, sollte man sich klarmachen, ein Unterschied wie zwischen Liebesakt und Zähneputzen. Umgebracht wird aber trotzdem. Nur unser Herz bleibt kalt, höchstens momentan erschrocken, bis zur nächsten Übertragung. Der mediale thrill ist wieder einmal um eine Windung weitergeschraubt worden, mehr war nicht. Das genau ist wohl der eigentliche Skandal.


 
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