© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/01 27. April 2001

 
Kolumne
Diskurswahn
Klaus Motschmann

Zum besseren Verständnis der Absonderlichkeiten unserer politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sei an eine Begebenheit Ende der sechziger Jahre in einer kleineren deutschen Universitätsstadt erinnert: Ein Psychologiestudent fragt einen Soziologiestudenten nach dem Weg zum Bahnhof. Dieser kennt den Weg zwar auch nicht, dafür aber den Ausweg: "Komm, laß uns in eine Kneipe gehen und darüber diskutieren." Das tun sie dann auch, wobei sie selbstverständlich die "repressiven Implikationen frühkapitalistischer Stadtplanung" und die "signifikanten herrschaftsaffirmativen Defizite" der unzureichenden Beschilderung in einer Stadt der spätbürgerlichen Gesellschaft mitreflektieren. Nach zwei Stunden kommen sie endlich auf die Idee, den Kellner zu fragen. Der weist ihnen den Weg zum naheliegenden Bahnhof mit wenigen Worten und gibt ihnen den Rat, bei allen Problemen die ganz einfachen Fragen zu stellen.

Dieser Rat ist leider nicht beachtet worden, so daß die Lösung aller Probleme zunehmend durch "Diskussionen", genauer: im "herrschaftsfreien Diskurs" gefunden werden soll. Musterbeispiele liefern dafür Talkshows, aber auch die Feuilletons unserer Zeitungen, Parteitage, Gewerkschaftstage, Kirchentage, öffentliche Anhörungen usw. Experten und vermeintliche Experten, Wissende und Unwissende diskutieren über alle möglichen, aber vor allem auch unmöglichen Themen, die ihnen von den Öffentlichen Meinungsmachern gesetzt werden; selbstverständlich unter strenger Beachtung der inzwischen hinreichend bekannten Grundregeln des "konsensdemokratischen Dialogs".

Dazu gehört vor allem ein striktes Frageverbot als Verbot für selbständiges Denken. Von einem "herrschaftsfreien" Diskurs, wie ihn die intellektuelle und politische Linke für sich beansprucht und auch behauptet, kann nur noch bedingt die Rede sein. So kann jede noch so abstruse Idee "diskutiert" werden, weil ernsthafter Widerspruch, ja die einfachen, naheliegenden Fragen nicht mehr geäußert werden können.

Dazu gehört die Frage, welche absehbaren Konsequenzen es haben muß, wenn sich der Prozeß der politischen Willensbildung vom Parlament in außerparlamentarische Diskussionsrunden, an die runden Tische aller möglichen Beauftragten, Bürgerinitiativen und sonstiger Interessenvertreter verlagert. Nicht alle Probleme lassen sich durch Diskussionen lösen; schon gar nicht durch Diskussionen, die in einem groben Mißverständnis des ursprünglichen Wortsinnes (lat. discutere) nicht auf "Lösung" einer gemeinsamen Aufgabe abzielen, sondern auf "zerschlagen, zerteilen und zerlegen".

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin


 
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