© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/01 27. April 2001

 
"Das Unrecht von Versailles tilgen"
Graf von Kielmansegg, Mitbegründer der Bundeswehr, über Patriotismus und Soldatentum in drei deutschen Armeen
Moritz Schwarz / Tobias Wimbauer

Graf Kielmansegg, man kann Sie zu Recht einen Zeugen des Jahrhunderts nennen, Sie haben in drei deutschen Armeen gedient: der Reichswehr, der Wehrmacht und der Bundeswehr. Als junger Leutnant sind Sie noch an der Lanze ausgebildet worden, später hatten Sie als General das Kommando über Atomwaffen.

Kielmansegg: Ja, bedenken Sie, ich bin noch an einer Waffe ausgebildet worden, mit der schon Hektor vor Troja gekämpft hat – der Lanze. Am Ende meiner Laufbahn war ich, in meiner Funktion als Oberkommandierender der Nato-Landstreitkräfte in Europa-Mitte, dann Herr über das taktische Atomwaffenarsenal: Das ist das 20. Jahrhundert. In der Tat stamme ich aus einer alten Soldatenfamilie, deren Traditionen bis zu den Befreiungskriegen zurückreichen. Der Vater des Begründers dieser Tradition der Kielmansegg hatte drei Söhne. Die ersten beiden erhielten die Güter, für den dritten reichte es nicht. Wäre er katholisch gewesen, wäre er Priester geworden – so war das damals. Wir aber waren evangelisch, und so wurde er Soldat. Diese Art von Tradition war zu meiner Zeit etwas Wichtiges und Gültiges. Heute dagegen heißt es ja über die, die sich bemühen, Traditionen zu wahren: "die Ewiggestrigen". Die Reichswehr war damals in einer schwierigen Situation. Der Versailler Vertrag bedeutete nämlich nicht nur die Abtretung der deutschen Ostgebiete, Reparationen und eine Begrenzung der Reichswehr, sondern eine Gängelung bis ins Detail: So war uns etwa aufgezwungen worden, daß es pro Bataillon nur zwei Offiziersanwärter geben durfte. Oder: Die Zahl der Kampftruppen war auf 39 Regimenter festgelegt. Aber: 21 Infanterie- und 18 Kavallerieregimenter. Wohl wissend, daß die Reitertruppe im modernen Krieg keinen Wert mehr hatte. Das waren so die Gemeinheiten innerhalb des Vertrages.

Dann war Ihnen damals schon klar, daß das Versailler Diktat Deutschland fesselte?

Kielmansegg: Wissen Sie, ich habe die Weimarer Republik nicht gemocht, war ihr gegenüber aber immer loyal.

Von Ernst Jünger stammt die Mahnung, wir dürften nie vergessen, daß der Staat immer nur eine Form der Nation ist.

Kielmansegg: Das ist völlig richtig, die Staaten kamen und gingen, Deutschland blieb. Ich habe drei Staaten gedient, der Weimarer Republik, dem Dritten Reich und der Bundesrepublik Deutschland – aber immer dem einen Vaterland.

Dem Soldatsein wohnt also etwas Übergeordnetes inne, eine grundsätzliche Gebundenheit jenseits der Zeitläufte?

Kielmansegg: Na ja, der Anfang war etwas prosaischer: Mein Vater war bereits 1907 gestorben, und meine Mutter hatte das bißchen Geld, das sie noch hatte, in der Inflation verloren. Also mußte ich nach der Schule schleunigst irgendeinen Erwerb finden. Soldatsein dagegen bot einen Ausweg. Allerdings war mir das aus der genannten Überlieferung heraus auch nahe.

Eine innere Berufung war es dann aber nicht.

Kielmansegg: Es war damals selbstverständlich für einen jungen Mann, auch Soldat zu werden. Dazu kommt, wie gesagt, das Unrecht des Versailler Vertrages, das zu tilgen jeder von uns natürlich mithelfen wollte. Damals gab es eben noch etwas, was es heute überhaupt nicht mehr zu geben scheint: Vaterlandsliebe. Und zwar als ein echtes Gefühl, nicht nur als Mythos. Das spielte bei allen eine Rolle, die damals Soldaten werden wollten. Die jungen Menschen, die heute in die Truppe eintreten, kommen, ohne ein solches Gefühl überhaupt zu kennen.

Sie haben später als Nato-Soldat auch ausländische Armeen kennengelernt. Wie ist das dort?

Kielmansegg: Der Franzose, der Engländer oder der Amerikaner ist, wenn es darauf ankommt, immer in erster Linie Franzose, Engländer oder Amerikaner. Ich bezweifle, daß das heute auch für die Deutschen zutrifft. Meine Frau bemerkte immer mal wieder: "Unmöglich! Bei den Franzosen gäbe es so etwas nicht."

Das heißt, Sie haben sich damals als überpolitischer Treuhänder der Nation verstanden: als in der Verantwortung vor dem Vaterland stehend.

Kielmansegg: So war es – allerdings! Wir waren ja auch gehalten, überpolitisch zu sein.

War diese gefühlsmäßige Verpflichtung, notfalls auch "gegen den Staat" Treuhänder der Nation zu sein, eine Voraussetzung dafür, später gegen Hitler zu handeln?

Kielmansegg: Das ist eine Frage der Erziehung. Wenn Sie sich den militärischen Widerstand anschauen, fällt auf, daß relativ viele Widerständler nicht nur aus einem bestimmten Regiment des Heeres, sondern auch aus einer Schule, nämlich dem Internat Roßleben kamen. Ich übrigens auch. Und allein von Roßleben wurden dann acht Männer hingerichtet. Das ist Geist, den man mitbekommen hat. Kein nationaler, sondern ein sittlicher Geist.

Wie steht es mit dem Esprit de Corps in der Bundeswehr, wie Sie sie erlebt haben? Fänden deren Offiziere in einer sittlichen Krise wie der vom 20. Juli noch die nötige Kraft zu handeln?

Kielmansegg: In einem Rechtsstaat demokratischer Natur kommt es gar nicht zu so einer Situation.

Wie war 1933 die Stimmung gegenüber der NSDAP in der Truppe?

Kielmansegg: Die Erfolge der neuen Außenpolitik haben uns natürlich sehr beeindruckt. Wie auch nicht? Die ganze Welt war beeindruckt! Dennoch, und das gilt auch für die spätere Zeit, nach der Vergrößerung der Reichswehr, den NS-Parteiapparat haben wir – es ist nicht übertrieben formuliert – gehaßt.

Die Menschen liefen damals Hitler zu, weil dieser den Versailler Vertrag beendete. Heute dagegen wird nicht der Umstand, daß die Wähler Hitler zugelaufen sind, sondern, daß sie den Vertrag zerrissen sehen wollten, als das Verhängnis dargestellt – Stichworte: "übersteigerter Nationalismus" oder "deutsche Großmannssucht". War es aber nicht legitim, das Diktat abgeschüttelt zu wünschen?

Kielmansegg: Natürlich war es das. Neben den über sieben Millionen Arbeitslosen war der Versailler Vertrag die Hauptlast auf Deutschlands Schultern. Warum hat man zugelassen, daß Hitler sich dieses Thema an die Fahne heften konnte? Hier ist doch weniger den Wählern ein Vorwurf zu machen als vielmehr den Parteien, die diesen sehnlichsten Wunsch des deutschen Volkes nicht nachdrücklicher vertreten haben. Damit hätte Weimar sehr gewinnen können.

Der Fehler bestand also nicht darin, daß die Deutschen eine Armee und nationale Gleichberechtigung haben wollten, sondern daß der Falsche diesen Wunsch erfüllte.

Kielmansegg: Der Falsche, das sagen Sie. Das ist eine Sicht, die der Geschichte nicht gerecht wird. Das ist die Sicht der Gegenwart, die über die Vergangenheit urteilt. Der Beginn Hitlers stellte sich den damaligen Menschen als normaler demokratischer Vorgang dar: Der größten Partei wurde die Regierung anvertraut. Soviel hatten wir alle von Demokratie begriffen. Vielleicht gab es Einzelne, die etwas geahnt haben. Den meisten aber, die sagen, sie hätten schon am 30. Januar 1933 gewußt, wie alles kommen würde, glaube ich kein Wort. Und selbst die Ahnenden haben nicht gesagt: "Das wird so kommen", sondern: "Das könnte kommen". Das was Hitler dann getan hat, war doch jenseits aller Vorstellungskraft. Doch bitte ich das nicht als Entschuldigung zu verstehen. Ich will erklären, nicht entschuldigen.

Warum reagierte die Wehrmacht aber nicht wenigstens Anfang 1938 auf das Komplott zur Absetzung des Oberbefehlshaber des Heeres, Werner Freiherr von Fritsch, der fälschlich der Homosexualität beschuldigt wurde? Für Sie war das immerhin die Wende.

Kielmansegg: Auch nur, weil ich Fritsch selbst kannte, da er mein Onkel war. Deshalb war mir klar: es war eine Intrige. Doch selbst in meinem Fall ist das Wort "Wende" zu stark, es war eher der Beginn des Nachdenkens: "Na, wenn das möglich ist ..." Tatsächlich wurde die Fritsch-Affäre in der Öffentlichkeit gar nicht so wahrgenommen.

Dennoch bleibt zweierlei unverständlich: Warum irritierte nicht von Anfang an das schändliche Verhalten Hitlers gegenüber den deutschen Juden und ...

Kielmansegg: Was wußte man denn über den Massenmord? Damals nichts.

Gemeint ist die alltägliche Verfemung der Juden, die ja in der Truppe durchaus mißbilligt wurde. Das zweite ist die Ermordung des ehemaligen Reichskanzlers General von Schleicher und des Generals von Bredow während des Röhm-Putsches am 30. Juni 1934.Waren das nicht Warnsignale?

Kielmansegg: Das stimmt, aber das wurde nicht Hitler zugesprochen. Es gab diesen naiven Spruch "Wenn das der Führer wüßte!", der von Goebbels ausging und propagiert wurde. Dieses Denken hielt sich bei eínigen bis zum Kriegsende. Den Mord an Schleicher hielt man etwa für eine Sache der SS.

Die Wehrmacht hat aber logistische Unterstützung geleistet: etwa LKW gestellt.

Kielmansegg: Aber nicht beim Erschießen! Was blieb der Wehrmacht denn übrig. Man fürchtete Röhm, und er hätte sonst seine Ziele auch erreicht: Er wäre Minister und Oberbefehlshaber geworden.

Wußten Sie von der geplanten Maßnahme?

Kielmansegg: Ich wunderte mich am Tag zuvor über einen MG-Soldaten, der mit ganz besonderer Sorgfalt seine Patronengurte aufmunitionierte. "Aber Herr Oberleutnant", antwortete er mir, "morgen darf es doch keine Hemmung geben!" Wir wußten, es würde etwas passieren. Die Annahme, Röhm würde die Macht übernehmen, war für uns nicht einfach nur eine theoretische Möglichkeit, sondern eine echte Angst.

Sie waren dann aber an der Aktion nicht weiter beteiligt, ebensowenig wie zehn Jahre später am Attentat auf Hitler.Warum?

Kielmansegg: Aktiv nicht, aber als Mitwisser schon. Stauffenberg erkannte, daß ich auf meinem Dienstposten, nämlich der Operationsabteilung, nichts für das Unternehmen hätte beitragen können. Dennoch bin ich nach dem 20. Juli verhaftet worden, weil von einem Gespräch mit mir in einem Folterverhör eines Kameraden die Rede war.

Wie haben Sie sich retten können?

Kielmansegg: Mir wurde bald klar, was die wußten, also legte ich mir einen Plan zurecht. Im Verhör wurde ich gefragt, ob ich wisse, warum ich hier sei. "Nein!" Dann zögerte ich, "Vielleicht wegen meines Gesprächs über die Beseitigung des Führers?" – Ich habe selten ein erstaunteres Gesicht gesehen! "Wissen Sie," fuhr ich fort, "der Generalstabsoffizier muß auf alles vorbereitet sein, also dachten wir auch über Gegenmaßnahmen für diesen Fall nach. Schließlich war eine Woche zuvor Mussolini gestürzt worden." So erzählte ich alles und lockte sie dennoch auf eine falsche Fährte.

Wie erlebten Sie den Untergang des Reiches?

Kielmansegg: Finis Germaniae! Deutschland verschwand nicht, aber es hatte nichts mehr mit dem zu tun, was es seit 1870 ausgemacht hatte. Es war schon sehr bitter.

Konnten Sie sich vorstellen, daß es zu einer Zerstückelung des Reiches und zur Annexion des deutschen Ostens kommen würde?

Kielmansegg: Das ist ja heute alles vergessen. Aber das ist auch so eine Sache, die nur in Deutschland möglich ist. Mein Gott, wenn ich da an die Franzosen denke, die sich heute noch an die geschichtlich entferntesten Dinge erinnern. Mir ist das alles, auch ohne daß ich täglich daran denke, sehr präsent. Das einfach alles so abzutun, nach dem Motto "Das ist halt so", nein ... mein Gott nochmal.

Vergessen? Tabuisiert!

Kielmansegg: Heute wird man ja bei allem und jedem in die rechtsextreme Ecke gestellt. Schon, wenn Sie ganz einfach nur konservativ denken. Die Übertreibung halte ich für eine Haupteigenschaft der Deutschen.

Hat sich die Bundesrepublik also als ein schlechter Verwalter des Stauffenberg’schen Erbes erwiesen?

Kielmansegg: Dazu müßten die Leute in den verantwortlichen Stellen zunächst einmal das Gefühl haben, daß sie so eine Verantwortung überhaupt haben.

Schließlich wurden Sie gerufen, um die westdeutsche Armee aufzubauen. Was haben Sie gefühlt, als Sie zum ersten Mal die Uniform der neuen Bundeswehr anzogen?

Kielmansegg: Selbstverständlichkeit. Angesichts der latenten Bedrohung durch die Sowjetunion und deren Bolschewismus. Denn ein guter Soldat muß jederzeit bereit sein, das Vaterland zu schützen und zu verteidigen.

Wäre denn die Nato flexibel genug gewesen, um eine Attacke auch wirklich abzuwehren, oder hätte die Rote Armee bereits den Rhein überschritten, bevor die entsprechende Anforderung die Befehlskette der Nato durchlaufen hätte?

Kielmansegg: Die Frage ist sehr berechtigt. Ich habe es seinerzeit etwa abgelehnt, Atomminen in meinem Abschnitt einzuplanen, denn die Anforderungszeit dafür war so lang, daß die Russen längst an Ort und Stelle gewesen wären. Den Einsatz einer taktischen Atomwaffe geht vom kommandierenden General vor Ort durch alle Instanzen nach oben (zum Nato-Rat und dem Präsidenten der USA). Ich habe das einmal als Übung in der Praxis ausprobiert. Das ganze dauerte sechseinhalb Stunden. Und das unter der Annahme, daß auch alle Befehlsstellen auf Anhieb funktionieren. Und das obwohl feststand, daß wir – angesichts der Übermacht der Russen an Zahl und konventionellen Waffen – diejenigen sein würden, die gezwungen wären, zuerst taktische Atomwaffen einzusetzen. Das war zwar nirgends festgelegt, aber unausgesprochen klar. Denn ohne diese, das habe ich auch einmal durchspielen lassen, wären die Russen tatsächlich innerhalb von sechsundreißig Stunden am Rhein gewesen.

Hat sich das Selbstverständnis des Soldaten durch diese Waffen geändert?

Kielmansegg: Das Selbstverständnis nicht, aber das Denken. Der Soldat bedient sich heute der Technik, doch das Denken ändert sich nicht nach der Technik, sondern nach der Wirkung – das ist das Entscheidende. Der Soldat ist in seinem Wesen gleichgeblieben.

Was halten Sie für das Wesen des Soldatischen?

Kielmansegg: Das Besondere liegt darin, daß er töten muß.

Erwächst daraus eine besondere Verantwortung, eine Verpflichtung, sich in besonderer Weise mit seinem Tun auseinanderzusetzen?

Kielmansegg: Ja, für jeden, der eine Gruppe oder Einheit führt und befiehlt. Soldat im Einsatz zu sein, heißt: essen, schlafen und dazwischen das tun, was ihm befohlen wird.

Erfordert das nun einen simplen oder gerade einen starken Charakter?

Kielmansegg: Ich will so antworten: Denken Sie an die Verantwortung eines jeden Vorgesetzten, der über den Tod von Menschen zu entscheiden hat. Meinen Vormund, einen Onkel, der selbst preußischer Offizier gewesen war, fragte ich, als klar war, daß auch ich die Soldatenlaufbahn einschlagen würde, ob er mir etwas mit auf den Weg geben wolle. Er wurde nachdenklich und antwortete: "Wenn Du Offizier wirst, wirst Du Vorgesetzter. Vergiß nie, daß Deine Untergebenen Menschen sind wie Du."

 

Johann Adolf Graf von Kielmansegg, General a.D. Träger des großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern und Schulterband. Geboren 1906 in Hofgeismar/ Hessen, trat er nach dem Abitur an der Klosterschule Roßbach 1926 in die Reichswehr ein. Nach Truppenverwendung und Kriegsakademie tat er von 1942 bis 1944 Dienst im Oberkom-mando der Wehrmacht, 1944 bis 1945 befeh-ligte er das Panzergrena-dierregiment 111. Ab 1947 war er als Verlagsangestellter und von 1950 bis 1955 in der Dienststelle Blank, dem Vorläufer des Bun-desverteidigungs-ministeriums, tätig. Als "Nationaler Militärischer Repräsentant" vertrat er zwischen 1955 und 1958 die Bundesrepublik Deutschland im Obersten Hauptquartier der Alliierten Mächte in Europa (SHAPE). 1959 bis 1960 kommandierte er die 5. Panzerdivision in Koblenz, 1960 bis 1963 die 10. Panzergrena-dierdivision in Sigmaringen. Von 1963 bis 1966 war er Ober-befehlshaber der Verbündeten Landstreitkräfte und von 1966 bis 1968 der Verbündeten Streitkräfte der Nato für Europa-Mitte. 1968 nahm er seinen Abschied.

 

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