© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/01 20. April 2001

 
Die deutsch-tschechische Welt von gestern
Ein Lexikon zur Musikkultur in Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien
Wiebke Dethlefs

Wohl das ungewöhnlichste neuere Buchprojekt der Musikwissenschaft stellt das kürzlich vom Bezirk Oberpfalz getragene Sudetendeutschen Musikinstitut herausgegebene zweibändige "Lexikon zur deutschen Musikkultur-Böhmen, Mähren Sudetenschlesien" dar. Ungewöhnlich nicht nur deshalb, da von 150 Musikforschern auf mehr als 1.800 Seiten ein einzigartiges Kompendium des musikalischen Geschehens vom mittelalterlichen Minnesang bis zum 20. Jahrhundert in den deutschsprachigen Gebieten k.u.k. Österreichs präsentiert wird, das in solchem Umfang und solcher Vollständigkeit bisher nicht einmal ansatzweise vorlag.

Dennoch war der Plan zu einem solchen Werk nicht neu. Es gibt einen leider nicht verwirklichten Vorläufer zum vorliegenden Opus im zweibändigen "Musiklexikon für Deutsch-Böhmen (Bibliographisches und ortsgeschichtliches Lexikon der Tonkunst)", das 1907 der in Reichenberg wirkende Franz Moissl initiierte und das von musikalischen Koryphäen dieser Zeit wie dem mährischen Musikwissenschaftler Guido Adler unterstützt wurde. Damals gelangte dieses Unternehmen, vermutlich aufgrund zu starker Inanspruchnahme Moissls durch seine hauptamtliche Tätigkeit nach 1908 als Professor für Musiktheorie und Orgel in Graz und Klosterneuburg, nicht über das Planungsstadium hinaus.

Widmar Hader, der Projektleiter am Sudetendeutschen Musikinstitut, schildert, wie es nach fast einhundert Jahren doch noch zu einer vergleichbaren Veröffentlichung kam. Wie so oft gaben persönliche Erfahrungen die erste Anstöße. Denn Hader vermißte schon bald nach der Vertreibung, Anfang der sechziger Jahre, als Leiter der Südmährischen Sing- und Spielschar, eine Sammlung geeigneter Stücke für sein Ensemble und wurde sich des Fehlens eines umfassenden Lexikons bewußt. Er baute dann im Verlauf von dreißig Jahren an einer umfangreichen Sammlung von Notenmaterial, biographischen Notizen, Bildern, Dokumenten und Büchern, die er Anfang der neunziger Jahre dem gerade gegründeten Regensburger Sudetendeutschen Musikinstitut zur Verfügung stellte. Es war damals geplant, ein vierteiliges Großprojekt mit dem Titel "Ostdeutsches Musiklexikon" herauszubringen, bei dem allerdings nur der zweite Band (Böhmen, Mähren, Sudetenschlesien) vom Regensburger Institut bearbeitet werden sollte. Für die anderen Gebiete, die preußischen Ostprovinzen Schlesien, Pommern, Ostpreußen sowie für Siebenbürgen sollte das später so genannte "Institut für deutsche Musik im östlichen Europa" in Bergisch Gladbach die Federführung übernehmen.

Obwohl das bundesdeutsche Innenministerium es zunächst großzügig förderte, wurde 1998 doch offenbar, daß an eine Realisierung des Gesamtprojektes nicht zu denken ist. Angesichts der umfassenden geleisteten Vorarbeiten schien es sinnvoll, zumindest den zweiten Band unter dem ursprünglichen Titel "Sudetendeutsches Musiklexikon" gesondert zu publizieren, was jetzt endlich unter der Herausgeberschaft des Sudetendeutschen Musikinstituts und dank der Unterstützung durch den Langen Müller Verlag auch endlich gelungen ist.

Doch wurde bereits während der Vorarbeiten klar, daß ohne eine Kooperation mit tschechischen Forschern nicht auszukommen war, wenn etwaige Schwierigkeiten, die sich aus einer divergierenden Geschichtsschreibung ergeben haben, einvernehmlich überwunden werden sollen. Diese Zusammenarbeit wurde dann 1991 beim Internationalen Musikwissenschaftlichen Kolloquium in Brünn festgeschrieben. Im Rahmen dieses Kongresses wurde zur gleichen Zeit nach über zwanzigjähriger Arbeit das "Slovnik Ceské hudební kultury", das Lexikon der tschechischen Musikkultur, vollendet. "Cesky" war hier allerdings nicht als "nationaltschechisch" zu verstehen, sondern war durchaus "böhmisch" gemeint, da auch die Verwobenheit mit den anderen Völkern in den böhmischen Ländern, insbesondere mit den Sudetendeutschen, aufgezeigt wurde. Das tschechische und das vorliegende sudetendeutsche Lexikon können daher als komplementär betrachtet werden. Der so bedingte völkerverbindende Charakter des Projektes braucht deshalb eigentlich nicht weiter exponiert zu werden: Es ist schlicht ein Spezifikum des vorliegenden Werks, das von seinen tschechischen Mitherausgebern emphatisch als "wissenschaftlicher Beitrag ersten Ranges und wahre Annäherungsgeste zwischen Tschechen und (Sudeten-)Deutschen" gepriesen wird.

Konzeptionell möchte das Lexikon "das verstreute Wissen um das Erbe der Musikkultur Böhmens, Mährens und Sudetenschlesiens und ihre Wirkungsgeschichte im Sinn einer Enzyklopädie" zusammenfassen. Als Einleitung überrascht eine ausführliche Darstellung des "Zweivölkerschicksals von Deutschen und Tschechen" des Münchener Historikers Friedrich Prinz, des Doyens der heutigen Geschichtsschreibung Deutsch-Böhmens. Prinz’ essyaistische Darstellung mündet jedoch in eine still-resignative Trauer, gespeist aus dem Bewußtsein heutiger Verödung der musikalischen Landschaft, die sich früher so glänzend aus der fruchtbaren Symbiose von Deutschen und Tschechen speiste.

Bei den umfassenden Würdigungen der zahllosen großen Musiker dieses Gebietes werden auch deren zum Teil kaum mehr bekannte oder zu belegende Vitae ausführlich dargestellt. Johann Joseph Abert aus Kochowitz, Bezirk Dauba sei hier stellvertretend für viele genannt. Seine Oper "Ekkehard" konnte im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zum Kassenschlager ersten Ranges avancieren, ist jedoch heute genauso wie ihr Schöpfer vollständig vergessen. Für Abert, wie auch für unzählige andere Komponisten des sudetendeutschen Raumes, die trotz immensen Könnens und Fleißes sich nicht im Gedächtnis der Kunstwelt verankern konnten, bricht das Werk eine Lanze, auch wegen der mit großer Sorgfalt und Vollständigkeit erstellten Werkverzeichnisse.

Daß die Herausgeber ein besonderes Gewicht auch auf das soziokulturelle Umfeld des damaligen deutschböhmischen Musiklebens gelegt haben, zeigen u.a. die breiten Darstellungen über die sudetendeutschen Sing- und Spielscharen, die Adelskapellen und beispielsweise auch die der jeweiligen "Gesellschaften zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen". Beeindruckend insbesondere die detaillierte Darstellung der musikalischen Aktivitäten nicht nur in Prag, sondern auch in allen Bezirksstädten, in jeweils ausführlichster Form mit den Unterkapiteln musikalischer Überlieferung, Kirchenmusik, Schulmusik, Musiktheater, Konzertwesen, Vereinswesen und der akribischen Aufzählung bedeutender Persönlichkeiten, die in der jeweiligen Stadt wirkten oder als Gäste in ihr weilten.

Naturgemäß findet das im Sudetenland so reiche Volksmusikleben eine ebenso präzise informierende Würdigung. Ausgehend vom sudetendeutschen Volkslied und Volkstanz, über die Volksinstrumentalmusik und die zugehörigen Volksinstrumente bis hin zum besonders ausführlichen Kapitel der Volksmusiksammlungen liegen die Fakten in einem Umfang wie aus keinem vergleichbaren Werk bis dato bekannt vor. Insbesondere die Musikschulen (Petschau), die Chormusikpflege, die Entwicklungsgeschichte der Gesangvereine, speziell der Prags werden in einer fast epischer Breite dargestellt, bei der man immer wieder staunt, wie es den Herausgebern gelungen ist, an solch umfassendes, dabei aber ursprünglich weit verstreutes Quellenmaterial zu gelangen. Für das vollständige Werkverzeichnis Anton Günthers gilt dasselbe – eine wichtige, doch bisher verschüttete Fundgrube für Volksmusikforscher.

Die Fülle des dargebotenen Materials bleibt aber kaum jemals auf rein Lexikalisches oder gar pure Zahlen und Fakten beschränkt. Insbesondere bei den Personendarstellungen wird man immer wieder mit Unbekanntem oder gar Ungewohntem überrascht. So wird beispielsweise bei Gustav Mahler u.a. auf bisher unveröffentliche musikologische Forschungsergebnisse hingewiesen. Insbe in seiner Zehnten Symphonie lassen sich nicht nur die heimische Folklore, sondern auch musikalisch-ideelle Adaptionen von Werken Josef Suks und Josef Bohuslav Foersters wiederfinden. Neue Überlegungen sind auch ins Kapitel Franz Schubert eingeflossen, wenn die besondere Klangfülle und Harmonik Schuberts, die stets mehr "böhmisch" als "wienerisch" wirkt, in ihrer Koinzidenz auf seine nordmährisch/schlesische Herkunft zurückgeführt wird (Schuberts Mutter stammte aus Zuckmantel an der Bischofskoppe). Bisher wohl kaum einer geschlosseneren Untersuchung unterzogen wurden besipielweise die Beziehungen Beethovens zu böhmischen Künstlern bzw. die Rezeption Beethovenscher Werke in den böhmischen Ländern.

Im Bild des Kafka-Herausgebers und Schriftstellers Max Brod zeigen sich durch die Würdigung Brods als Komponist von Kammermusik und in seiner Zusammenarbeit mit Leos Janacek sowie als dessen Biograph ganz neue Seiten. Der neben Mahler wahrscheinlich markanteste schöpferische sudetendeutsche Musiker und DDR-Nationalpreisträger Fidelio F. Finke und seine künstlerische Position vor 1945 wie auch sein seltsamer Weg von Prag nach Ost-Berlin werden vorgestellt – auch hier gilt aufs neue: Fakten, die bisher unbekannt geblieben waren. Man erfährt wahrscheinlich erstmals Näheres über Anton Philipp Heinrich aus Rumburg, der sich 1810 in den USA niederließ, später zum ersten Symphoniekomponisten der Neuen Welt wurde und fünfzig Jahre vor Dvorák wie dieser indianische Melodien in seinen Kompositionen verarbeitete.

Wenzel Kalliwoda, von Robert Schumann gleichberechtigt neben Beethoven gestellt, wird ausführlich gewürdigt. Den an Wagner und Bruckner orientierten Spätromantiker Camillo Horn aus Reichenberg mit seinem umfangreichen Schaffen präsentiert man in einer Weise, daß beim Leser ein schier unstillbares Verlangen erwacht, Musik von diesem Vergessenen erstmals zu hören. Wie schade, daß auf dem heutigen CD-Markt nichts von Horn und Heinrich zu finden ist.

Einiges Absonderliche, das man bei einem Buch des Sudetendeutschen Musikinstituts nicht erwartet hätte, zum Teil wohl aus einer seltsamen political correctness-Mode heraus verstanden, möge dennoch kritisch angemerkt werden. Niemand würde es den Herausgebern anlasten, wenn sie beispielsweise Peter Iljitsch Tschaikowsky oder Prokofieff schrieben, und nicht in einem seltsamen Mischmasch aus russischen Buchstaben und phonetischer Schreibweise sagten. Auch ist die Deklinierung von abgekürzten Adjektiven bisher nicht gebräuchlich gewesen (Beispiele: Gesellschaft zur Förderung "dt.er" Kunst oder Brahms, der Komponist des "Dt.en" Requiems). In letzterem Falle sei doch geraten, "Deutschen" auszuschreiben, da es sich hier nicht um ein Adjektiv, sondern um ein Attribut im Gesamtnamen handelt.

Auch muß sich an ganz wenigen Stellen das Lektorat etwas der Nachlässigkeit bezichtigen lassen, zum Beispiel wenn im Kapitel Carl Maria von Weber die Uraufführung von dessen Oberon auf den 23. Dezember 1926 und nach Berlin verlegt wird, wo jene doch bekanntlich am 12. April 1826 in London stattfand oder wenn beim Stichwort Mittelalter u.a. das Großmährische Reich erwähnt wird, das angeblich 973 von den Tschechen erobert sein wurde, aber bereits 907 unter ungarische Herrschaft fiel. Doch schmälern solche Schnitzer den Wert des Gesamtwerks in keiner Weise.

Trotz der Bescheidenheit des Herausgebers in seinem Vorwort, daß das Werk "kaum annähernd Vollständigkeit erreichen kann", hat es diese Vollständigkeit, soweit sie aktuell bestimmbar ist, mehr als erreicht. Und über seine Funktion als reines Nachschlagewerk und unverzichtbare Arbeitsgrundlage für Musikwissenschaftler und Kulturhistoriker hinaus bietet es in der überreichen, aus unzähligen Quellen geschöpften (und wie in einem Brennspiegel gebündelten) Fülle seiner Details auch ein einzigartiges Lesevergnügen nicht nur für Musikfreunde, da hier eine längst untergegangene Welt glanzvoll wiederersteht, eine "Welt von gestern", um mit dem Schriftsteller Stefan Zweig (1881–1942) zu sprechen, dessen Wurzeln ins Mährische führen und der auch einer der bekanntesten "alteuropäischen" Sammler musikalischer Autographica war.

Dieses Lexikon gewährt tiefe Einblicke in die Bedeutung Deutsch-Böhmens und des übrigen Sudetenlands für die Kultur Europas, die aber mit den letzten Satz des letzten Stichworts "Zwanzigstes Jahrhundert" lapidar kontrastiert werden mit dem Fazit: "Ein eigenständiges deutsches Musikleben besteht nicht mehr". Am Ende also wie schon in Friedrich Prinz‘ elegischer Einleitung: unsagbare Trauer über das Verschwundene.

 

Sudetendeutsches Musikinstitut (Hg.): Lexikon zur deutschen Musikkultur. Böhmen-Mähren-Sudetenschlesien. 2 Bände, Langen Müller Verlag München 2000, 1813 S., Abb., 248 Mark


 
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