© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/01 20. April 2001

 
Versandet
Kino: "Die Purpurnen Flüsse"
Claus-M. Wolfschlag

Dreihundert Kilometer entfernt voneinander werden am gleichen Tag zwei Polizisten mit der Aufklärung zweier ungewöhnlicher Fälle beauftragt. Inspektor Pierre Niemans (Jean Reno), ein alter Hase, soll einen grausamen Ritualmord aufklären, der sich in den Alpen, nahe der abgelegenen Universitätsstadt Guernon, ereignet hat. Das grausam gefolterte und verstümmelte Opfer arbeitete als Aufsicht in der Universitätsbibliothek. Kommissar Max Kerkerian (Vincent Cassel) recherchiert parallel wegen einer Friedhofsschändung in Sarzac. Das Grab eines vor vielen Jahren verstorbenen Mädchens wurde gewaltsam geöffnet, zudem wurden sämtliche Akten über das Mädchen in der örtlichen Grundschule gestohlen. Die Ermittlungen beginnen sich nach einer Weile zu überkreuzen und treffen sich in der alten Berg-Universität. Neue Todesopfer lassen den Schluß zu, es mit einem Serienmörder zu tun zu haben. Doch wo liegt das Motiv? In der Vergangenheit des toten Mädchens, in der Vergangenheit der Universität gar? Und was ist das Geheimnis der "purpurnen Flüsse"?

Große Erwartungen sind es, die Regisseur Mathieu Kassovitz ("Hass") beim Zuschauer aufbaut. Und sein geschicktes Hantieren mit den filmischen Mitteln scheinen ihm erst recht zu geben. Der Ort des Geschehens, die selten für Filme genutzte Szenerie der französischen Alpen, hebt sich wohltuend europäisch von den üblichen amerikanischen Steppen- und Großstadtlandschaften ab. Beeindruckende Naturaufnahmen ohne übermäßiges Pathos und die elegante Architektur des Universitätsgeländes unterstreichen die stimmungsvolle Wirkung des Films.

Die mysteriösen Umstände der beiden Fälle, das schrittweise Zusammentreffen der polizeilichen Nachforschungen und der so verschiedenen Untersuchungsbeamten, eine wendungsreiche Handlung, die auch zu Irrwegen führt (unter anderem zu letztlich unschuldigen "Skinheads"), verstehen es, den Betrachter in den Bann zu ziehen. Doch je länger die "purpurnen Flüsse" vor sich hinrauschen, um so stärker beginnen sie den Bach hinunterzufließen. Die Auflösung des Geschehens gerät zunehmend wirrer, beginnt unverständlich zu werden. Personen werden anscheinend recht grundlos zu Opfern, die Hintermänner scheinen verschont zu bleiben, so daß irgendwann die Aufnahmefähigkeit nachzulassen anfängt. Im aufgesetzt wirkenden Showdown schließlich gerät viel zu spät noch eine konstruiert wirkende Schlüsselfigur ins Rampenlicht, über deren Existenz man schon längst aufgegeben hat, sich Gedanken zu machen. Das Drehbuch scheint den Faden verloren zu haben, und all die große Erwartung droht im kommerziellen Fahrwasser zu versanden.

Hinzu kommt der alberne ideologische Hintergrund. Die TraditionsUniversität entpuppt sich nämlich als eine uralte Rassezuchtstätte, bei der die Professoren ihre überdurchschnittlich begabten Kinder ausbilden und sich kreuzen lassen. Ab und zu muß dafür frisches, unzivilisiertes Bauernblut hinzugeführt werden, um Erbkrankheiten zu vermeiden. Die wenigen Professoren müßten allerdings schon sehr zeugungswillig sein, um mit ihren Kindern eine ganze Universität füllen zu können.

Aber mit Logik darf man diesem Pseudo-Schreckensszenario nicht nachkommen. Es ist scheinbar die irrationale Angst vor Eliten, die Furcht vor denen, die zu perfekt erscheinen, welche bei den Filmemachern als Schaudereffekt eingesetzt wird. Irgendwo muß doch der Haken liegen bei klugen, schönen und gesund wirkenden Menschen, der einem das Gefühl vermittelt, daß derartige "Übermenschen" große Fehler besitzen. Muß ein intelligenter und körperlich tüchtiger Mensch nicht zwangsläufig Defizite auf der moralischen Ebene aufweisen? Könnten wir, wenn es anders wäre, noch morgens nach mancher gequälten Nacht in den Spiegel schauen, ohne über unsere vertanen Chancen zu sinnieren? Der Spruch "Gesunder Geist im gesunden Körper" wird bei Kassovitz deshalb in einen potentiell nationalsozialistischen Kontext gesetzt.

Aus dem Blickfeld gerät bei dieser ressentimentverhafteten inhaltlichen Beschäftigung, daß anerkanntermaßen weder Intelligenz und Bildung noch körperliche Gesundheit negative Werte darstellen müssen, sich der Streit vielmehr nur darum zu drehen hat, welche Methoden – humane oder verbrecherische – man anwendet, um dieses Menschheitsideal zu erreichen. Doch vielleicht sollte man solche Überlegungen unterlassen. Es hieße sonst, zuviel in einen letztlich verworrenen und oberflächlichen Kriminalfilm zu interpretieren.


 
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