© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/01 20. April 2001

 
Deutschlands Pillendreher Nummer Eins
Chemieindustrie: Bayer stärkt Diagnostika / Trotz Erfolg gibt es Globalisierungszwänge
Rüdiger Ruhnau

Auch in der Chemie-Industrie hat die Globalisierung in den letzten Jahren entscheidende Veränderungen bewirkt. Die Erwirtschaftung akzeptabler Renditen sowie die amerikanische Shareholder Value-Maxime (Unternehmenswertsteigerung) erzwingen einfach die Schaffung größerer Betriebseinheiten bei Verringerung der Geschäftsbereiche. Fokussierung statt Diversifikation heißt die Devise. Hinzu kommen die hochgeschraubten Erwartungen neuer Technologien wie der Biotechnologie und ihrer Teildisziplin der Gentechnik. Eine Reihe chemischer Großkonzerne hat die Trennung des klassischen Chemiegeschäfts von den Life-Science-Produkten bewerkstelligt, andere Unternehmen haben ihre endgültige Struktur noch nicht gefunden. Spannend bleibt die Frage, welche Antworten die noch verbliebenen klassischen Chemieunternehmen, zu denen in erster Linie der Leverkusener Bayer-Konzern zählt, auf die weltweiten Herausforderungen finden werden.

Das Bayer-Geschäft ist in die vier Arbeitsgebiete Gesundheit, Landwirtschaft, Polymere und Chemie gebündelt, die wiederum in mehrere Geschäftsbereiche unterteilt sind. Das Arbeitsgebiet "Gesundheit" ist in die Bereiche Pharma, "Consumer Care" und Diagnostika gegliedert. Von den "Consumer Care"-Produkten, den verschreibungsfreien Medikamenten, ist am bekanntesten das Erfolgspräparat Aspirin, das sich auch hundert Jahre nach seiner Markteinführung steigender Nachfrage erfreut. Aspirin erzielte 1999 einen Umsatzrekord von 532 Millionen Euro.

Weniger erfreulich ist, daß künftig in den USA über Aspirin entschieden wird. Der Konzern kündigte an, den Geschäftsbereich Consumer Care von Leverkusen in das nordamerikanische Morristown zu verlegen, weil 50 Prozent des Umsatzes in den USA, Kanada und Mexiko erwirtschaftet werden. Damit ist "Consumer Care" bereits der zweite Geschäftsbereich, der nicht mehr aus der Firmenzentrale am Rhein, sondern aus den USA gelenkt wird, denn auch Bayer Diagnostics ist im US-Bundesstaat New York beheimatet.

Die Heilung einer Krankheit fängt mit der Diagnose an. Je schneller und genauer diagnostiziert wird, desto schneller und individueller kann therapiert werden. Vor 14 Jahren begann der Siegeszug der Nukleinsäurediagnostik (DNS-Tests), die bei der Erkennung von Infektionskrankheiten und Krebs, aber auch bei der Beobachtung des Krankheitsverlaufs, eine immer wichtigere Rolle spielt. Die US-Firma Chiron Diagnostics, mit 3.300 Mitarbeitern führend auf dem Gebiet der Nukleinsäurediagnostik, ist von Bayer zu einem Preis von 1,9 Milliarden Mark übernommen worden. Damit rücken die Leverkusener in die Spitzengruppe der internationalen Diagnostika-Hersteller vor. Wie Aids gehören auch die verschiedenen Formen von Hepatitis zu den gefährlichsten Infektionskrankheiten. Das Auftreten der Erreger-Viren, u.a. in Blutkonserven, ist dank der DNS-Tests sicher zu bestimmen.

Jeder Mensch hat seine eigene genetische Individualität. Träger der Erb-information ist die in jeder einzelnen Körperzelle vorhandene makromolekulare Desoxiribonukleinsäure (DNS), daher reicht schon das Haar eines Menschen für eine Genanalyse aus. Die Anzahl der Grundbausteine einer DNS wird in Basenpaaren angegeben, das menschliche Genom besteht aus rund drei Milliarden Basenpaaren. Nach der weitgehenden Entschlüsselung des menschlichen Erbguts ist es möglich, bestimmte DNS-Abschnitte als krankheitserzeugende Gene zu erkennen. Mehr als 1.200 Gene, die krankheitsrelevante Informationen tragen, sind bereits gefunden worden. Auch der Bayer-Konzern beteiligt sich erfolgreich an der Suche nach diesen Genen, denn jetzt besteht erstmals die Chance, gezielt Arzneimittelwirkstoffe zu entwickeln. So wie ein Schlüssel nur in ein bestimmtes Schloß paßt, greift auch ein medizinischer Wirkstoff nur an einer bestimmten Stelle des Gens ein. Man nennt diese Orte Targets ("Zielscheiben"), es sind Proteine im molekularen Bereich, deren Aufbau ganz spezifisch von den Genen gesteuert wird. Zur wirksamen Krankheitsbekämpfung müssen daher Wirkstoffe gefunden werden, die bei den Targets andocken.

Bayer hat für die Suche nach solchen Targets einen Großauftrag über 200 Millionen Mark an die junge Heidelberger Bioinformatik-Firma Lion Bioscience AG erteilt. Dort werden die riesigen Datenmengen der gentechnischen Forschungen analysiert und mit Hilfe von Computerprogrammen in spezifische Informationen übersetzt. Im ersten Jahr nach Vertragsabschluß konnten bereits 100 Targets gefunden werden. Lion Bioscience baut unter Mitwirkung der Leverkusener im US-Staat Massachusetts ein Zentrum für Bioinformatik zur Forschung des Erbguts auf. Bayer erhofft sich so eine Spitzenstellung in der Bioinformatik, einer Wissenschaft, die es vor fünf Jahren noch gar nicht gab.

Während man das Aufspüren der Targets unabhängigen Biotech-Firmen überträgt, bleibt die Suche nach Wirkstoffen Bayers ureigenstes Forschungsgebiet. Heute werden täglich ca. 40.000 Substanzen mit hochempfindlichen Robotern auf ihre Wirkstoffaktivität getestet – eine unglaubliche Zahl. Noch vor einigen Jahren konnte ein Chemiker im Labor pro Tag manuell zwei, drei Synthesen durchführen. Mit der neuen Robotergeneration werden minimale Substanzmengen an Targets und Wirkstoffen vollautomatisch zur Reaktion gebracht (Hochdurchsatz-Screening).

Die experimentelle Chemie steht vermutlich vor einer der größten Veränderungen ihrer Geschichte. Da es der derzeitige Stand der Wissenschaft nicht erlaubt, für die gewünschten Eigenschaften einer Substanz die notwendige chemische Struktur vorherzusagen, sind unendliche Versuchsreihen erforderlich, um ein eventuell wirksames Präparat zu finden. Hier eröffnet die "kombinatorische Chemie" neue Wege. So wie die Natur durch Kombination von nur zwanzig verschiedenen Aminosäuren die unbegrenzte Vielfalt der Proteine aufbaut, ermöglichen moderne Methoden der Mikrotechnik mit Hilfe von Pipettierrobotern die rasche Herstellung einer Fülle von neu entdeckten Substanzen. Da es kein synthetisches Arzneimittel ohne mehr oder weniger schädliche Nebenwirkungen gibt, geht die Tendenz dahin, neue Pharmaka zu entwickeln, die bei größtmöglicher Heilwirkung kleinstmögliche Nebenwirkungen (Vergiftungserscheinungen) hervorrufen. Sicher ist, daß ein Weniger an Medikation einer höheren Lebenserwartung dienlicher ist als ein Mehr.

Noch verdient der Bayer-Konzern mit dem klassischen Chemiegeschäft mehr als mit der "Gesundheit", denn Forschung und Entwicklung sind in der Pharmabranche extrem teuer. Um erfolgreich zu sein, muß ein Unternehmen mindestens drei bis vier neue Produkte im Jahr auf den Markt bringen.

Unter Druck stehen die Leverkusener auch wegen der Fusion zwischen den US-Firmen Pfizer und Warner-Lambert zum zweitgrößten Pharmakonzern der Welt. Wenn Bayer seine Stellung auf dem Weltmarkt behaupten will, wird wohl eine Fusionierung – im Gespräch ist "American Home Products" – unausweichlich sein.

 

Prof. Dr. Rüdiger Ruhnau arbeitet bei der Forschungsstelle Umwelt und Chemie-Industrie FUCI


 
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