© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/01 20. April 2001

 
In jeder Minute eine Straftat
Berlin: Kriminalitätsstatistik belegt Rückgang der Delikte / Ausländer beherrschen Drogenhandel / Barbara John zeigt Spuren von Einsicht
Ronald Gläser

Nachts mit der Berliner U-Bahn zu fahren, gehört zu den weniger angenehmen Hauptstadterfahrungen. Im Untergrund der Metropole, die an ihrem Image als New-Economy-Hochburg und kulturellem Mittelpunkt feilt, spielen sich zuweilen grausame Szenen ab. Hier dokumentiert sich der Gegensatz zwischen der Champagner- und Lachshäppchen-Gesellschaft der neuen Mitte und den Ghettoeinwohnern aus Berlins Problembezirken. Jede Minute ereignet sich eine polizeilich registrierte Straftat.

In der ersten Aprilwoche wiesen zwei BVG-Mitarbeiter einen U-Bahn-Fahrgast zurecht, der seine Füße auf die Sitzbank gestreckt hatte. Der Libanese wollte sich in der Entfaltung seiner Persönlichkeit allerdings nicht durch deutsche Ordnungshüter beeinträchtigen lassen und zückte sogleich das Messer. Die beiden Fahrgastbegleiter bezahlten ihre Pflichterfüllung mit schweren Verletzungen.

Spektakuläre Fälle wie die Ermordung der kleinen Ulrike an Berlins Stadtrand oder die gewalttätigen 1.-Mai-Demos lassen Berlin als Kriminalitätshochburg erscheinen. Nach Hamburg liegt Berlin mit seiner Kriminalitätsrate bundesweit an zweiter Stelle. Trotzdem deuten die offiziellen Statistiken einen Rückgang der Straftaten an. Seit 1996 sind diese um über sechs Prozent zurückgegangen, so der jüngste Bericht des Innensenators. Der Rückgang um 15.500 registrierte Straftaten auf 557.000 im Jahre 2000 allein entspricht einer Quote von 2,7 Prozent. Und die Aufklärungsrate liegt so hoch wie seit dreißig Jahren nicht mehr: Jeder zweite Fall werde aufgeklärt, berichtete Innensenator Eckart Werthebach (CDU).

Besonders erfreulich ist der deutliche Rückgang von Mord (15 Prozent weniger) und Vergewaltigung (18 Prozent weniger). Einbrüche sind um ein Fünftel geschrumpft. Dagegen sind Computerkriminalität und Rauschgiftdelikte recht deutlich gestiegen. Jede dritte Straftat, insbesondere Gewalttaten, wird von einem Ausländer begangen. Ein Blick in die Fahndungsliste der Berliner Polizei bestätigt diesen Trend. Bis zu 100.000 Fremde sollen sich illegal in der Stadt aufhalten, wenn man entsprechenden Schätzungen Glauben schenken kann.

Doch das alles sind nur die offiziellen Zahlen, deren Beweiskraft schon vor Bekanntgabe in Frage gestellt worden ist. Durch einen Computerfehler waren zunächst 18.000 Straftaten "verloren" gegangen, die nachträglich wieder hinzugefügt werden mußten.

Auch die Polizei befürchtet, daß hier Zahlen geschönt werden. Der Chef der Polizeigewerkschaft, Eberhard Schönberg, bezeichnete die Zahlen schlicht als "irreführend". Die Zahl der erfaßten Straftaten repräsentiere nur rund ein Zehntel der Delikte, die sich wirklich ereigneten. Die Situation der täglichen Polizeiarbeit wird von Gewerkschaftern als dramatisch beschrieben. Trotz einiger medienwirksam mit Laptop und Hochtechnologie-Ausrüstung versorgten Abteilungen verfügen die meisten Dienststellen kaum über ausreichende Computertechnik. Der Fuhrpark ist so veraltet, daß 2000 ein Drittel der Observationsmaßnahmen ausfallen mußte. Und die Übergriffe auf Ordnungshüter mehren sich, so daß diese privat Schutzwesten anschaffen, die der Stadt zu teuer sind.

Trotzdem sind der Kriminalpolizei einige Schläge gegen die Organisierte Kriminalität gelungen. Zahlreiche ausländische Drogenhändler konnten dingfest gemacht werden. Im Juni wurde eine Libanesen-Bande zerschlagen. Anfang April konnte eine Albaner-Gang ausgehoben werden. Ansonsten mischen Kurden in dieser Branche, die die High-Society vor allem mit Kokain versorgt, kräftig mit.

Der Innensenator warnte anläßlich der Vorstellung seines Berichts vor der "Entstehung von Parallelgesellschaften". In verschiedenen Bezirken werde der deutsche Rechtsstaat nicht länger als solcher akzeptiert. Dem schloß sich unlängst sogar Berlins Ausländerbeauftragte Barbara John, lange Jahre als "Türken-Bärbel" verspottet, an. Sie zeigte erste Spuren von Einsicht und forderte die hier lebenden Ausländer zur Einordnung in unsere Gemeinschaft auf. Jahrelang hatte sie uns Deutschen mehr Verständnis für die undankbaren Gäste abverlangt.

Wenig überraschend sind auch die offiziellen Zahlen bezüglich der politisch motivierten Verbrechen. Linksextreme Straftaten sind in der Stadt dreimal so häufig wie rechtsextreme. Es muß hierbei zusätzlich bedacht werden, daß es sich bei den "rechtsextremen" Straftaten meist um sogenannte Propagandadelikte (Auschwitzlüge, Volksverhetzung, Zeigen verfassungsfeindlicher Symbole) handelt, für die es auf der linken Seite kein Pendant gibt. Und die Steigerung dieser Delikte ist wohl eher auf die Kampagne gegen Rechts und das daraus resultierende Denunziantentum zurückzuführen, wie auch Werthebach indirekt einräumte.

Trotzdem setzt er sich vor dem Hintergrund der friedlichen NPD-Demos für eine Änderung des Versammlungsrechts und ein Verbot der Partei ein. Die Hinnahme solcher Kundgebungen würde als Schwächung des Rechtsstaats ausgelegt, so der ehemalige Staatssekretär im Bundesinnenministerium weiter.

Ganz anders wird die Vorgehensweise des Rechtsstaats in Hinblick auf die offensichtliche linke Gewalt vorbereitet. Den anstehenden Demonstrationen zum 1. Mai wird auch in diesem Jahr nach der Devise "nichts sehen, nichts hören" begegnet. Am Ende dieses Tages werden in Kreuzberg Sachschäden und schwerwiegende Körperverletzungen gezählt werden. Jedermann weiß das.

Trotzdem will die Polizei ihre Strategie der "Deeskalation" fortsetzen. Unter dem Motto "AHA" (Aufmerksamkeit, Hilfe, Appell) soll durch "offensive Öffentlichkeitsarbeit positiv auf die Geschehnisse Einfluß" genommen und "Verständnis für die Polizeiarbeit" erzeugt werden. So mancher U-Bahn-Kontrolleur wird sich angesichts dessen wohl demnächst fragen, warum er sein Leben riskieren soll, um einen Fahrgast zurecht zu weisen.


 
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