© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/01 20. April 2001

 
Arbeit auf Kommando
Die Diffamierung von Erwerbslosen schafft keine Vollbeschäftigung
Bernd-Thomas Ramb

Vor nicht ganz sechs Monaten visionierten die Wirtschaftsforschungsinstitute noch ein Wachstum von 2,7 Prozent. Nun reduzieren sie ihre Prognose radikal um fast ein Viertel auf 2,1 und sehen gleichzeitig einen traumwandlerisch präzisen Rückgang der Arbeitslosigkeit auf tausend Stellen genau: Von 3,889 Millionen im letzten auf 3,695 in diesem und 3,470 im nächsten Jahr. Formell, wenn auch auf Discountpreisniveau, wird damit die Mutmaßung des Bundeskanzlers bestätigt, die Zahl der Arbeitslosen würde zum Ende seiner Amtszeit auf unter 3,5 Millionen sinken. Eine Punktlandung, sofern sich die Vorhersagekraft der vormals irrenden Institute revolutionär regenerieren konnte. Der wirtschaftssachverständige Sozialdemokrat Schmidt pflegte – als Bundeskanzler weder auf Gefälligkeiten angewiesen noch solche erwarten könnend – Gutachten ungelesen in den Papierkorb zu werfen, der jetzige Kanzler dürfte eher geneigt sein, die regierungskonformen Weissagungen goldgerahmt hinter den Schreibtisch zu hängen.

Dabei decken sich die Vorschläge der Forschungsinstitute zum Abbau der Arbeitslosigkeit kaum mit den Vorstellungen Schröders, der sich eher über die Aussonderung der Faulenzer einen Rückgang der offiziell gemeldeten Arbeitslosenzahlen verspricht. Diese Vorstufe zur "Ab-ins-Arbeitslager"-Mentalität erinnert fatal an die "erfolgreiche" Beschäftigungspolitik unseliger, gleichfalls sozialistisch geprägter Regierungen. Dagegen beharren die Wirtschaftswissenschaftler wenigstens noch auf die Parallele zwischen mehr oder weniger überzogenen Tarifabschlüssen und der entsprechenden Ausweitung der Arbeitslosigkeit. Indes vermögen sie sich nicht den konsequenten Forderungen des DIHT-Präsidenten Braun anzuschließen, für eine Weile auf jegliche Lohnerhöhungen zu verzichten. Moderate Lohnerhöhung heißt bei ihnen bittschön deutlich über null Prozent, damit keine Kaufkraftverluste entsteht.

Dieser Griff in die Mottenkiste einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik wie vor dreißig Jahren wird unterstützt durch die Forderung, es beim Abbau der Neuverschuldung des Staates nicht so genau zu nehmen und angesichts der mauen Konjunktur mit sinkenden Steuereinnahmen mindestens beim bereits geplanten Ausgabenvolumen zu bleiben. Dabei dürfte nach klassischem ökonomischen Verständnis ein Stillstand an der Lohnfront in Zeiten einer vor sich hindümpelnden Wirtschaft gerade einmal ausreichen, das bestehende Beschäftigungsniveau aufrecht zu erhalten.

Das auch aus Oppositionskreisen mit Beifall bedachte Lamento über die angeblich faulen Arbeitslosen signalisiert die allseitig blanke Hilflosigkeit im Umgang mit dem Dauerproblem Arbeitslosigkeit. Dabei sind die Ursachen altbekannt.

Die scheinbar undurchsetzbare Lohnzurückhaltung zählt jedoch nur als einer der Stolpersteine auf dem Weg zur Vollbeschäftigung. Zudem ist sie weder generell wirksam noch global sinnvoll und einsichtig. Marktgerechte Entlohnung heißt das allgemeine Lösungsmittel der Tariffrage. Dazu bedarf es jedoch unter anderem der Aufhebung des Flächentarifs und der grundsätzlichen Freigabe der Vereinbarung von individuellen Lohnabschlüssen. Flexibilisierung der Tarifgestaltung lautet die entsprechende Forderung der Arbeitnehmerseite, die zunehmend auch die Zustimmung breiter Kreise nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer findet.

Zur wirkungsvollen Senkung der Arbeitslosenzahlen gehört ferner eine schonungslose Klarstellung, wer eigentlich als Arbeitsloser zu bezeichnen ist. Die Ausgliederung der Nichtarbeitwilligen bildet dabei nur eine Facette, die unter dem bestehenden Instrumentarium der Arbeitslosenverwaltung bereits weitgehend geschliffen ist. So leicht kann sich kein als arbeitslos gemeldeter Bezieher von Staatsversicherungsgeldern auf längere Frist einer zumutbaren Beschäftigung entziehen. Wenn schon, sind Fragezeichen bei der Höhe der Bezüge für nicht geleistete Arbeit zu setzen. Fragwürdiges besteht aber auch auf der anderen Seite, so bei den oftmals wiederholt widersinnig angesetzten "Umschulungen" oder penetrant fortgesetzten "beschäftigungsfördernden" Maßnahmen. Sie bedeuten zwar für die Betroffenen angenehm hohes Einkommen und vor allem – wenigstens der Theorie nach – eine Erhöhung des Selbstwertgefühls. Der ökonomischen Effizienz wird jedoch wesentlich seltener Rechnung getragen. Würden beide Gruppen noch zu den amtlich ausgewiesenen Arbeitslosen hinzugezählt, würde sich deren Zahl um 25 Prozent erhöhen. Die Einwände der Gewerkschaften gegen einer Unterschätzung der tatsächlichen Arbeitslosigkeit treffen somit ins Schwarze.

Zudem bleiben in der amtlichen Betrachtung und praktischen Politik die sogenannten "stillen Reserven" weitgehend außer acht. Dazu zählen nicht nur die Ehepartner, die vielfach kaum freiwillig auf eine Anmeldung beim Arbeitsamt verzichten. Gleiches gilt für angeblich zu alte Arbeitnehmer, als unvermittelbar eingestufte Frührentner und mit marginalen Einkommen zufriedene Scheinselbständige. Vor allem aber wird das Thema Jugendarbeitslosigkeit verharmlost. Dazu zählen im volkswirtschaftlichen Sinne nicht nur die unbeschäftigten Schulabgänger, sondern auch unter perspektivischer Beurteilung viele der Schüler, die eine ihrem Bildungspotential unangemessene Schulausbildung erhalten. So müssen zahlreiche Hauptschüler, insbesondere diejenigen mit unzureichenden Kenntnissen der deutschen Sprache, schon jetzt dem Potential der unvermittelbaren Arbeitslosen ohne Berufsausbildung zugeordnet werden.

Potentielle Arbeitslosigkeit besteht aber auch am oberen Ende des Bildungsbereichs. Die inflationäre Ausweitung der Schulabgänger mit Hochschulreife und die desolate Ausbildungssituation an den Hochschulen bewirken nicht nur eine Horrorzahl an Studienabbrechern, sondern auch zunehmende Studierunwilligkeit. Die nicht individuell optimierte Ausbildung stellt das Hauptübel der modernen Arbeitslosigkeit dar. Solange gesellschaftlich nur goutiert wird, daß jeder eine möglichst hochtrabende Ausbildung erhält und die individuelle Qualifikation weitgehend unbeachtet bleibt, wird sich das Potential der Arbeitslosigkeit ständig neu auffüllen.

Zu einem Ausbrechen aus diesem Teufelskreis bedarf es fundamentaler Veränderungen. Strukturelles Denken ist bei den zunehmend konjunkturell operierenden Politikern jedoch kaum noch vorzufinden. "Für konjunkturellen Pessimismus besteht kein Anlaß", meint Finanzminister Eichel anläßlich des Frühjahrsgutachtens. Mag sein, aber wie steht es mit dem strukturellen Pessimismus?


 
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